Als er zurückkam, flehte Robert ihn beinah auf Knien an, sie möchten doch eiligst weiterziehen. Er hatte wohl Grund zu seinem Flehen, er sah in Goldmunds abwesendem Blick diese ihm nun schon allzu bekannte Versunkenheit und Starre, dies Hingewendetsein zum Schrecklichen, diese furchtbare Neugierde. Es gelang ihm nicht, seinen Freund zurückzuhalten. Allein ging Goldmund in die Stadt. Er ging durchs unbewachte Tor, und indem er seinen Schritt vom Pflaster widerhallen hörte, standen in seinem Gedächtnis viele Städtchen und viele Tore auf, durch welche er so gewandert war, und er erinnerte sich, wie da Kindergeschrei, Knabenspiel, Weibergezänk, Schmiedegehämmer auf schönklingendem Amboß, Wagengerassel und viele andere Klänge ihn empfangen hatten, feine und derbe Geräusche, deren Durcheinander wie zu einem Netz geflochten das Vielerlei menschlicher Arbeit, Freude, Verrichtung und Geselligkeit verkündet hatte. Hier nun, in diesem hohlen Tor und dieser leeren Gasse, klang nichts, lachte nichts, schrie nichts, alles lag erstarrt in Todesschweigen, worin die plaudernde Melodie eines laufenden Brunnens allzu laut und beinah lärmend klang. Hinter einem offenen Fenster war ein Bäcker inmitten seiner Laibe und Wecken zu sehen; Goldmund deutete auf einen Wecken, und der Bäcker reichte ihn vorsichtig auf langer Backschaufel heraus, wartete darauf, daß Goldmund ihm Geld auf die Schaufel lege, und schloß sein Fensterchen böse, aber ohne Gezeter, als der Fremde in den Wecken biß und weiterging, ohne zu zahlen. Vor den Fenstern eines hübschen Hauses stand eine Reihe von tönernen Töpfen, in denen hatten sonst Blumen geblüht, jetzt hingen verdorrte Blätter über die leeren Scherben herab. Aus einem anderen Hause drang Schluchzen und Jammergeschrei von Kinderstimmen. Aber in der nächsten Gasse sah Goldmund oben hinter einem Fenster ein hübsches Mädchen stehen und die Haare kämmen; er schaute ihr zu, bis sie seinen Blick fühlte und herabblickte, errötend sah sie ihn an, und als er ihr freundlich zulächelte, lief langsam und schwach auch über ihr errötetes Gesicht ein Lächeln.
»Bald fertiggekämmt?« rief er hinauf. Lächelnd beugte sie das lichte Gesicht aus der Fensterhöhle.
»Noch nicht krank?« fragte er, und sie schüttelte den Kopf. »Dann komm mit mir aus dieser Totenstadt hinaus, wir wollen in den Wald gehen und ein gutes Leben haben.«
Sie machte fragende Augen.
»Besinn dich nicht lange, es ist mir Ernst«, rief Goldmund. »Bist du bei Vater und Mutter, oder bei fremden Leuten im Dienst? – Bei Fremden also. Dann komm, liebes Kind; laß die alten Leute sterben, wir sind jung und gesund und wollen es noch eine Weile gut haben. Komm, Braunhärchen, es ist mein Ernst.«
Prüfend sah sie ihn an, zögernd, erstaunt. Er ging langsam weiter, schlenderte durch eine Gasse ohne Menschen und durch eine zweite, und kehrte langsam zurück. Da stand das Mädchen noch immer am Fenster, vorgebeugt, und freute sich, daß er wiederkam. Sie winkte ihm zu, langsam ging er weiter, bald kam sie nach, noch vor dem Tore holte sie ihn ein, ein kleines Bündel in der Hand, ein rotes Tuch um den Kopf.
»Wie heißt du denn?« fragte er sie.
»Lene. Ich komme mit dir. Oh, es ist so schlimm hier in der Stadt, alle sterben. Nur fort, nur fort!«
In der Nähe des Tores kauerte Robert mißgelaunt am Boden. Er sprang auf, als Goldmund kam, und riß die Augen auf, als er das Mädchen sah. Diesmal ergab er sich nicht sogleich, er lamentierte und machte Szenen. Daß einer da aus dem verfluchten Pestloch eine Person mit herausbringe und daß man ihm zumuten wolle, ihre Gesellschaft zu dulden, das sei mehr als verrückt, es sei Gott versucht, und er weigere sich, er gehe nicht mehr mit, seine Geduld sei jetzt zu Ende.
