Gern wäre er davongelaufen. Wandern, wandern, marschieren, Luft atmen, müde werden, neue Bilder sehen, das hätte ihm wohlgetan, das würde vielleicht seine tiefe Bedrücktheit lindern. Aber er konnte nicht, es war ihm unmöglich, das Kind hier allein liegen und sterben zu lassen. Kaum traute er sich, alle paar Stunden für eine Weile hinauszugehen, um frische Luft zu atmen. Da Lene keine Milch mehr annahm, trank er sich selbst daran satt, sonst war nichts zu essen da. Auch die Ziege führte er einige Male hinaus, daß sie fresse, Wasser trinke und sich bewege. Dann stand er wieder an Lenes Lager, murmelte ihr zärtlich zu, blickte unentwegt in ihr Gesicht und sah trostlos, aber aufmerksam ihrem Sterben zu. Sie war bei Bewußtsein, zuweilen schlief sie, und wenn sie erwachte, öffnete sie die Augen nur noch halb, die Lider waren müd und erschlafft. Hier um die Augen und die Nase herum sah das junge Mädchen von Stunde zu Stunde älter aus, auf dem frischen jungen Hals saß ein schnell welkendes Großmuttergesicht. Sie sprach nur selten ein Wort, sagte »Goldmund« oder »Liebster« und suchte die geschwollenen bläulichen Lippen mit der Zunge zu befeuchten. Dann gab er ihr ein paar Tropfen Wasser. In der folgenden Nacht starb sie. Sie starb, ohne zu klagen, es war nur ein kurzes Zucken, dann stand der Atem still, und es lief ein Hauch über die Haut, bei dem Anblick wogte ihm das Herz, und es fielen ihm die sterbenden Fische ein, die er oft auf dem Fischmarkt gesehen und bedauert hatte: gerade so waren sie erloschen, mit einem Zuck und mit einem leisen wehen Schauder, der über ihre Haut lief und den Glanz und das Leben mitnahm. Er kniete noch eine Weile neben Lene, dann ging er ins Freie und setzte sich m die Heidekrautbüsche. Die Ziege fiel ihm ein, er ging nochmals hinein und holte das Tier heraus, das sich nach kurzem Herumsuchen zu Boden legte. Er legte sich neben sie, den Kopf auf ihrer Flanke, und schlief, bis es hell wurde. Nun ging er zum letztenmal in die Hütte und hinter die geflochtene Wand, sah zum letztenmal das arme Totengesicht. Es widerstrebte ihm, die Tote da liegenzulassen. Er ging und suchte Arme voll Dürrholz und welkes Gestrüpp zusammen, das warf er in die Hütte, schlug Feuer und zündete an. Aus der Hütte nahm er nichts mit sich als das Feuerzeug. Hellauf brannte im Augenblick die dürre Ginsterwand. Draußen blieb er stehen und schaute zu, das Gesicht vom Feuer geröstet, bis auch das ganze Dach in Flammen stand und die ersten Dachbalken stürzten. Ängstlich und klagend sprang die Ziege. Es wäre richtig gewesen, das Tier zu töten und ein Stück von ihm zu rösten und zu essen, um Kraft für die Wanderschaft zu haben. Aber es war ihm nicht möglich; er trieb die Geiß in die Heide und ging davon. Bis in den Wald hinein folgte ihm der Rauch von der Brandstelle. Nie hatte er eine Wanderung so trostlos angetreten.
Und dennoch war das, was ihn nun erwartete, noch schlimmer, als er gedacht hätte. Bei den ersten Höfen und Dörfern begann es und dauerte an und wurde ärger, je weiter er kam. Die ganze Gegend, das ganze weite Land stand unter einer Wolke von Tod, unter einem Schleier von Grauen, Angst und Seelenverfinsterung, und das Schlimmste waren nicht die ausgestorbenen Häuser, die an der Kette verhungerten und verwesenden Hofhunde, die unbegraben liegenden Toten, die bettelnden Kinder, die Massengräber vor den Städten. Das Schlimmste waren die Lebenden, die unter der Last von Schrecken und Todesangst ihre Augen und ihre Seelen verloren zu haben schienen. Wunderliche und grausige Dinge bekam der Wanderer überall zu hören und zu sehen. Eltern hatten die Kinder und Gatten ihre Frauen verlassen, wenn sie krank geworden waren. Die Pestknechte und Spitalbüttel herrschten wie Henker, sie raubten in den leergestorbenen Häusern, ließen nach ihrer Willkür bald die Leichen unbeerdigt, bald rissen sie die Sterbenden, noch