Nie hätte er ein Verbot, einen Wunsch, eine Andeutung von ihr mißachtet. Er war selbst verwundert darüber, wieviel Macht sie über ihn hatte. Aber er litt. Seine Sinne blieben ungestillt, und sein Herz wehrte sich oft heftig gegen die Abhängigkeit. Manchmal gab er sich Mühe, davon loszukommen. Manchmal machte er der kleinen Julie mit ausgesuchter Artigkeit den Hof, und allerdings war es ja auch sehr notwendig, mit dieser wichtigen Person in einem guten Verhältnis zu bleiben und sie womöglich zu täuschen. Es ging ihm merkwürdig mit dieser Julie, die oft so sehr kindlich tat und oft so allwissend schien. Kein Zweifel, sie war schöner als Lydia, sie war eine ungewöhnliche Schönheit, und dies war, zusammen mit ihrer etwas altklugen Kinderunschuld, für Goldmund ein großer Reiz; er war oft stark in Julie verliebt. Gerade an diesem starken Reiz, den die Schwester für seine Sinne hatte, erkannte er oft mit Erstaunen den Unterschied zwischen Begierde und Liebe. Anfangs hatte er beide Schwestern mit denselben Augen angeschaut, hatte beide begehrenswert, Julie aber schöner und verführenswerter gefunden, hatte unterschiedlos um beide geworben und beide stets im Auge behalten. Und jetzt hatte Lydia diese Macht über ihn gewonnen! Jetzt liebte er sie so sehr, daß er sogar auf ihren völligen Besitz aus Liebe verzichtete. Ihre Seele war ihm bekannt und lieb geworden, in ihrer Kindlichkeit, Zärtlichkeit und ihrer Hinneigung zur Traurigkeit schien sie seiner eigenen ähnlich; oft war er tief erstaunt und entzückt darüber, wie sehr diese Seele ihrem Leibe entsprach; sie konnte etwas tun, etwas sagen, einen Wunsch oder ein Urteil äußern, und ihr Wort und die Haltung ihrer Seele war vollkommen nach derselben Form geprägt wie der Schnitt ihrer Augen und die Bildung ihrer Finger!
Diese Augenblicke, in denen er die Grundformen und Gesetze zu sehen glaubte, nach denen ihr Wesen, Seele wie Leib, gestaltet war, hatten in Goldmund öfters die Lust erweckt, etwas von dieser Gestalt festzuhalten und nachzubilden, und er hatte auf einigen Blättern, die er sehr geheimhielt, Versuche gemacht, mit Federstrichen den Umriß ihres Kopfes, die Linie ihrer Brauen, ihre Hand, ihr Knie aus dem Gedächtnis zu zeichnen.
Mit Julie war es etwas schwierig geworden. Sie witterte sichtlich die Woge von Liebe, in der ihre ältere Schwester schwamm, und ihre Sinne wandten sich voll Neugierde und Begehrlichkeit dem Paradiese zu, ohne daß ihr eigensinniger Verstand es zugeben wollte. Sie zeigte Goldmund eine übertriebene Kühle und Abneigung und konnte ihn in Augenblicken der Vergessenheit doch mit Bewunderung und lüsterner Neugierde betrachten. Mit Lydia war sie oft sehr zärtlich, suchte sie zuweilen auch im Bette auf und atmete dann mit verschwiegener Gier in der Zone der Liebe und des Geschlechts, streifte mutwillig an das verbotene und ersehnte Geheimnis. Dann wieder ließ sie in beinah verletzender Art merken, daß sie um Lydias geheimes Vergehen wisse und es verachte. Reizend und störend flackerte das schöne und launische Kind zwischen den beiden Liebenden, naschte in durstigen Träumen an ihrer Heimlichkeit, spielte bald die Ahnungslose, bald ließ sie gefährliche Mitwisserschaft merken; schnell war sie aus einem Kinde zu einer Macht geworden. Lydia hatte davon mehr zu leiden als Goldmund, der die Kleine außer bei den Mahlzeiten selten zu Gesichte bekam. Es konnte Lydia auch nicht verborgen bleiben, daß Goldmund gegen Julies Reiz nicht unempfindlich war, manchmal sah sie seinen anerkennenden, genießenden Blick auf ihr ruhen. Sie durfte nichts sagen, alles war so schwierig, alles so voll Gefahr, namentlich durfte Julie nicht verstimmt und beleidigt werden; ach, jeden Tag und jede Stunde konnte das Geheimnis ihrer Liebe entdeckt und ihrem schweren angstvollen Glück ein Ende gemacht werden, vielleicht ein schreckliches.
