»Ich bin nicht so wie die Frau, deren Fuß du gestern gestreichelt hast. Du scheinst an solche Frauen gewöhnt zu sein.«
»Nein, Gott sei Dank bist du viel schöner und feiner als sie.«
»Ich meine nicht das.«
»Oh, es ist aber so. Weißt du denn, wie schön du bist?«
»Ich habe einen Spiegel.«
»Hast du darin einmal deine Stirn gesehen, Lydia? Und dann die Schultern, und dann die Fingernägel, und dann die Knie? Und hast du gesehen, wie das alles einander gleicht und sich aufeinander reimt, wie das alles die gleiche Form hat, eine lange, gestreckte, feste und sehr schlanke Form? Hast du es gesehen?«
»Wie du sprichst! Ich habe es eigentlich nie gesehen, aber jetzt, wo du es sagst, weiß ich doch, was du meinst. Höre, du bist doch ein Verführer, jetzt versuchst du es, mich eitel zu machen.«
»Schade, ich kann es dir nicht recht machen. Aber warum soll mir denn daran gelegen sein, dich eitel zu machen? Du bist schön, und ich möchte dir zeigen, daß ich dafür dankbar bin. Du zwingst mich, es dir mit Worten zu sagen; ich könnte es dir tausendmal besser sagen als mit Worten. Mit Worten kann ich dir nichts geben! Mit Worten kann ich auch nichts von dir lernen und du nichts von mir.«
»Was soll ich denn von dir lernen?«
»Ich von dir, Lydia, und du von mir. Aber du willst ja nicht. Du willst ja nur den liebhaben, dessen Braut du sein wirst. Er wird lachen, wenn er sieht, daß du nichts gelernt hast, nicht einmal küssen.«
»So, also im Küssen möchtest du mir Unterricht geben, Herr Magister?«
Er lächelte ihr zu. Gefielen auch ihre Worte ihm nicht, so konnte er doch hinter ihrem etwas heftigen und unechten Klugreden ihr Mädchentum spüren, wie es von der Lüsternheit ergriffen war und sich angstvoll dagegen wehrte. Er gab keine Antwort mehr. Er lächelte ihr zu, hielt ihren unruhigen Blick mit seinen Augen fest und gefangen, und während sie sich, nicht ohne Widerstand, dem Bann ergab, näherte er langsam sein Gesicht dem ihren, bis die Lippen sich berührten. Leise streifte er ihren Mund, der gab ihm mit einem kleinen Kinderkuß Antwort und öffnete sich wie in schmerzlichem Erstaunen, als er ihn nicht wieder losließ. Sanft werbend folgte er ihrem zurückfliehenden Munde, bis er zögernd wieder entgegenkam, und lehrte die Bezauberte ohne Gewalt das Nehmen und Geben des Kusses, bis sie erschöpft ihr Gesicht auf seine Schulter drückte. Er ließ es ruhen, roch beglückt an ihrem starken blonden Haar, murmelte zärtliche und beruhigende Töne in ihr Ohr und erinnerte sich in diesen Augenblicken daran, wie er, ein ahnungsloser Schüler, einst durch die Zigeunerin Lise m das Geheimnis eingeweiht worden war. Wie schwarz war ihr Haar gewesen, wie braun ihre Haut, wie hatte die Sonne gebrannt und das welke Johanniskraut geduftet! Und wie weit lag das schon, aus welcher Ferne schon blitzte es herüber. So schnell ward alles welk, was kaum noch blühte!
Langsam richtete Lydia sich auf, mit verwandeltem Gesicht, ernst und groß blickten ihre liebenden Augen.
»Laß mich gehen, Goldmund«, sagte sie, »ich war so lange bei dir. O du, o mein Lieber du!«
Sie fanden jeden Tag ihre verschwiegene Stunde, und Goldmund ließ sich ganz von der Liebenden führen, wunderbar beglückte und rührte ihn diese Mädchenliebe. Manches Mal mochte sie eine ganze Stunde lang nichts als seine Hände in ihren halten und in seine Augen sehen und nahm Abschied mit einem Kinderkuß. Andere Male küßte sie hingegeben und unersättlich, duldete aber keine Berührung. Einmal, tief errötend und mit Überwindung, im Willen, ihm eine große Freude zu machen, ließ sie ihn eine ihrer Brüste sehen; schüchtern brachte sie die kleine weiße Frucht aus dem Kleide hervor; als er sie kniend geküßt hatte, verhüllte sie sie wieder mit Sorgfalt und war noch immer rot bis zum Halse. Sie sprachen auch, aber auf eine neue Art, nicht mehr so wie am ersten Tage; sie erfanden Namen füreinander, gern erzählte sie ihm von ihrer Kindheit, ihren Träumen und Spielen. Auch davon sprach sie oft, daß ihre Liebe unrecht sei, da er sie nicht heiraten könne; traurig und ergeben sprach sie davon und schmückte ihre Liebe mit dem Geheimnis dieser Traurigkeit wie mit einem schwarzen Schleier.
