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Er schwieg, und Goldmund fragte nicht weiter. Er brauchte ja auch nicht zu erfahren, daß gestern abend, als Narziß beim Grafen um Goldmunds Leben bat, dies Leben mit einigen Konzessionen an den harten Grafen hatte bezahlt werden müssen.

Sie ritten; Goldmund fühlte sich bald müde und hielt sich mit Mühe im Sattel.

Nach einer langen Weile fragte Narziß: »Ist es denn wahr, daß du wegen Diebstahls festgenommen warst? Der Graf behauptete, du hättest dich ins Schloß und in die inneren Gemächer geschlichen und hättest dort gestohlen.«

Goldmund lachte. »Nun, es hatte wirklich den Anschein, als sei ich ein Dieb. Ich hatte aber mit des Grafen Geliebten eine Zusammenkunft; ohne Zweifel hat er das auch gewußt. Es wundert mich sehr, daß er mich doch laufen ließ.«

»Nun, er ließ mit sich reden.«

Sie konnten die geplante Tagesstrecke nicht bewältigen, Goldmund war zu sehr erschöpft, seine Hände konnten die Zügel nicht mehr halten. Sie nahmen in einem Dorf Quartier; er wurde zu Bett gebracht und fieberte ein wenig und blieb auch noch den nächsten Tag dort liegen. Dann aber konnte er weiterreiten. Und als in Bälde seine Hände wieder gesund waren, begann er das Reisen zu Pferde sehr zu genießen. Wie lange war er nicht mehr geritten! Er lebte auf, er wurde jung und lebhaft, er ritt manche Strecke mit dem Reitknecht um die Wette und bestürmte in Stunden der Mitteilsamkeit seinen Freund Narziß mit hundert ungeduldigen Fragen. Gelassen und doch freudig ging Narziß darauf ein; er war wieder von Goldmund bezaubert, er liebte seine so heftigen, so kindlichen Fragen, die so voll unbegrenzten Vertrauens, zu des Freundes Geist und Klugheit waren.

»Eine Frage, Narziß: habt ihr auch einmal Juden verbrannt?«

»Juden verbrannt? Wie sollten wir? Es gibt ja bei uns keine Juden.«

»Richtig. Aber sage: wärest du imstande, Juden zu verbrennen? Kannst du dir den Fall als möglich denken?«

»Nein, warum sollte ich es tun? Hältst du mich für einen Fanatiker?«

»Versteh mich, Narziß! Ich meine: kannst du dir denken, daß du in irgendeinem Fall den Befehl zum Umbringen von Juden geben würdest oder doch deine Einwilligung dazu? Es haben ja so viele Herzöge, Bürgermeister, Bischöfe und andere Obrigkeiten solche Befehle gegeben.«

»Ich würde einen Befehl dieser Art nicht geben. Dagegen ist der Fall wohl denkbar, daß ich eine solche Grausamkeit mit ansehen und dulden müßte.«

»Du würdest es also dulden?«

»Gewiß, wenn mir nicht die Macht gegeben wäre, es zu verhindern. – Du hast wohl einmal eine Judenverbrennung gesehen, Goldmund?«

»Ach ja.«

»Nun, und hast du sie verhindert? – Nein? – Siehst du.«

Goldmund erzählte ausführlich die Geschichte Rebekkas, er wurde dabei warm und leidenschaftlich.

»Und nun«, schloß er heftig, »was ist das für eine Welt, in der wir da leben müssen? Ist es nicht eine Hölle? Ist es nicht empörend und scheußlich?«

»Gewiß. Die Welt ist nicht anders.«

»So!« rief Goldmund böse. »Und wie oft hast du mir früher behauptet, die Welt sei göttlich, sie sei eine große Harmonie von Kreisen, in deren Mitte der Schöpfer thront, und das Existierende sei gut, und so weiter. Du sagtest, es stehe im Aristoteles, oder beim heiligen Thomas. Ich bin begierig, deine Erklärung des Widerspruchs zu hören.«

Narziß lachte.

