Mit dem brennenden Span in der Hand stöberte Goldmund weiter und fand im selben Raum, auf der Schwelle zu einer hinteren Stube, noch eine Leiche hegen, einen Knaben von vielleicht acht oder neun Jahren, mit verschwollenem, entstelltem Gesicht, im bloßen Hemde. Er lag mit dem Bauch auf der Balkenschwelle, mit beiden Händen machte er feste grimmige Fäustchen. Das ist der zweite, dachte Goldmund; wie in einem häßlichen Traum ging er weiter, in die Hinterstube, dort standen die Läden offen, und der Tag schien hell herein. Vorsichtig löschte er seine Leuchte aus und zertrat die Funken auf dem Boden.
In der Hinterstube standen drei Bettladen. Eine war leer, unterm derben grauen Leilach sah das Stroh heraus. Im zweiten lag wieder einer, ein bärtiger Mann, starr auf dem Rücken mit zurückgelegtem Kopf und emporstehendem Kinn und Bart; es mußte der Bauer sein. Sein eingesunkenes Gesicht schimmerte fahl in unvertrauten Todesfarben, ein Arm hing bis zum Boden herab, dort lag umgeworfen und ausgelaufen ein irdener Wasserkrug, das zerronnene Wasser war vom Boden noch nicht ganz verschluckt, es war gegen eine Mulde gelaufen, in der stand noch eine kleine Lache. Im zweiten Bett aber lag, in Leintuch und Kotzen ganz eingegraben und verwickelt, eine starke große Frau, ihr Gesicht war ins Bett eingedrückt, derbes strohblondes Haar schimmerte im hellen Licht. Bei ihr und mit ihr verschlungen lag, wie im zerwühlten Leintuch gefangen und erdrosselt, ein halbwüchsiges Mädchen, strohblond auch sie, graublaue Flecken im Totengesicht.
Von einem Toten zum andern ging Goldmunds Blick. In dem Mädchengesicht, obwohl es schon sehr entstellt war, stand noch etwas von hilflosem Todesgrauen. Im Nacken und Haar der Mutter, die sich so tief und wild ins Lager eingewühlt hatte, war Wut, Angst und leidenschaftliches Fliehenwollen zu lesen. Namentlich das unbändige Haar konnte sich gar nicht ins Sterben ergeben. Im Antlitz des Bauern war Trotz und verbissener Schmerz; er war, so schien es, schwer, aber mannhaft gestorben, sein bärtiges Gesicht ragte steil und starr in die Luft wie das eines auf der Walstatt hingestreckten Kriegers. Diese still und trotzig gereckte, ein wenig verbissene Haltung war schön; es war wohl kein geringer und feiger Mensch gewesen, der den Tod so empfing. Rührend aber war der kleine Leichnam des Knaben, der bäuchlings über der Schwelle lag; sein Gesicht sagte nichts, aber seine Lage über der Schwelle samt den festgeballten Kinderfäusten verkündete viel: ratloses Leid, hilfloses Sichwehren gegen unerhörte Schmerzen. Dicht neben seinem Kopf war in die Tür ein Katzenloch gesägt. Aufmerksam betrachtete Goldmund alles. Es sah ohne Zweifel in dieser Hütte ziemlich scheußlich aus, und der Leichengeruch war wüst; dennoch hatte für Goldmund das alles eine tiefe Anziehungskraft, es war alles voll Größe und Schicksal, so wahr, so unverlogen, irgend etwas daran gewann seine Liebe und drang ihm in die Seele.
Mittlerweile fing draußen Robert an zu rufen, ungeduldig und ängstlich. Goldmund hatte Robert gern, dennoch dachte er in diesem Augenblick, wie sehr doch eigentlich ein lebender Mensch in seiner Angst, seiner Neugierde, seiner ganzen Kinderei kleinlich und gering sei im Vergleich mit den Toten. Er gab Robert keine Antwort; er gab sich ganz dem Anblick der Toten hin, mit jener sonderbaren Mischung von herzlichem Mitfühlen und kalter Beobachtung, wie die Künstler sie haben. Er sah sich die liegenden Gestalten und auch die sitzende genau an, die Köpfe, die Hände, die Bewegung, in der sie erstarrt waren. Wie still war es in dieser verzauberten Hütte! Wie roch es sonderbar und schrecklich! Wie war diese kleine Menschenheimat, in der noch ein Rest von Herdfeuer glomm, gespenstisch und traurig, von Leichen bewohnt, ganz von Tod erfüllt und durchzogen! Bald würde diesen stillen Gestalten das Fleisch von den Wangen fallen, und die Ratten würden ihre Finger fressen. Was andere Menschen im Sarge und im Grab, in gutem Versteck und unsichtbar vollzogen, das Letzte und Armseligste, das Zerfallen und Verwesen, das vollzogen diese fünf hier zu Hause in ihren Stuben, bei Tageslicht, bei unverschlossener Türe, unbekümmert, schamlos, schutzlos. Goldmund hatte schon manchen Toten gesehen, aber solch einem Bilde von der unerbittlichen Arbeit des Todes war er noch nie begegnet. Tief nahm er es in sich auf.