Goldmund ließ ihn fluchen und klagen, bis er stiller wurde. »So«, sagte er, »du hast uns nun lang genug angesungen. Du wirst jetzt mit uns gehen und wirst dich freuen, daß wir eine so hübsche Gesellschaft haben. Sie heißt Lene, und sie bleibt bei mir. Aber nun will ich dir auch eine Freude machen, Robert, höre: wir wollen jetzt eine Weile in Ruhe und Gesundheit leben und der Pestilenz aus dem Wege gehen. Wir suchen uns einen hübschen Ort mit einer leeren Hütte, oder bauen selber eine, da will ich mit Lene Hausherr und Hausfrau sein, und du bist unser Freund und lebst mit uns. Wir wollen es jetzt ein bißchen hübsch und freundlich haben. Einverstanden?«
O ja, Robert war sehr einverstanden. Wenn man nicht von ihm verlange, daß er der Lene die Hand gebe oder ihre Kleider berühre – – –
»Nein«, sagte Goldmund, »das wird nicht verlangt. Es wird dir sogar aufs strengste verboten, die Lene mit einem Finger anzurühren. Laß dir das nicht einfallen!«
Sie marschierten zu dreien weiter, schweigend zuerst, dann allmählich fing das Mädchen zu sprechen an, wie froh sie sei, wieder Himmel und Bäume und Wiesen zu sehen, es sei so grausig gewesen da drinnen in der Peststadt, nicht zu sagen. Und sie fing an zu erzählen und ihr Gemüt von den traurigen und scheußlichen Bildern zu entladen, die sie hatte sehen müssen. Manche Geschichten erzählte sie, üble Geschichten, die kleine Stadt mußte eine Hölle sein. Von den beiden Ärzten sei einer gestorben, der andere gehe bloß zu den Reichen, und in vielen Häusern lägen die Toten und verfaulten, weil niemand sie holte, in anderen Häusern aber hätten die Totenknechte gestohlen, geludert und gehurt, und oft hätten sie mit den Leichen auch die noch lebenden Kranken aus den Betten gezerrt und auf ihre Schinderkarren geworfen und sie mit den Toten zusammen in die Gruben geschmissen. Vielerlei Schlimmes hatte sie zu erzählen; niemand unterbrach sie, Robert hörte entsetzt und lüstern zu, und Goldmund blieb still und gleichmütig, er ließ das Grausige sich entleeren und sagte nichts dazu. Was sollte man da auch sagen? Schließlich wurde Lene müde, und der Strom versiegte, die Worte gingen ihr aus. Da begann Goldmund langsamer zu gehen und fing ganz leise zu singen an, ein Lied mit vielen Strophen, und mit jeder Strophe wurde seine Stimme voller; Lene fing zu lächeln an, und Robert hörte beglückt und tief verwundert zu – nie hatte er Goldmund bisher singen hören. Alles konnte er, dieser Goldmund. Da ging er nun und sang, der wunderliche Mensch! Er sang kunstvoll und rein, aber mit gedämpfter Stimme. Und Lene summte schon beim zweiten Lied leise mit und fiel bald mit voller Stimme ein. Es ging gegen Abend, fern hinter der Heide standen schwarze Wälder und hinter ihnen blaue niedere Berge, die wie von innen her immer blauer wurden. Bald fröhlich, bald feierlich klang im Takt der Schritte ihr Gesang.
»Du bist heut so vergnügt«, sagte Robert.
»Ja, ich bin vergnügt, natürlich bin ich heute vergnügt, ich habe ja eine so hübsche Liebste gefunden. Ach Lene, es ist schon gut, daß dich die Totenknechte für mich übriggelassen haben. Morgen werden wir ein kleines Heimatchen finden, da wollen wir es gut haben und froh sein, daß wir Fleisch und Knochen noch hübsch beisammen haben. Lene, hast du schon einmal im Herbst in einem Walde den dicken Pilz gesehen, den die Schnecken so gern mögen und den man essen kann?«
»O ja«, lachte sie, »viele Male hab ich ihn gesehen.«
»Gerade so braun wie er ist dein Haar, Lene. Es riecht auch so gut. Wollen wir noch eins singen? Oder hast du etwa Hunger? In meinem Ranzen ist noch etwas Gutes.«
Am andern Tag fanden sie, was sie gesucht hatten. In einem kleinen Birkengehölz stand eine Hütte aus rohen Stämmen, vielleicht von Holzfällern oder von Jägern einmal gebaut. Sie stand leer, die Tür ließ sich aufbrechen, und auch Robert fand, daß es eine gute Hütte und eine gesunde Gegend sei. Unterwegs waren sie Ziegen begegnet, die ohne Hirt sich herumtrieben, und hatten eine schöne Geiß mit sich genommen.
