Литмир - Электронная Библиотека

Andern Tages zogen sie weiter, zum erstenmal kostete Goldmund das Wandern zu zweien. Drei Tage waren sie miteinander unterwegs, und Goldmund fand dies und jenes von Viktor zu lernen. Die zum Instinkt gewordene Gewohnheit, alles auf die drei großen Bedürfnisse des Heimatlosen zu beziehen: die Sicherung gegen Lebensgefahr, das Finden eines Nachtlagers und das Beschaffen von Nahrung, hatte den seit so vielen Jahren sich Herumtreibenden vieles gelehrt. Aus unscheinbarsten Anzeichen die Nähe menschlicher Wohnungen zu erkennen, auch im Winter, auch in der Nacht, oder jeden Winkel in Wald und Feld haarscharf auf seine Eignung zum Rastort oder Schlafplatz zu prüfen, oder beim Betreten einer Stube im Augenblick den Grad von Wohlstand oder Elend zu wittern, in dem der Besitzer lebte, sowie den Grad seiner Gutherzigkeit, oder seiner Neugierde, oder seiner Furcht – das waren Künste, in welchen Viktor es zur Meisterschaft gebracht hatte. Manches Lehrreiche erzählte er dem jungen Kameraden. Als Goldmund ihm einmal entgegnete, er möge sich den Menschen nicht mit so absichtsvoller Überlegung nähern, und es sei ihm, obwohl er alle diese Künste nicht kenne, auf seine freundliche Bitte hin nur sehr wenige Male das Gastrecht verweigert worden, da lachte der lange Viktor und sagte gutmütig: »Nun ja, Goldmundchen, dir mag es schon glücken, du bist so jung und hübsch und siehst so unschuldig aus, das ist ein guter Quartierzettel. Den Weibern gefällst du, und die Männer denken: ach Gott, der ist harmlos, der tut niemand was zuleid. Aber schau, Brüderchen, der Mensch wird älter, und das Kindergesicht kriegt einen Bart und kriegt Falten, und die Hosen kriegen Löcher, und unversehens ist man ein häßlicher und unwillkommener Gast, und statt der Jugend und Unschuld schaut einem bloß noch der Hunger aus den Augen; dann muß einer hart geworden sein und etwas von der Welt gelernt haben, sonst liegt er bald auf dem Mist, und die Hunde schiffen ihn an. Aber mir scheint, du wirst ohnehin nicht lang so herumtraben, du hast zu feine Hände, du hast zu hübsche Locken, du wirst dich schon wieder dahin verkriechen, wo es sich besser leben läßt, in ein hübsches warmes Ehebett, oder in ein hübsches fettes Klösterchen, oder in eine schön geheizte Schreibstube. Du hast auch so nette Kleider an, man könnte dich für einen Junker ansehen.«

Er fuhr, immer lachend, mit der Hand über Goldmunds Kleidung, und dieser spürte, wie die Hand an allen Taschen und Nahten suchte und tastete; er entzog sich und dachte an seinen Dukaten. Er erzählte von seinem Aufenthalt beim Ritter und wie er durch lateinische Schreibereien das schöne Kleid verdient habe. Aber Viktor wollte wissen, warum er denn mitten im rauhen Winter ein so warmes Nest wieder verlassen habe, und Goldmund, des Lügens ungewohnt, erzählte ihm ein wenig von den zwei Ritterstöchtern. Da kam es zum ersten Streit zwischen den Kameraden. Viktor fand, Goldmund sei ein Esel ohnegleichen, daß er da einfach davonlaufe und die Burg und die Jungfern darin dem lieben Gott überlasse. Das müsse gutgemacht werden, er werde schon sehen. Sie würden die Burg aufsuchen, und natürlich dürfe man Goldmund dort nicht sehen, aber da solle er ihn nur sorgen lassen. Er müsse ein Briefchen an Lydia schreiben, so und so, und damit werde er, Viktor, die Burg aufsuchen und werde, bei des Heilands Wunden, nicht aus ihr zurückkommen, ohne dies und jenes an Geld und Gut mit herauszubringen. Und so weiter. Goldmund wehrte ab und wurde endlich heftig; er weigerte sich, noch ein Wort in dieser Sache anzuhören oder den Namen des Ritters und den Weg zu ihm zu verraten.

