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Und wieder, während er mit steifen stolpernden Beinen durchs beschneite dürre Heidekraut trabte, trunken vor Weh, triumphierend vor flackernder Lebensgier, begann er zu flüstern; und jetzt war es Narziß, mit dem er sprach, dem er seine neuen Einfalle, Weisheiten und Scherze mitteilte. »Hast du Angst, Narziß«, redete er ihn an, »graut es dir, hast du was gemerkt? Ja, Verehrtester, die Welt ist voll von Tod, voll von Tod, auf jedem Zaun sitzt er, hinter jedem Baum steht er, und es hilft euch nichts, daß ihr Mauern baut, und Schlafsäle, und Kapellen und Kirchen, er guckt durchs Fenster, er lacht, er kennt jeden von euch so genau, mitten in der Nacht hört ihr ihn vor euren Fenstern lachen und eure Namen sagen. Singt nur eure Psalmen und brennet hübsch Kerzen am Altar, und betet eure Vespern und Matutinen, und sammelt Kräuter im Laboratorium, und sammelt Bücher in der Bibliothek! Fastest du, Freund? Entziehst dir den Schlaf? Er wird dir schon helfen, der Freund Hein, er wird dir alles entziehen, bis auf die Knochen. Lauf, Teuerster, lauf geschwind, im Felde da geht der Heirassasa, lauf und halte immer hübsch die Knochen zusammen, sie wollen auseinander, sie werden nicht bei uns bleiben. Ach unsere armen Knochen, ach unser armer Schlund und Magen, ach unser armes bißchen Hirn unterm Schädel! Es will alles fort, es will alles zum Teufel, auf dem Baum sitzen die Krähen, die schwarzen Pfaffen.«

Längst wußte der Irrende nicht mehr, wohin er laufe, wo er sei, was er sage, ob er liege oder stehe. Er fiel über Gesträuch, er rannte gegen Bäume, er griff stürzend in Schnee und Dornen. Aber der Trieb in ihm war stark, immer wieder riß er ihn fort, immer wieder jagte er den blind Fliehenden weiter. Als er das letztemal zusammenbrach und liegenblieb, war es im selben kleinen Dorfe, wo er vor einigen Tagen den fahrenden Schüler getroffen, wo er nachts über der gebärenden Frau den Kienspan gehalten hatte. Da blieb er liegen, und die Leute liefen her und standen um ihn herum und schwatzten, er hörte nichts mehr. Die Frau, deren Liebe er damals genossen, erkannte ihn und erschrak über seinen Anblick, sie erbarmte sich, sie ließ ihren Mann schelten und schleppte den Halbtoten in den Stall.

Es dauerte nicht lange, bis Goldmund wieder auf seinen Beinen stand und wandern konnte. Von der Stallwärme, vom Schlaf und von der Ziegenmilch, die das Weib ihm zu trinken gab, kam er wieder zu sich und zu Kräften; nur war alles Jüngsterlebte zurückgerückt, als wäre viel Zeit seitdem verflossen. Der Marsch mit Viktor, die kalte bange Winternacht unter jenen Tannen, der schreckliche Kampf auf dem Lager, das schreckliche Sterben des Kameraden, die Tage und Nächte des Frierens, des Hungerns und Verirrtseins, das alles war Vergangenheit geworden, beinahe hätte er es vergessen; aber vergessen war es doch nicht, nur überstanden, nur vorübergegangen. Etwas blieb zurück, nicht auszusprechen, etwas Schreckliches und auch Wertvolles, etwas Versunkenes und doch nie zu Vergessendes, eine Erfahrung, ein Geschmack auf der Zunge, ein Ring ums Herz. In kaum zwei Jahren hatte er Lust und Schmerzen des heimatlosen Lebens wohl bis zum Grunde kennengelernt: das Alleinsein, die Freiheit, das Lauschen auf Wald und Getier, das schweifende treulose Lieben, die bittere tödliche Not. Tage war er im sommerlichen Gefild zu Gast gewesen, Tage und Wochen im Walde, Tage im Schnee, Tage in Todesangst und Todesnähe, und von allem das Stärkste, das Seltsamste war gewesen, sich gegen den Tod zu wehren, sich klein und elend und bedroht zu wissen und dennoch im letzten verzweifelten Kampf gegen den Tod diese schöne, schreckliche Kraft und Zähigkeit des Lebens in sich zu fühlen. Das klang nach, das blieb ihm ins Herz geschrieben, so wie die Gebärden und Mienen der Wollust, welche denen der Gebärenden und Sterbenden so ähnlich waren. Wie neulich die Gebärende geschrien und das Gesicht verzogen hatte, wie neulich der Kamerad Viktor zusammengesunken war und sein Blut so still und schnell verströmt hatte! Oh, und er selbst, wie hatte er in den Hungertagen den Tod rund um sich lauern gespürt, wie weh hatte der Hunger getan, und wie hatte er gefroren, gefroren! Und wie hatte er gekämpft, wie hatte er dem Tod auf die Nase gehauen, mit welcher Todesangst und mit welcher grimmigen Wollust hatte er sich gewehrt! Viel mehr als dieses, so wollte ihm scheinen, gab es eigentlich nicht zu erleben. Mit Narziß hätte man vielleicht darüber sprechen können, sonst mit niemandem.