Zum erstenmal fühlte sich Goldmund von einer Frau nicht nur begehrt, sondern geliebt.
Lydia sagte einst: »Du bist so hübsch und siehst so heiter aus. Aber in deinen Augen innen ist keine Heiterkeit, da ist lauter Trauer; wie wenn deine Augen wüßten, daß es kein Glück gibt und daß alles Schöne und Geliebte nicht lange bei uns bleibt. Du hast die schönsten Augen, die es geben kann, und die traurigsten. Ich glaube, das ist, weil du heimatlos bist. Du bist aus den Wäldern zu mir gekommen, und einmal wirst du wieder fortgehen und auf Moos schlafen und wandern. – Aber wo ist denn meine Heimat? Wenn du fortgehst, dann habe ich wohl noch einen Vater und eine Schwester und habe eine Kammer und ein Fenster, wo ich sitzen und an dich denken kann; aber Heimat werde ich keine mehr haben.«
Er ließ sie sprechen, manchmal lächelte er dazu, manchmal war er betrübt. Mit Worten tröstete er sie nie, nur mit leisem Streicheln, nur indem er ihren Kopf an seiner Brust hielt und leise sinnlose Zaubertöne summte, wie die Ammen sie zum Trost der Kinder summen, wenn sie weinen. Einmal sagte Lydia: »Ich möchte wohl wissen, Goldmund, was einmal aus dir werden wird, ich denke oft darüber nach. Du wirst kein gewöhnliches Leben haben und kein leichtes. Ach, möchte es dir doch gut ergehen! Manchmal denke ich, du müßtest ein Dichter werden, einer, der Gesichte und Träume hat und sie schön aussprechen kann. Ach, du wirst durch die ganze Welt wandern, und alle Frauen werden dich lieben, und doch wirst du allein bleiben. Geh lieber wieder ins Kloster zu deinem Freund, von dem du mir soviel erzählst! Ich werde für dich beten, daß du nicht einst allein im Walde sterben mußt.«
So konnte sie sprechen, in tiefem Ernst, mit verlorenen Augen. Aber dann konnte sie wieder lachend mit ihm über das spätherbstliche Land reiten oder ihm Scherzrätsel aufgeben und ihn mit welkem Laub und blanken Eicheln bewerfen. Einmal lag Goldmund in seiner Kammer im Bett und wartete auf den Schlaf. Das Herz war ihm schwer, auf eine holde schmerzliche Art, schwer und voll schlug es in seiner Brust, überfüllt mit Liebe, überfüllt mit Trauer und Ratlosigkeit. Er hörte den Novemberwind am Dach rütteln; schon war es eine Gewohnheit geworden, daß er vor dem Einschlafen eine ganze Weile so lag und der Schlaf nicht kam. Leise sprach er, wie es am Abend seine Gewohnheit war, ein Marienlied in sich hinein:
Tota pulchra es, Maria,
et macula originalis non est in te.
Tu laetitia Israel,
tu advocata peccatorum!
Mit seiner sanften Musik sank das Lied in seine Seele, zugleich aber sang draußen der Wind, sang von Unfriede und Wanderung, vom Wald, vom Herbst, vom Leben der Heimatlosen. Er dachte an Lydia und dachte an Narziß und an seine Mutter, voll und schwer war sein unruhiges Herz. Da schreckte er auf und starrte ungläubig: die Kammertür war aufgegangen, im Dunkeln kam eine Gestalt im langen weißen Hemde herein, lautlos kam Lydia mit bloßen Füßen über die Steinfliesen hereingegangen, schloß sachte die Tür und setzte sich auf sein Lager.