Viktor, als er ihn so erzürnt sah, lachte wieder und spielte den Gutmütigen. »Na«, sagte er, »beiß dir nur keine Zähne aus! Ich sage dir bloß: einen guten Fang lassest du uns da entgehen, mein Junge, und eigentlich ist das nicht sehr nett und kollegial von dir. Aber du willst also nicht, du bist ein edler Herr, zu Pferde wirst du in deine Burg zurückkehren und das Fräulein heiraten! Junge, wie hast du den Kopf voll edler Dummheiten! Na, meinetwegen, wir ziehen also weiter und frieren uns die Zehen ab.«

Goldmund blieb verstimmt und schweigsam bis zum Abend, aber da sie an diesem Tag keine Wohnstatt und keine Menschenspuren antrafen, ließ er es dankbar geschehen, daß Viktor eine Stelle zum Nachtlager aussuchte, daß er zwischen zwei Stämmen am Waldrand einen Rückenschutz baute und ein Lager aus reichlichen Tannenzweigen aufschüttete. Sie aßen Brot und Käse aus Viktors vollen Taschen, Goldmund schämte sich seines Zorns und zeigte sich artig und hilfreich, er bot dem Kameraden seine Wolljacke für die Nacht an, sie wurden einig, abwechselnd Wache zu halten, des Getiers wegen, und Goldmund übernahm die erste Wache, während der andere sich auf die Tannenzweige legte. Lange Zeit stand Goldmund an einen Fichtenstamm gelehnt und hielt sich ruhig, um den andern nicht am Einschlafen zu hindern. Dann fing er an auf und ab zu gehen, da ihn fror. In immer weiterem Abstand lief er hin und her, sah die Tannenwipfel spitz in den bleichen Himmel stechen, empfand die tiefe Stille der Winternacht feierlich und etwas angstvoll, fühlte sein warmes lebendiges Herz einsam in der kalten antwortlosen Stille schlagen und hörte, leise zurückkehrend, dem Atmen seines schlafenden Kameraden zu. Ihn durchdrang stärker als jemals das Gefühl des Heimatlosen, der keine Haus- oder Schloß- oder Klostermauern zwischen sich und der großen Angst gebaut hat, der bloß und allein durch die unbegreifliche, feindliche Welt läuft, allein zwischen den kühlen spöttischen Sternen, zwischen den lauernden Tieren, zwischen den geduldigen standhaften Bäumen.

Nein, dachte er, er würde niemals so werden wie Viktor, und wenn er auch sein Leben lang weiterwanderte. Diese Art, sich gegen das Grauen zu wehren, würde er nicht lernen können, nicht dies schlaue diebische Sichdurchpirschen und auch nicht diese laute, dreiste Art von Narrentum, diesen wortreichen Galgenhumor des Bramarbas. Vielleicht hatte dieser kluge dreiste Mann recht, vielleicht würde Goldmund nie ganz seinesgleichen werden, nie ganz ein Vagant, und eines Tages in irgendwelche Mauern zurückkriechen. Heimatlos und ziellos aber würde er dennoch bleiben, nie würde er sich wirklich geschützt und sicher fühlen, immer würde die Welt rätselhaft schön und rätselhaft unheimlich ihn umgeben, immer wieder würde er dieser Stille lauschen müssen, in deren Mitte das schlagende Herz so bang und vergänglich war. Wenige Sterne waren zu sehen, es war windstill, in der Höhe aber schien das Gewölk bewegt.