»Nun, Robert«, sagte Goldmund, »wenn du auch kein Zimmermann bist, so warst du doch einmal ein Schreiner. Wir wollen hier wohnen, du mußt eine Zwischenwand in unser Schloß bauen, daß wir zwei Stuben haben, eine für Lene und mich, eine für dich und die Geiß. Zu essen haben wir nicht mehr viel, wir müssen heut mit der Geißmilch zufrieden sein, ob es viel oder wenig sei. Du mußt also die Wand bauen, und wir beide rüsten das Nachtlager für uns alle. Morgen geh ich dann nach Futter aus.«
Alle gingen sogleich an die Arbeit. Goldmund und Lene gingen nach Streu, nach Farnkraut, nach Moos für Schlaflager, und Robert zog sein Messer auf einem Feldkiesel ab, um Stämmchen für die Wand zu schneiden. Doch konnte er damit nicht an einem Tage fertig werden und ging am Abend im Freien schlafen. Goldmund fand an Lene eine süße Gespielin, scheu und unerfahren, aber voll Liebe. Sanft nahm er sie an seine Brust und wachte lange und hörte ihr Herz schlagen, als sie längst ermüdet und gesättigt eingeschlafen war. Er roch an ihrem braunen Haar und schmiegte sich an sie und dachte zugleich an jene große flache Grube, in welche die vermummten Teufel all die Wagen voll Leichen geworfen hatten. Schön war das Leben, schön und flüchtig war das Glück, schön und rasch verwelkt die Jugend.
Sehr hübsch wurde die Zwischenwand der Hütte, schließlich arbeiteten sie alle drei daran. Robert wollte zeigen, was er könne, und sprach eifrig darüber, was er alles bauen wollte, wenn er nur eine Hobelbank und Werkzeug und Winkeleisen und Nägel hätte. Da er nichts hatte als sein Messer und seine Hände, begnügte er sich damit, ein Dutzend Birkenstämmchen zu schneiden und aus ihnen einen festen derben Zaun in den Hüttenboden zu bauen. Die Zwischenräume aber, so verfügte er, mußten mit Flechtwerk aus Ginster zugebaut werden. Das brauchte Zeit, aber es wurde fröhlich und schön, alle halfen mit. Zwischenein mußte Lene auf die Beerensuche gehen und nach der Ziege sehen, und Goldmund suchte in kleinen Streifzügen die Gegend ab, fahndete nach Nahrung, erkundete die Nachbarschaft und brachte dies und jenes mit. Weit und breit waren keine Menschen in der Nähe, damit war namentlich Robert sehr einverstanden, man war sicher vor Ansteckung sowohl wie vor Feindseligkeiten; aber es hatte den Nachteil, daß sich sehr wenig zu essen fand. Es gab eine verlassene Bauernhütte in der Nähe, diesmal ohne Tote darin, so daß Goldmund vorschlug, sie zum Quartier zu wählen statt ihrer Blockhütte, aber Robert weigerte sich schaudernd und sah es ungern, daß Goldmund das leere Haus betrat, und jedes Stück, das jener von dort herüberbrachte, mußte erst geräuchert und gewaschen werden, eh Robert es anfaßte. Viel war es nicht, was Goldmund drüben fand, doch aber zwei Stabellen, einen Milcheimer, einige Stück irdenes Geschirr, ein Beil, und eines Tages fing er zwei verflogene Hühner im Felde. Lene war verliebt und glücklich, und allen dreien machte es Spaß, an ihrer kleinen Heimat zu bauen und sie jeden Tag ein bißchen hübscher zu machen. An Brot fehlte es, dafür stellten sie noch eine Ziege ein, und ein Äckerchen mit Rüben wurde auch gefunden. Tag um Tag verging, die geflochtene Wand war fertig, die Lagerstätten wurden verbessert und ein Herd gebaut. Der Bach war nicht weit, das Wasser war hell und süß. Oft wurde zur Arbeit gesungen. Eines Tages, als sie gemeinsam ihre Milch tranken und ihr häusliches Leben rühmten, sagte Lene plötzlich, mit träumerischem Ton: »Wie wird es aber, wenn dann der Winter kommt?«