eh sie ausgeatmet hatten, aus den Betten und auf die Leichenkarren. Geängstete Flüchtlinge irrten einsam umher, verwildert, jede Berührung mit Menschen meidend, von Todesfurcht gejagt. Andere taten sich in aufgepeitschter, erschreckter Lebenslust zusammen, hielten Zechgelage und feierten Tanz- und Liebesfeste, bei denen der Tod die Fiedel strich. Verwahrlost, trauernd oder lästernd, mit irren Augen hockten andere vor den Friedhöfen oder vor ihren entvölkerten Häusern. Und, schlimmer als alles: jeder suchte für das unerträgliche Elend einen Sündenbock, jeder behauptete die Verruchten zu kennen, die an der Seuche schuld und ihre böswilligen Urheber seien. Teuflische Menschen, hieß es, sorgten schadenfroh für die Verbreitung des Sterbens, indem sie aus den Pestleichen das Seuchengift holten und an die Mauern und Türklinken strichen, Brunnen und Vieh damit vergifteten. Wer in den Verdacht dieser Greuel kam, war verloren, wenn er nicht gewarnt wurde und fliehen konnte; er wurde entweder von der Justiz oder vom Pöbel mit dem Tod bestraft. Außerdem gaben die Reichen den Armen die Schuld und umgekehrt, oder es sollten die Juden sein, oder die Welschen, oder die Ärzte. In einer Stadt sah Goldmund mit grimmigem Herzen zu, wie die ganze Judengasse brannte, Haus an Haus, rundum stand das johlende Volk, und die schreienden Flüchtlinge wurden mit Waffengewalt ins Feuer zurückgejagt. Im Irrsinn der Angst und Erbitterung wurden überall Unschuldige totgeschlagen, verbrannt, gefoltert. Mit Wut und Ekel sah Goldmund zu, die Welt schien zerstört und vergiftet, es schien keine Freude, keine Unschuld, keine Liebe mehr auf Erden zu geben. Oft floh er zu den heftigen Festen der Lebenslustigen, überall klang die Fiedel des Todes, er lernte ihren Klang bald kennen, oft nahm er teil an den verzweifelten Gelagen, oft spielte er dabei die Laute oder tanzte beim Pechfackelschein durch fiebernde Nächte mit.
Furcht fühlte er nicht. Einst hatte er die Todesangst gekostet, in jener Winternacht unter den Tannen, als Viktors Finger um seine Kehle gedrückt lagen, und auch im Schnee und Hunger manches harten Wandertages. Das war ein Tod gewesen, mit dem man kämpfen, gegen den man sich zur Wehr setzen konnte, und er hatte sich gewehrt, mit zitternden Händen und Füßen, mit klaffendem Magen, mit erschöpften Gliedern, hatte sich gewehrt, hatte gesiegt und war entkommen. Mit diesem Pesttod aber war nicht zu kämpfen, man mußte ihn toben lassen und sich ergeben, und Goldmund hatte sich längst ergeben. Er hatte keine Furcht, es schien, als sei ihm nichts mehr am Leben gelegen, seit er Lene in der brennenden Hütte zurückgelassen hatte, seit er Tag um Tag durch das vom Tod verheerte Land zog. Aber eine ungeheure Neugierde trieb ihn und hielt ihn wach; er war unermüdlich, dem Schnitter zuzusehen, das Lied der Vergänglichkeit zu hören, nirgends wich er aus, überall ergriff ihn dieselbe stille Leidenschaft, dabei zu sein und mit wachen Augen den Gang durch die Hölle zu tun. Er aß verschimmeltes Brot in ausgestorbenen Häusern, er sang und zechte Wein bei den wahnsinnigen Gelagen, pflückte die schnell welkende Blume der Lust, sah in die starren trunkenen Augen der Weiber, sah in die starren blöden Augen der Betrunkenen, sah in die erlöschenden Augen der Sterbenden, liebte die verzweifelten fiebernden Frauen, half Tote hinaustragen für einen Teller Suppe, half für zwei Groschen Erde über nackte Leichen schütten. Es war dunkel und wild in der Welt geworden, heulend sang der Tod sein Lied, Goldmund hörte es mit offenen Ohren, mit brennender Leidenschaft.
Sein Ziel war die Stadt des Meisters Nikiaus, dorthin zog ihn die Stimme in seinem Herzen. Lang war der Weg, und er war voll Tod, voll Welke und Sterben. Traurig zog er hin, berauscht vom Todeslied, hingegeben an das laut schreiende Leid der Welt, traurig und dennoch glühend, mit weit offenen Sinnen.