»Dein Gedächtnis ist erstaunlich, und doch hat es dich ein wenig getäuscht. Ich habe den Schöpfer stets als vollkommen verehrt, aber niemals die Schöpfung. Ich habe das Übel in der Welt nie geleugnet. Daß das Leben auf Erden harmonisch und gerecht und daß der Mensch gut sei, dies, mein Lieber, hat noch nie ein echter Denker behauptet. Daß vielmehr das Dichten und Trachten des Menschenherzens übel sei, steht ausdrücklich in der Heiligen Schrift, und wir sehen es jeden Tag bestätigt.«

»Sehr gut. Ich sehe nun endlich, wie ihr Gelehrte das meint. Also der Mensch ist böse, und das Leben auf Erden ist voll Gemeinheit und Schweinerei, das gebet ihr zu. Aber dahinter irgendwo, in euren Gedanken und Lehrbüchern, gibt es Gerechtigkeit und Vollkommenheit. Sie sind vorhanden, man kann sie beweisen, nur aber macht man keinen Gebrauch davon.«

»Du hast viel Groll gegen uns Theologen angesammelt, lieber Freund! Aber du bist noch immer kein Denker geworden, du wirfst alles durcheinander. Du wirst einiges hinzulernen müssen. Aber warum denn sagst du, wir machten von der Idee der Gerechtigkeit keinen Gebrauch? Jeden Tag und jede Stunde tun wir es. Ich zum Beispiel bin Abt und habe ein Kloster zu leiten, und in diesem Kloster geht es ebensowenig vollkommen und sündlos zu wie in der Welt draußen. Dennoch setzen wir der Erbsünde beständig und immer wieder die Idee der Gerechtigkeit entgegen und suchen unser unvollkommenes Leben an ihr zu messen und suchen das Böse zu korrigieren und unser Leben in beständige Beziehung zu Gott zu setzen.«

»Ach ja, Narziß. Ich meine ja nicht dich und daß du etwa kein guter Abt seiest. Aber ich denke an Rebekka, an die verbrannten Juden, an die Massengräber, an das große Sterben, an die Gassen und Stuben, in denen die Pestleichen lagen und stanken, an diese ganze grauenhafte Wüstenei, an die verwahrlosten, allein zurückgebliebenen Kinder, an die in ihren Ketten verhungerten Hofhunde – und wenn ich an das alles denke und diese Bilder vor mir sehe, dann tut das Herz mir weh, und es will mir scheinen, unsere Mütter hätten uns in eine hoffnungslos grausame und teuflische Welt hinein geboren, und es wäre besser, sie hätten es nicht getan und Gott hätte diese schreckliche Welt nicht erschaffen und der Heiland hätte sich nicht unnütz für sie ans Kreuz schlagen lassen.«

Freundlich nickte Narziß dem Freunde zu.

»Du hast ganz recht«, sagte er warm, »sprich es nur aus, sage mir alles. Aber in einem täuschest du dich sehr: du hältst das, was du da sprichst, für Gedanken. Es sind aber Gefühle! Es sind die Gefühle eines Menschen, dem das Grauen des Daseins zu schaffen macht. Nun vergiß aber nicht, daß diesen traurigen und verzweifelten Gefühlen ganz andere gegenüberstehen! Wenn du dich auf deinem Roß wohlfühlst und durch eine schöne Gegend reitest oder wenn du, leichtsinnig genug, dich am Abend ins Schloß einschleichst, um der Geliebten des Grafen den Hof zu machen, dann sieht die Welt für dich ganz anders aus, und alle Pesthäuser und alle verbrannten Juden können dich durchaus nicht hindern, deine Lust zu suchen. Ist es nicht so?«

»Gewiß, es ist so. Weil die Welt so voll von Tod und Grauen ist, darum suche ich immer wieder mein Herz zu trösten und die schönen Blumen zu pflücken, die es inmitten dieser Hölle gibt. Ich finde Lust, und ich vergesse für eine Stunde das Grauen. Darum ist es nicht minder da.«

»Du hast es sehr gut formuliert. Also du findest dich in der Welt von Tod und Grauen umgeben, und daraus entfliehst du in die Lust. Aber die Lust ist ohne Dauer, sie entläßt dich wieder in die Wüste.«

»Ja, so ist es.«

»Es geht den meisten Menschen so, nur empfinden es wenige mit solcher Stärke und Heftigkeit wie du, und wenige haben das Bedürfnis, dieser Empfindungen bewußt zu werden. Aber sage doch: außer diesem verzweifelten Hin und Her zwischen Lust und Grauen, außer dieser Schaukel zwischen Lebenslust und Todesgefühl – hast du nicht außerdem noch irgendeinen Weg probiert?«

»O ja, natürlich. Ich habe es mit der Kunst probiert. Ich sagte dir ja schon, daß ich unter anderem auch Künstler geworden bin. Eines Tages, ich war vielleicht drei Jahre in der Welt draußen und beinahe die ganze Zeit auf Wanderschaft gewesen, fand ich in einer Klosterkirche eine hölzerne Mutter Gottes stehen, die war so schön, und ihr Anblick ergriff mich so sehr, daß ich nach dem Meister fragte und suchte, der sie gemacht hatte. Ich fand ihn, es war ein berühmter Meister; ich wurde sein Schüler und habe einige Jahre bei ihm gearbeitet.«