Endlich störte ihn Roberts Schreien vor der Haustür, er ging hinaus. Ängstlich sah der Kamerad ihn an.
»Was ist?« fragte er leise, die Stimme voll Furcht. »Ist denn niemand im Haus? Oh, und was machst du für Augen. Sprich doch!«
Goldmund maß ihn mit kühlem Blick. »Geh hinein und sieh dir's an, es ist ein komisches Bauernhaus. Nachher melken wir die schöne Kuh drüben. Vorwärts!«
Unentschlossen betrat Robert die Hütte, steuerte auf die Herdstatt los, entdeckte die sitzende Alte und stieß, als er merkte, sie sei tot, einen lauten Schrei aus. Eilig kam er zurück, mit aufgerissenen Augen.
»Um Gottes willen! Da sitzt ein totes Weib am Herd. Was ist das? Warum ist niemand bei ihr? Warum begräbt man sie nicht? O Gott, es riecht ja schon.«
Goldmund lächelte.
»Du bist ein großer Held, Robert; aber du bist gar zu rasch wieder umgekehrt. Eine tote alte Frau ist ja, wenn sie so im Stuhl sitzt, ein merkwürdiger Anblick; aber du kannst, wenn du ein paar Schritte weitergehst, noch viel Merkwürdigeres sehen. Es sind fünf, Robert. In den Betten liegen drei, und ein toter Bub liegt mitten auf der Schwelle. Alle sind tot. Die ganze Familie liegt und ist tot, das Haus ist ausgestorben. Darum hat auch niemand die Kuh gemolken.«
Entsetzt starrte der andere ihn an, dann rief er plötzlich mit erstickter Stimme: »Oh, jetzt versteh ich auch die Bauern, die uns gestern nicht in ihr Dorf haben einlassen wollen. O Gott, jetzt wird mir alles klar. Es ist die Pest! Es ist bei meiner armen Seele die Pest, Goldmund! Und du bist so lange da drinnen gewesen, und womöglich hast du die Toten angerührt! Weg, du, komm mir nicht näher, du bist sicher vergiftet. Es tut mir leid, Goldmund, aber ich muß fort, ich kann nicht bei dir bleiben.«
Er wollte schon laufen, wurde aber am Pilgerrock festgehalten. Goldmund sah ihn streng mit stummem Tadel an und hielt ihn, der sich sträubte und stemmte, unerbittlich fest. »Mein kleiner Junge«, sagte er mit freundlich-spöttischem Ton, »du bist klüger, als man meinen sollte, du wirst wahrscheinlich recht haben. Nun, das werden wir im nächsten Hof oder Dorf erfahren. Wahrscheinlich ist die Pest in dieser Gegend. Wir werden sehen, ob wir wohlbehalten wieder davonkommen. Aber laufen lassen, kleiner Robert, kann ich dich nicht. Schau, ich bin ein barmherziger Mensch, mein Herz ist viel zu weich, und wenn ich denke, du könntest dich nun da drinnen angesteckt haben, und ich ließe dich fortlaufen, und du legtest dich da irgendwo im Feld zum Sterben hin, so ganz allein, und kein Mensch würde dir die Augen zutun und keiner dir ein Grab machen und etwas Erde auf dich werfen – nein, lieber Freund, da würgt mich der Jammer. Also paß auf und merke dir sehr gut, was ich sage, ich sage es nicht zweimal: wir zwei sind in der gleichen Gefahr, es kann dich oder mich treffen. Wir bleiben also beisammen, und wir werden beide miteinander entweder umkommen oder dieser verfluchten Pest entrinnen. Wenn du krank wirst und stirbst, so wirst du von mir begraben, das soll gelten. Und wenn ich es bin, der sterben muß, dann tu wie du magst, begrabe mich oder drücke dich davon, mir ist es einerlei. Vorher aber, Teurer, wird nicht ausgekniffen, merke dir das! Wir werden einer den andern nötig haben. Und jetzt halte das Maul, ich will nichts hören, und suche irgendwo im Stall einen Eimer, daß wir endlich die Kuh melken können.«