Nach einer langen Zeit wurde Viktor wach – er hatte ihn nicht wecken mögen – und rief ihn an.

»Komm«, rief er, »du mußt nun schlafen, sonst bist du morgen nichts wert.«

Goldmund gehorchte, er legte sich aufs Lager und schloß die Augen. Müde war er genug, doch schlief er nicht, Gedanken hielten ihn wach, und außer den Gedanken ein Gefühl, das er sich selbst nicht eingestand, ein Gefühl von Bangigkeit und Mißtrauen, das sich auf seinen Kameraden bezog. Unbegreiflich war ihm jetzt, daß er diesem derben, laut lachenden Menschen, diesem Witzbold und frechen Bettler von Lydia hatte erzählen können! Er war böse auf ihn und auf sich selber, und sorgenvoll sann er über die beste Art und Gelegenheit nach, sich wieder von ihm zu trennen. Er mußte aber doch in einen halben Schlaf gesunken sein, denn er erschrak und war überrascht, als er Viktors Hände an sich spürte, wie sie seine Kleider vorsichtig abtasteten. In der einen Tasche hatte er sein Messer, in der andern den Dukaten; beides würde Viktor unfehlbar stehlen, wenn er es fände. Er stellte sich schlafend, drehte sich wie schlaftrunken hin und her, rührte die Arme, und Viktor zog sich zurück. Goldmund war sehr böse auf ihn, er beschloß, sich morgen von ihm zu trennen.

Als aber, nach einer Stunde vielleicht, Viktor sich von neuem über ihn beugte und mit dem Absuchen begann, wurde Goldmund kalt vor Wut. Ohne sich zu rühren, tat er die Augen auf und sagte verächtlich: »Geh jetzt, es gibt hier nichts zu stehlen.«

Im Schrecken über den Anruf griff der Dieb zu und drückte die Hände um Goldmunds Hals. Als der sich wehrte und aufbäumte, drückte der andere fester zu und kniete ihm zugleich auf die Brust. Goldmund, als er keinen Atem mehr bekam, riß und zuckte heftig mit dem ganzen Leibe, und als er nicht loskam, durchfuhr ihn plötzlich die Todesangst und machte ihn klug und hellsichtig. Er brachte die Hand in die Tasche, brachte, während der andere weiterwürgte, das kleine Jagdmesser heraus und stieß plötzlich und blindlings mehrere Male in den über ihm Knienden hinein. Nach einem Augenblick ließen Viktors Hände locker, es gab Luft, tief und wild einatmend kostete Goldmund sein gerettetes Leben. Nun versuchte er sich aufzurichten, da sank über ihm der lange Kamerad schlaff und weich mit einem furchtbaren Stöhnen zusammen, und sein Blut lief über Goldmunds Gesicht. Erst jetzt vermochte er hochzukommen. Da sah er im grauen Nachtschein den Langen zusammengefallen liegen; als er nach ihm griff, langte er in lauter Blut. Er hob ihm den Kopf, der fiel schwer und weich wie ein Sack zurück. Aus seiner Brust und seinem Hals troff das Blut immerzu, aus seinem Munde floß in irren, schon schwächer werdenden Seufzern das Leben fort.

»Nun habe ich einen Menschen umgebracht«, dachte Goldmund und dachte es immer wieder, während er über dem Sterbenden kniete und auf seinem Gesicht die Blässe sich verbreiten sah. »Liebe Mutter Gottes, nun habe ich getötet«, hörte er sich selber sprechen.

Plötzlich wurde es ihm unerträglich, hier zu bleiben. Er hob sein Messer auf, wischte es an dem Wollenzeug ab, das der andere trug und das von Lydias Händen für ihren Liebsten gestrickt worden war; er steckte das Messer in die hölzerne Scheide und in die Tasche zurück, sprang auf und lief aus allen Kräften davon.

