»Mein Herz«, flüsterte er Lydien ins Ohr, »wir leiden unnütze Leiden. Wie glücklich könnten wir jetzt alle dreie sein! Laß uns doch tun, was unser Blut verlangt!«
Da sie zurückschaudernd sich entzog, flüchtete seine Begierde zur andern, und seine Hand tat ihr so wohl, daß sie mit einem langen bebenden Seufzer der Wollust antwortete. Als Lydia diesen Seufzer hörte, zog Eifersucht ihr Herz zusammen, als wäre Gift hineingetropft. Sie setzte sich unversehens auf, riß die Decke vom Bett, sprang auf die Füße und rief: »Julie, laß uns gehen!«
Julie zuckte zusammen; schon die unbedachte Heftigkeit dieses Rufs, der sie alle verraten konnte, zeigte ihr die Gefahr, und sie erhob sich schweigend.
Goldmund aber, in allen seinen Trieben beleidigt und betrogen, umschlang schnell die sich aufrichtende Julie, küßte ihr beide Brüste und flüsterte ihr brennend ins Ohr: »Morgen, Julie, morgen!«
Lydia stand im Hemde und barfuß, auf dem Steinboden krümmten sich ihre Zehen vor Kälte. Sie hob Julies Mantel vom Boden auf und hing ihn ihr um, mit einer leidenden und demütigen Gebärde, die jener auch im Dunkeln nicht entging und die sie rührte und versöhnte. Leise huschten die Schwestern aus der Kammer und davon. Voll widerstreitender Gefühle horchte Goldmund ihnen nach und atmete auf, als es im Hause totenstill blieb.
So waren die drei jungen Menschen aus einem sonderbaren und unnatürlichen Zusammensein in nachdenkliche Einsamkeit verwiesen, denn auch die beiden Schwestern, nachdem sie ihre Schlafstube erreicht hatten, fanden sich nicht zu einer Aussprache, sondern lagen jede einsam, schweigend und trotzig in ihrem Bette wach. Ein Geist des Unglücks und Widerspruchs, ein Dämon der Sinnlosigkeit, Vereinsamung und Seelenverwirrung schien sich des Hauses bemächtigt zu haben. Erst nach Mitternacht entschlief Goldmund, erst gegen den Morgen Julie. Lydia lag wach und gepeinigt, bis überm Schnee der bleiche Tag heraufkam. Sie erhob sich sofort, zog sich an, kniete lang vor ihrem kleinen hölzernen Heiland und betete, und sobald sie auf der Treppe den Schritt ihres Vaters vernahm, ging sie und bat ihn um eine Unterredung. Ohne den Versuch zu machen, zwischen ihrer Sorge um Julies Mädchentugend und ihrer Eifersucht zu unterscheiden, war sie zum Entschluß gekommen, der Sache ein Ende zu machen. Goldmund und Julie schliefen beide noch, als der Ritter schon alles wußte, was Lydia gut befunden hatte, ihm mitzuteilen. Julies Beteiligung an dem Abenteuer hatte sie verschwiegen. Als Goldmund zur gewohnten Stunde in der Schreibstube erschien, sah er den Ritter, der sonst in Hausschuhen und Filzrock seinen Schreibereien obzuliegen pflegte, gestiefelt, im Wams, das Schwert umgehängt, und wußte alsbald, was das bedeute.
»Setz deine Mütze auf«, sagte der Ritter, »ich habe einen Gang mit dir zu tun.«
Goldmund nahm seine Mütze vom Nagel und folgte seinem Herrn die Treppe hinab, über den Hof und zum Tor hinaus. Ihre Sohlen knirschten hell im leicht überfrorenen Schnee, am Himmel war noch Morgenrot. Schweigend ging der Ritter voran, der Jüngling folgte und blickte mehrmals nach dem Hof zurück, nach dem Fenster seiner Kammer, nach dem beschneiten steilen Dach, bis es versank und nichts mehr zu sehen war. Nie würde er dies Dach und diese Fenster wiedersehen, nie mehr die Schreibstube und Schlafkammer, nie mehr die beiden Schwestern. Seit langem war der Gedanke an ein plötzliches Scheiden ihm vertraut, dennoch zog sich sein Herz schmerzlich zusammen. Bitter weh tat ihm dieser Abschied.
Eine Stunde lang gingen sie so, der Herr voran, beide ohne zu sprechen. Goldmund begann an sein Schicksal zu denken. Der Ritter war bewaffnet, vielleicht würde er ihn erschlagen. Er glaubte jedoch nicht daran. Die Gefahr war klein; er brauchte nur davonzulaufen, so stand der alte Mann mit seinem Schwerte hilflos. Nein, sein Leben war nicht in Gefahr. Aber dieses Gehen und Schweigen, hinter dem beleidigten feierlichen Manne her, dies stumme Davongeführtwerden wurde ihm von Schritt zu Schritt peinlicher. Endlich blieb der Ritter stehen.
»Du wirst nun«, sagte er mit geborstener Stimme, »allein weitergehen, immer in dieser Richtung, und wirst dein Wanderleben führen, wie du es gewohnt warst. Solltest du dich jemals wieder in der Nähe meines Hauses zeigen, so wirst du abgeschossen. Ich will keine Rache an dir nehmen; ich hätte klüger sein und einen so jungen Menschen nicht in die Nähe meiner Töchter kommen lassen sollen. Solltest du es aber wagen zurückzukommen, so ist dein Leben verloren. Geh nun, möge dir Gott verzeihen!«
Er blieb stehen, im fahlen Schneemorgenlicht sah sein graubärtiges Gesicht wie erloschen aus. Wie ein Gespenst blieb er stehen und wich nicht von der Stelle, bis Goldmund über den nächsten Hügelkamm verschwunden war. Die rötlichen Schimmer am Wolkenhimmel hatten sich verloren, keine Sonne kam hervor, es begann langsam in dünnen, zögernden Flocken zu schneien.