Als Goldmund auf seinem Streulager im Stall zum ersten Mal wieder richtig zu sich gekommen war, hatte er den Dukaten in seiner Tasche vermißt. Sollte er ihn auf dem schrecklichen, halb bewußtlos durchtaumelten Marsch des letzten Hungertages verloren haben? Lange grübelte er darüber nach. Der Dukaten war ihm lieb gewesen, er mochte ihn nicht verloren geben. Geld zwar bedeutete ihm wenig, er kannte kaum seinen Wert. Aber dies Goldstück war ihm aus zweierlei Gründen bedeutsam geworden. Es war das einzige Geschenk Lydias, das ihm geblieben war, denn die Wolljacke lag ja mit Viktor im Walde und war von dessen Blut durchtränkt. Und dann war es ja vor allem die Goldmünze gewesen, deren Entwendung er nicht dulden wollte, ihretwegen hatte er sich gegen Viktor gewehrt, hatte ihn ihretwegen in der Not umgebracht. Wenn der Dukaten nun verloren war, so war gewissermaßen das ganze Erlebnis jener grauenvollen Nacht unsinnig und entwertet. Nachdem er lange nachgedacht, hatte er die Bauernfrau ins Vertrauen gezogen.

»Christine«, flüsterte er ihr zu, »ich hatte ein Goldstück in meiner Tasche, und nun ist es nicht mehr da.«

»So, hast du es gemerkt?« fragte sie, mit einem merkwürdig liebevollen und zugleich listig schlauen Lächeln, das ihn so entzückte, daß er trotz seiner Schwäche die Arme um sie legte.

»Was bist du für ein sonderbarer Bub«, sagte sie zärtlich, »so klug und fein, und dabei so dumm! Läuft man denn mit einem losen Dukaten in der offenen Tasche in der Welt herum? O du kindischer Bub, du süßer kleiner Narr! Dein Goldstück hab ich gefunden, gleich als ich dich ins Stroh legte.«

»Hast du? Und wo ist es jetzt?«

»Such es«, lachte sie und ließ ihn wirklich eine ganze Weile suchen, ehe sie ihm die Stelle seines Rockes zeigte, wo sie es fest eingenäht hatte. Sie knüpfte eine Menge guter mütterlicher Ratschläge daran, die er schnell wieder vergaß, aber ihren Liebesdienst und jenes schlaugütige Lachen in ihrem Bauerngesicht vergaß er nie. Er gab sich Mühe, ihr seine Dankbarkeit zu zeigen, und als er in kurzem wieder marschfähig war und weiterwollte, hielt sie ihn zurück, da in diesen Tagen der Mond wechsle und es gewiß milderes Wetter geben werde. Und so war es. Als er weiterzog, lag der Schnee grau und krank, und die Luft war feuchtschwer, in der Höhe hörte man den Tauwind stöhnen.

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