In einem Kloster sah er ein neugemaltes Wandbild, das mußte er lange betrachten. Es war da der Totentanz an eine Mauer gemalt, da tanzte der bleiche knöcherne Tod die Menschen aus dem Leben, den König, den Bischof, den Abt, den Grafen, den Ritter, den Arzt, den Bauer, den Landsknecht, alle nahm er mit, und beinerne Musikanten spielten auf hohlen Knochen dazu auf. Tief sogen Goldmunds neugierige Augen das Bild in sich ein. Da hatte ein unbekannter Kollege die Lehre aus dem gezogen, was er vom Schwarzen Tod gesehen hatte, und schrie die bittere Predigt vom Sterbenmüssen den Menschen gell in die Ohren. Es war gut, das Bild, es war eine gute Predigt, nicht schlecht hatte dieser fremde Kollege die Sache gesehen und hingestrichen, es klang beinern und schaurig aus seinem wilden Bilde. Aber doch war es nicht das, was er selbst, Goldmund, gesehen und erlebt hatte. Es war das Sterbenmüssen, das hier gemalt war, das strenge und unerbittliche. Goldmund aber hätte sich ein anderes Bild gewünscht, ganz anders klang in ihm das wilde Lied des Todes, nicht beinern und streng, sondern eher süß und verführend, heimwärtslockend, mütterlich. Da, wo der Tod seine Hand ins Leben streckte, klang es nicht nur so grell und kriegerisch, es klang auch tief und liebevoll, herbstlich und satt, und in der Todesnähe glühte das Lebenslämpchen heller und inniger. Mochte der Tod für andere ein Krieger, ein Richter oder Henker, ein strenger Vater sein – für ihn war der Tod auch eine Mutter und Geliebte, sein Ruf ein Liebeslocken, seine Berührung ein Liebesschauer. Als Goldmund den gemalten Totentanz betrachtet hatte und weiterging, zog es ihn mit erneuter Macht zum Meister und zum Schaffen. Aber überall gab es Aufenthalte, neue Bilder und Erlebnisse, mit bebenden Nüstern atmete er die Todesluft, überall verlangte Mitleid oder Neugierde eine Stunde, einen Tag von ihm. Drei Tage lang hatte er einen kleinen greinenden Bauernknaben bei sich, trug ihn stundenlang auf seinem Rücken, einen halbverhungerten Wicht von fünf oder sechs Jahren, der ihm viel Mühe machte und den er nur schwer wieder loswerden konnte. Endlich nahm ihm eine Köhlerfrau den Buben ab, ihr Mann war gestorben, sie wollte wieder etwas Lebendiges um sich haben. Tagelang begleitete ihn ein herrenloser Hund, fraß ihm aus der Hand, wärmte ihn beim Schlafen, eines Morgens aber hatte er sich wieder verloren. Es tat ihm leid, er hatte sich daran gewöhnt, mit dem Hunde zu sprechen; halbe Stunden lang richtete er grüblerische Reden an das Tier, über die Schlechtigkeit der Menschen, über die Existenz Gottes, über die Kunst, über die Brüste und Hüften einer jungen Ritterstochter namens Julie, die er einst in seiner Jugend gekannt hatte. Denn natürlich war Goldmund auf seiner Todeswanderung ein klein wenig verrückt geworden, alle Menschen im Pestgebiet waren ein wenig verrückt, und viele waren es ganz und gar. Ein klein wenig verrückt war vielleicht auch die junge Jüdin Rebekka, das schöne schwarze Mädchen mit den brennenden Augen, mit dem er sich zwei Tage versäumte.
Er fand sie vor einer kleinen Stadt im Felde, bei einem schwarz verkohlten Trümmerhaufen hockte sie und heulte, schlug sich ins Gesicht und riß an ihren schwarzen Haaren. Die Haare erbarmten ihn, sie waren so schön, und er fing ihre wütenden Hände und hielt sie fest und redete dem Mädchen zu und nahm dabei wahr, daß auch ihr Gesicht und Wuchs von großer Schönheit war. Sie klagte um ihren Vater, der war samt vierzehn anderen Juden auf Befehl der Obrigkeit zu Asche verbrannt worden, sie aber hatte fliehen können, war nun aber verzweifelt zurückgekehrt und klagte sich an, daß sie sich nicht habe mitverbrennen lassen. Geduldig hielt er ihre zuckenden Hände fest und sprach sanft auf sie ein, brummte mitleidig und beschützend, bot ihr Hilfe an. Sie verlangte, daß er ihr helfe, ihren Vater zu begraben, und sie sammelten aus der noch heißen Asche alle Knochen heraus, trugen sie feldeinwärts ins Verborgene und bedeckten sie mit Erde. Es war darüber Abend geworden, und Goldmund suchte einen Schlafplatz, in einem Eichenwäldchen richtete er dem Mädchen ein Lager, versprach ihr, zu wachen, und hörte zu, wie sie im Liegen weiterweinte und schluckte und endlich einschlief. Dann schlief auch er ein wenig, und am Morgen begann er seine Werbung. Er sagte ihr, daß sie so allein nicht bleiben könne, man würde sie als Jüdin erkennen und totschlagen, oder wüste Landfahrer würden sie mißbrauchen, und im Wald seien Wölfe und Zigeuner. Er aber, er nehme sie mit sich und schütze sie gegen Wolf und Mensch, denn sie tue ihm leid, und er sei ihr sehr gut, denn er habe Augen im Kopf und wisse, was Schönheit sei, und nie werde er dulden, daß diese süßen klugen Augenlider und diese holden Schultern von Tieren gefressen würden oder auf den Scheiterhaufen kämen. Finster hörte sie ihn an, sprang auf und lief davon. Er mußte sie jagen und fangen, eh er fortfahren konnte.