»Lydia«, flüsterte er, »mein Rehlein, meine weiße Blume! Lydia, was tust du?«
»Ich komme zu dir«, sagte sie, »bloß für einen Augenblick. Ich will doch einmal sehen, wie mein Goldmund in seinem Bettlein liegt, mein Goldherz.«
Sie legte sich zu ihm, still lagen sie, mit schweren schlagenden Herzen. Sie ließ ihn küssen, sie ließ seine bewundernden Hände an ihren Gliedern spielen, mehr war nicht erlaubt. Nach einer kurzen Weile streifte sie seine Hände sanft von sich, küßte ihn auf die Augen, stand lautlos auf und verschwand. Die Tür knarrte, im Dachstuhl klirrte und drückte der Wind. Alles war verzaubert, voll Geheimnis, voll Bangigkeit, voll Versprechen, voll Drohung. Goldmund wußte nicht, was er denke, was er tue. Als er nach einem unruhigen Schlummer wieder erwachte, war sein Kissen naß von Tränen.
Sie kam nach einigen Tagen wieder, das süße weiße Gespenst, und lag eine Viertelstunde bei ihm, wie das letztemal. Flüsternd sprach sie, von seinen Armen umschlossen, ihm ins Ohr, sie hatte viel zu sagen und zu klagen. Zärtlich hörte er ihr zu, sie lag auf seinem linken Arm, mit der rechten Hand streichelte er ihre Knie.
»Goldmündchen«, sagte sie, mit ganz gedämpfter Stimme dicht an seiner Wange, »es ist so traurig, daß ich nie werde dir gehören dürfen. Es wird nicht lang mehr dauern, unser kleines Glück, unser kleines Geheimnis. Julie hat schon Verdacht, bald wird sie mich zwingen, es ihr zu sagen. Oder der Vater merkt es. Wenn er mich bei dir im Bett fände, mein kleiner Goldvogel, dann ginge es deiner Lydia übel; sie stünde mit verweinten Augen und blickte zu den Bäumen hinauf und sähe ihren Liebsten droben hangen und im Winde wehen. Ach du, lauf lieber fort, lieber jetzt gleich, statt daß der Vater dich binden und aufhängen läßt. Ich habe schon einmal einen hängen sehen, einen Dieb. Ich kann dich nicht hängen sehen, du, lauf lieber davon und vergiß mich; daß du nur nicht sterben mußt, Göldchen, daß nur in deine blauen Augen nicht die Vögel hacken! Aber nein, du Schatz, du darfst nicht fortgehen – ach, was mache ich, wenn du mich allein läßt.«
»Willst du denn nicht mit mir kommen, Lydia? Wir fliehen miteinander, die Welt ist groß!«
»Das wäre sehr schön«, klagte sie, »ach wie schön, mit dir durch die ganze Welt zu laufen! Aber ich kann nicht. Ich kann nicht im Walde schlafen und heimatlos sein und Strohhalme in den Haaren haben, ich kann das nicht. Ich kann auch dem Vater nicht die Schande machen. – Nein, rede nicht, es sind keine Einbildungen. Ich kann nicht! Ich könnte es sowenig, als ich aus einem schmutzigen Teller essen oder im Bett eines Aussätzigen schlafen könnte. Ach, uns ist alles verboten, was gut und was schön wäre, wir beide sind zum Leid geboren. Göldchen, mein armer kleiner Junge, ich werde dich am Ende doch müssen hängen sehen. Und ich, ich werde eingesperrt und dann in ein Kloster geschickt. Liebster, du mußt mich verlassen und wieder bei den Zigeunerinnen und Bauernweibern schlafen. Ach geh, geh, ehe sie dich fangen und binden! Nie werden wir glücklich sein, nie.«
Er streichelte sachte ihre Knie, und indem er ganz zart ihre Scham berührte, bat er: »Blümchen, wir könnten so sehr glücklich sein! Darf ich nicht?«
Sie drängte ohne Unwillen, aber mit Kraft seine Hand beiseite und rückte etwas von ihm weg. »Nein«, sagte sie, »nein, das darfst du nicht. Es ist mir verboten. Du kleiner Zigeuner verstehst das vielleicht nicht. Ich tue ja unrecht, ich bin ein schlechtes Mädchen, ich mache dem ganzen Haus Schande. Aber irgendwo in meiner Seele drinnen bin ich doch noch stolz, dort darf niemand hineinkommen. Du mußt mir das lassen, sonst kann ich nie mehr zu dir in die Kammer kommen.«