Manchmal wunderte sich Goldmund darüber, daß er nicht längst auf und davon gegangen war. Es war schwer, so zu leben, wie er jetzt lebte: geliebt, aber ohne Hoffnung, weder auf ein erlaubtes und dauerndes Glück, noch auf die leichten Erfüllungen, an welche seine Liebeswünsche bisher gewohnt waren; mit ewig gereizten und hungrigen, nie gestillten Trieben, dabei in beständiger Gefahr. Warum blieb er hier und ertrug das alles, alle diese Verwicklungen und verwirrten Gefühle? Waren das nicht Erlebnisse, Gefühle und Gewissenszustände für Seßhafte, für Legitime, für Leute in geheizten Stuben? Hatte er nicht das Recht des Heimatlosen und Anspruchslosen, sich diesen Zartheiten und Kompliziertheiten zu entziehen und ihrer zu lachen? Ja, dies Recht hatte er, und er war ein Narr, daß er hier etwas wie Heimat suchte und es mit so viel Schmerzen, so viel Verlegenheiten bezahlte. Und dennoch tat und litt er es, litt es gerne, war heimlich glücklich dabei. Es war dumm und schwierig, es war kompliziert und anstrengend, auf eine solche Art zu lieben, aber es war wunderbar. Wunderbar war die dunkelschöne Traurigkeit dieser Liebe, ihre Narrheit und Hoffnungslosigkeit; schön waren diese gedankenvollen Nächte ohne Schlaf; schön und köstlich war dies alles wie der Leidenszug auf Lydias Lippen, wie der verlorene, ergebene Klang ihrer Stimme, wenn sie von ihrer Liebe und Sorge sprach. In wenigen Wochen war dieser Leidenszug auf Lydias jungem Gesicht entstanden und heimisch geworden, dessen Linien mit der Feder nachzuzeichnen ihm so schön und wichtig schien, und er fühlte: in diesen wenigen Wochen war auch er selbst anders und sehr viel älter geworden, nicht klüger und dennoch erfahrener, nicht glücklicher und doch viel reifer und reicher in der Seele. Er war kein Knabe mehr.
Mit ihrer sanften, verlorenen Stimme sagte Lydia zu ihm: »Du mußt nicht traurig sein, nicht meinetwegen, ich möchte dich ja nur fröhlich machen und glücklich sehen. Verzeih, ich habe dich traurig gemacht, ich habe dich mit meiner Angst und Betrübnis angesteckt. Ich träume nachts so merkwürdig: immer gehe ich da in einer Wüste, die ist so groß und so dunkel, wie ich nicht sagen kann, da gehe ich und gehe und suche dich, aber du bist nicht da, und ich weiß, ich habe dich verloren und werde immer, immer so gehen müssen, so allein. Dann, wenn ich erwache, denke ich: o wie gut, o wie herrlich ist es, daß er noch da ist und ich ihn sehen werde, vielleicht noch Wochen oder noch Tage, einerlei, aber er ist noch da!«
Eines Morgens erwachte Goldmund bald nach Tagesanbruch in seinem Bette und blieb eine Weile nachsinnend liegen, Bilder aus einem Traume waren noch um ihn, doch ohne Zusammenhang. Er hatte von seiner Mutter geträumt und von Narziß, beide Gestalten konnte er noch deutlich sehen. Als er sich aus den Traumfäden befreit hatte, fiel ein besonderes Licht ihm auf, eine eigentümliche Art von Helligkeit, die heute durchs kleine Fensterloch hereinkam. Er sprang auf und lief zum Fenster, da sah er das Fenstergesimse, das Dach des Pferdestalls, die Hofeinfahrt und die ganze Landschaft jenseits bläulichweiß schimmern, vom ersten Schnee dieses Winters bedeckt. Der Gegensatz zwischen der Unruhe seines Herzens und der stillen, ergebenen Winterwelt machte ihn betroffen: wie ruhig, wie rührend und fromm gab sich Acker und Wald, Hügel und Heide der Sonne, dem Wind, dem Regen, der Dürre, dem Schnee hin, wie schön und sanft leidend trugen Ahorn und Esche ihre Winterlast! Konnte man nicht werden wie sie, konnte man nichts von ihnen lernen? Gedankenvoll ging er auf den Hof hinaus, watete im Schnee und befühlte ihn mit den Händen, ging zum Garten hinüber und blickte über den hoch beschneiten Zaun in die vom Schnee hinabgebogenen Rosenstämme.