Schwer lag ihm der Tod des lustigen Vaganten auf der Seele; mit Schaudern wusch er, als es Tag wurde, mit Schnee all das Blut von sich, das er vergossen hatte, und irrte noch einen Tag und eine Nacht ziellos und beängstigt umher. Es war die Not des Leibes, die ihn endlich aufrüttelte und seiner angstvollen Reue ein Ende machte.

In der öden verschneiten Gegend verlaufen, ohne Obdach, ohne Weg, ohne Nahrung und beinahe ohne Schlaf, geriet er in große Bedrängnis, wie ein wildes Tier schrie der Hunger in seinem Leib, mehrmals legte er sich erschöpft mitten im Felde nieder, schloß die Augen und gab sich verloren, wünschte nichts als einzuschlafen und im Schnee zu sterben. Aber immer wieder trieb es ihn empor, verzweifelt und gierig lief er um sein Leben, und mitten in der bittersten Not erquickte und berauschte ihn die unsinnige Kraft und Wildheit des Nichtsterbenwollens, die ungeheure Stärke des nackten Lebenstriebes. Vom beschneiten Wacholderbusch las er mit blaugefrorenen Händen die kleinen vertrockneten Beeren und kaute das spröde bittere Zeug, mit Tannennadeln vermischt, es schmeckte aufreizend scharf, er fraß Hände voll Schnee gegen den Durst. Atemlos, in die erstarrten Hände hauchend, saß er auf einem Hügel und hielt kurze Rast, gierig spähte er nach allen Seiten, nichts als Heide und Wald war zu sehen, nirgends eine Spur von Menschen. Über ihm flogen ein paar Krähen, böse blickte er ihnen nach. Nein, sie sollten ihn nicht zu fressen kriegen, nicht, solange noch ein Rest von Kraft in seinen Beinen, ein Funke von Wärme in seinem Blute war. Er stand auf und nahm den unerbittlichen Wettlauf mit dem Tode wieder auf. Er lief und lief, und im Fieber der Erschöpfung und letzten Anstrengung nahmen merkwürdige Gedanken von ihm Besitz, und er führte tolle Gespräche vor sich hin, bald unhörbar, bald laut. Er sprach mit Viktor, mit dem Erstochenen, barsch und höhnisch sprach er mit ihm: »Na, schlauer Bruder, wie geht's? Scheint dir der Mond durch die Därme, Kerl, rupfen die Füchse dir an den Ohren? Einen Wolf willst du umgebracht haben? Hast du ihn in die Kehle gebissen oder ihm den Schwanz ausgerissen, he? Meinen Dukaten hast du mir stehlen wollen, alter Schnappsack! Aber gelt, das kleine Goldmündchen hat dich überrascht, gelt Alter, es hat dich an den Rippen gekitzelt! Und dabei hast du noch alle Säcke voller Brot und Wurst und Käse gehabt, du Schwein, du Freßsack!« Dergleichen Scherzreden hustete und bellte er vor sich hin, er beschimpfte den Toten, er triumphierte über ihn, er lachte ihn dafür aus, daß er sich habe kaputt machen lassen, der Tölpel, der dumme Aufschneider! Dann aber hatten seine Gedanken und Reden es nicht mehr mit dem armen langen Viktor zu tun. Er sah jetzt Julie vor sich, die schöne kleine Julie, so wie sie ihn in jener Nacht verlassen hatte; er rief ihr unzählige Koseworte zu, mit irren schamlosen Zärtlichkeiten suchte er sie zu verführen, daß sie zu ihm komme, daß sie ihr Hemdchen fallen lasse, daß sie mit ihm in den Himmel fahre, eine Stunde vor dem Tode noch, ein Augenblickchen vor dem elenden Verrecken. Flehend und herausfordernd sprach er mit ihren hohen kleinen Brüsten, mit ihren Beinen, mit dem blonden krausen Haar unter ihrer Achsel.

26
{"b":"89466","o":1}