»Du wirst mir davon später noch mehr erzählen. Aber was war es denn, was die Kunst dir gebracht und bedeutet hat?«

»Es war die Überwindung der Vergänglichkeit. Ich sah, daß aus dem Narrenspiel und Totentanz des Menschenlebens etwas übrigblieb und überdauerte: die Kunstwerke. Auch sie vergehen ja wohl irgendeinmal, sie verbrennen oder verderben oder werden wieder zerschlagen. Aber immerhin überdauern sie manches Menschenleben und bilden jenseits des Augenblicks ein stilles Reich der Bilder und Heiligtümer. Daran mitzuarbeiten scheint mir gut und tröstlich, denn es ist beinahe ein Verewigen des Vergänglichen.«

»Das gefällt mir sehr, Goldmund. Ich hoffe, du werdest noch viele schöne Werke machen, mein Vertrauen auf deine Kraft ist groß, und ich hoffe, du werdest in Mariabronn lange Zeit mein Gast sein und mir erlauben, dir eine Werkstatt einzurichten; unser Kloster hat seit langem keinen Künstler mehr gehabt. Aber ich glaube, du hast das Wunderbare der Kunst mit deiner Definition noch nicht erschöpft. Ich glaube, die Kunst besteht nicht bloß dann, daß durch Stein, Holz und Farben etwas Vorhandenes, aber Sterbliches dem Tod entrissen und zu längerer Dauer gebracht wird. Ich habe manches Kunstwerk gesehen, manchen Heiligen und manche Madonna, von denen ich nicht glaube, daß sie bloß treue Abbilder irgendeines einzelnen Menschen sind, der einmal gelebt hat und dessen Formen oder Farben der Künstler aufbewahrt hat.«

»Da hast du recht«, rief Goldmund eifrig, »ich hätte gar nicht geglaubt, daß du über die Kunst so gut Bescheid wüßtest! Das Urbild eines guten Kunstwerks ist nicht eine wirkliche, lebende Gestalt, obwohl sie der Anlaß dazu sein kann. Das Urbild ist nicht Fleisch und Blut, es ist geistig. Es ist ein Bild, das in der Seele des Künstlers seine Heimat hat. Auch in mir, Narziß, sind solche Bilder lebendig, die ich einmal darzustellen und dir zu zeigen hoffe.«

»Wie schön! Und jetzt, mein Lieber, hast du dich, ohne es zu wissen, mitten in die Philosophie begeben und hast eines ihrer Geheimnisse ausgesprochen.«

»Du machst dich über mich lustig.«

»O nein. Du hast von den ‚Urbildern’ gesprochen, von Bildern also, die nirgends vorhanden sind als im schöpferischen Geist, die aber in der Materie verwirklicht und sichtbar gemacht werden können. Lang ehe eine Kunstgestalt sichtbar wird und Wirklichkeit gewinnt, ist sie schon vorhanden, als Bild in der Seele des Künstlers! Dieses Bild nun, dies ‚Urbild’ ist aufs Haar genau das, was die alten Philosophen eine ‚Idee’ nennen.«

»Ja, das klingt ganz glaubhaft.«

»Nun, und indem du dich zu Ideen bekennst und zu Urbildern, begibst du dich in die geistige Welt, in unsere Philosophen- und Theologenwelt, und gibst zu, daß mitten in dem verwirrten und schmerzlichen Schlachtfeld des Lebens, mitten in diesem endlosen und sinnlosen Totentanz des leiblichen Daseins der schöpferische Geist vorhanden ist. Schau, an diesen Geist in dir habe ich mich stets gewendet, seit du als Knabe zu mir kamst. Dieser Geist ist bei dir nicht der eines Denkers, er ist der eines Künstlers. Aber er ist Geist, und er ist es, der dir den Weg zeigen wird aus dem trüben Wirrwarr der Sinnenwelt, aus dem ewigen Schaukeln zwischen Lust und Verzweiflung. Ach Lieber, ich bin glücklich, dies Bekenntnis von dir gehört zu haben. Ich habe darauf gewartet – seit damals, seit du deinen Lehrer Narziß verlassen hast und den Mut fandest, du selbst zu sein. Jetzt können wir aufs neue Freunde sein.«

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