Zum Frühstück aß man eine Mehlsuppe, alle sprachen vom ersten Schnee, alle – auch die Mädchen – waren schon draußen gewesen. Der Schnee kam spät in diesem Jahr, schon war die Weihnacht nahe. Der Ritter erzählte von den südlichen Landern, wo es keinen Schnee gebe. Das aber, was diesen ersten Wimertag für Goldmund unvergeßlich machte, begab sich erst, als es längst Nacht geworden war. Die beiden Schwestern hatten heut einen Zank gehabt, von dem Goldmund nichts wußte. Nachts, als es still und dunkel im Hause geworden war, kam Lydia zu ihm, in ihrer gewohnten Art, sie legte sich schweigend zu ihm und den Kopf an seine Brust, um sein Herz schlagen zu hören und sich an seiner Nähe zu trösten. Sie war betrübt und änstlich, sie fürchtete von Julie Verrat, doch konnte sie sich nicht entschließen, mit dem Liebsten davon zu sprechen und ihm Sorge zu bringen. So lag sie still an seinem Herzen, hörte ihn zuweilen ein Kosewort flüstern und spürte seine Hand in ihren Haaren.
Plötzlich aber – sie war noch nicht lange so gelegen – erschrak sie furchtbar und richtete sich mit weitaufgerissenen Augen hoch auf. Und auch Goldmund erschrak nicht wenig, als er die Kammertür offen und eine Gestalt hereintreten sah, die er im Schrecken nicht sofort erkannte. Erst als die Erscheinung dicht am Bette stand und sich darüber neigte, sah er mit beklommenem Herzen, daß es Julie war. Sie schlüpfte aus einem Mantel, den sie übers bloße Hemd geworfen hatte, und ließ den Mantel zu Boden fallen. Mit einem Wehlaut, als hätte sie einen Messerstich empfangen, sank Lydia zurück und klammerte sich an Goldmund. Mit einem Ton von Hohn und Schadenfreude, aber doch mit unsicherer Stimme, sagte Julie: »Ich mag nicht so allein in der Kammer liegen. Entweder ihr nehmet mich zu euch und wir liegen zu dreien, oder ich gehe und wecke den Vater.«
»Ja, dann komm nur«, sagte Goldmund und schlug die Decke zurück. »Du erfrierst dir ja die Füße.« Sie stieg ein, und er hatte Mühe, ihr auf dem schmalen Lager etwas Raum zu schaffen, denn Lydia hatte das Gesicht ins Kissen vergraben und lag regungslos. Endlich lagen sie alle drei, auf jeder Seite Goldmunds ein Mädchen, und einen Augenblick konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, wie sehr diese Lage noch vor kurzer Zeit allen seinen Wünschen entsprochen hätte. Mit wunderlichem Bangen, und doch heimlich entzückt, spürte er Julies Hüfte an seiner Seite.
»Ich mußte doch einmal sehen«, fing sie wieder an, »wie es sich denn in deinem Bette liegt, das meine Schwester so gern aufsucht.«
Goldmund, um sie zur Ruhe zu bringen, rieb sachte seine Wange an ihrem Haar und streichelte mit leiser Hand ihre Hüften und Knie, wie man einer Katze schön tut, und sie gab sich schweigend und neugierig in seine tastende Hand, fühlte benommen und andächtig den Zauber, bot keinen Widerstand. Während dieser Beschwörung aber bemühte er sich zugleich um Lydia, summte ihr leise vertraute Liebestöne ins Ohr und brachte sie langsam dazu, wenigstens das Gesicht zu erheben und ihm zuzuwenden. Lautlos küßte er ihr Mund und Augen, während seine Hand drüben die Schwester im Bann hielt und die Peinlichkeit und Verschrobenheit der ganzen Lage ihm bis zur Unerträglichkeit bewußt wurde. Seine linke Hand war es, die ihn belehrte; während sie mit den schönen, still wartenden Gliedern Julies bekannt wurde, empfand er zum erstenmal nicht nur die Schönheit und tiefe Hoffnungslosigkeit seiner Liebe zu Lydia, sondern auch ihre Lächerlichkeit. Er hätte, so schien es ihm jetzt, während seine Lippen bei Lydia waren und seine Hand bei Julien, er hätte Lydia entweder zur Hingabe zwingen oder seines Weges weiterziehen müssen. Sie zu lieben und ihr doch zu entsagen, war ein Unsinn und ein Unrecht gewesen.