So geschah es, und vom Augenblick an war es Goldmund, der befahl, und Robert, der gehorchte, und es ging beiden gut dabei. Robert machte keinen Versuch mehr zu entfliehen. Er sagte nur begütigend: »Ich hatte einen Augenblick Angst vor dir. Dein Gesicht gefiel mir nicht, als du aus dem Totenhaus zurückkamst. Ich glaubte, du hättest dir die Pest geholt. Aber wenn es auch nicht die Pest ist, dein Gesicht ist anders geworden. War es so schlimm, was du dort drinnen gesehen hast?«
»Es war nicht schlimm«, sagte Goldmund zögernd. »Ich habe dort drinnen nichts gesehen als das, was mir und dir und allen bevorsteht, auch wenn wir nicht die Pest bekommen.«
Im Weiterwandern stießen sie bald überall auf den Schwarzen Tod, der im Land regierte. Manche Dörfer ließen keinen Fremden ein, in anderen konnten sie ungehindert durch alle Gassen gehen. Viele Höfe standen verlassen, viele unbeerdigte Tote verwesten auf dem Felde oder in den Stuben. In den Ställen brüllten ungemolken oder hungernd die Kühe, oder das Vieh lief wild im Felde. Sie molken und fütterten manche Kuh und Ziege, sie schlachteten und brieten am Waldrand manches Zicklein und Ferkel und tranken Wein und Most aus manchem herrenlos gewordenen Keller. Sie hatten ein gutes Leben, es herrschte Überfluß. Aber er schmeckte ihnen nur halb. Robert lebte in immerwährender Angst vor der Seuche, und beim Anblick der Leichen wurde ihm übel, oft war er ganz verstört von Furcht; immer wieder glaubte er sich angesteckt, hielt Kopf und Hände lang in den Rauch ihrer Lagerfeuer (das galt für heilsam), tastete sogar im Schlaf an sich herum, ob nicht an den Beinen, an den Armen, unter den Achseln die Beulen kämen.
Goldmund schalt ihn oft, oft spottete er ihn aus. Er teilte seine Furcht nicht, und auch nicht seinen Ekel; er ging gespannt und düster durch das Todesland, furchtbar angezogen vom Anblick des großen Sterbens, die Seele voll vom großen Herbst, das Herz schwer vom Lied der mähenden Sense. Manchmal erschien ihm das Bild der ewigen Mutter wieder, ein bleiches Riesengesicht mit Medusenaugen, mit einem schweren Lächeln voll Leid und Tod.
Sie kamen einst zu einer kleinen Stadt; sie war schwer befestigt, vom Tor lief ein Wehrgang in Haushöhe um die ganze Stadtmauer, aber kein Wächter stand oben und keiner im offenstehenden Tor. Robert weigerte sich, die Stadt zu betreten, und beschwor auch seinen Kameraden, es nicht zu tun. Indem hörten sie eine Glocke läuten, es kam zum Tor ein Priester heraus, ein Kreuz in den Händen, und hinter ihm kamen drei Lastwagen gefahren, zwei mit Pferden bespannt und einer mit einem Paar Ochsen, und die Wagen waren bis oben angefüllt mit Leichen. Ein paar Knechte in sonderbaren Mänteln, die Gesichter tief in Kapuzen verborgen, liefen nebenher und trieben die Tiere an.
Robert verlor sich mit bleichem Gesicht, Goldmund folgte den Totenwagen in kleiner Entfernung, es ging ein paar hundert Schritte weit, und da war kein Friedhof, sondern mitten in der leeren Heide war ein Loch gegraben, nur drei Spatenstiche tief, aber groß wie ein Saal. Goldmund stand und sah zu, wie die Knechte mit Stangen und Bootshaken die Toten von den Wagen rissen und sie zu Haufen in das große Loch stießen, wie der Priester murmelnd sein Kreuz darüber schwang und davonging, wie die Knechte auf allen Seiten des flachen Grabes große Feuer anzündeten und schweigend in die Stadt zurückliefen, ohne daß jemand darangegangen wäre, die Grube zuzuwerfen. Er schaute hinab, es mochten fünfzig oder mehr da drinnen liegen, übereinandergeschmissen, viele nackt. Starr und klagend ragte hier und dort ein Arm oder ein Bein in die Luft, ein Hemde flatterte schwach im Wind.