Nach der Mahlzeit zog Julie sich zurück, es war längst Nacht, mit ihrer Kerze im irdenen Leuchter verließ sie den Söller, kühl wie eine kleine Klosterfrau. Die andern saßen noch eine Stunde auf, und während die beiden Männer von der Ernte, vom Kaiser und Bischof sprachen, hörte Lydia glühend zu, wie zwischen Goldmund und der Dame ein lässiges Geplauder über nichts gesponnen wurde, zwischen dessen lockeren Fäden aber ein dichtes, süßes Netz von Hin und Her, von Blicken, von Betonungen, von kleinen Gebärden entstand, deren jede mit Bedeutung überladen, mit Wärme überheizt war. Das Mädchen sog die Atmosphäre mit Lüsternheit und auch mit Abscheu ein, und wenn sie sah oder fühlte, wie Goldmunds Knie unterm Tisch das der Fremden berührte, empfand sie die Berührung am eigenen Leibe und zuckte auf. Nachher schlief sie nicht und horchte die halbe Nacht mit Herzklopfen, überzeugt, daß die beiden zusammenkommen würden. Sie vollzog, was jenen versagt war, in ihrer Einbildung, sie sah die beiden sich umschlingen, hörte ihre Küsse, dabei zitterte sie zugleich vor Erregung, indem sie ebenso fürchtete wie wünschte, es möge der hintergangene Ritter die Liebenden überraschen und dem scheußlichen Goldmund sein Messer ins Herz stoßen.
Andern Morgens war der Himmel bezogen, es ging ein feuchter Wind, und der Gast, alle Einladungen zu längerem Bleiben abwehrend, drang auf raschen Aufbruch. Lydia stand dabei, als die Gäste zu Pferde stiegen, sie drückte Hände und sprach Abschiedsworte, aber sie wußte nichts davon, alle ihre Sinne waren in dem Blick, mit dem sie zusah, wie die Rittersfrau beim Aufsteigen ihren Fuß in Goldmunds dargebotene Hände setzte, und wie seine Rechte breit und fest um den Schuh griff und den Frauenfuß einen Augenblick kräftig umspannte.
Die Fremden waren weggeritten, Goldmund mußte m die Schreibstube und arbeiten. Nach einer halben Stunde hörte er unten Lydias befehlende Stimme, hörte ein Pferd vorführen, sein Herr trat ans Fenster und schaute hinab, lächelnd und kopfschüttelnd, dann sahen sie beide Lydia nach, wie sie aus dem Hofe ritt. Sie kamen heute weniger vorwärts in ihrer lateinischen Schriftstellerei, Goldmund war zerstreut; freundlich entließ ihn sein Herr, früher als sonst.
Unbemerkt brachte Goldmund sich und sein Pferd aus dem Hofe, dem kühlfeuchten Herbstwind entgegen ritt er in die verfärbte Landschaft, rascher und rascher trabend fühlte er das Pferd unter sich warm werden und sein eigenes Blut sich befeuern. Über Stoppelfelder und Brachland, über Heide und über Moorstellen, mit Schachtelhalm und Riedgras bewachsen, ritt er aufatmend durch den grauen Tag, durch kleine Erlentäler, durch modrigen Fichtenwald, und wieder über bräunliche leere Heide.
Auf einem hohen Hügelkamm, scharf gegen den lichtgrauen Wolkenhimmel, entdeckte er Lydias Gestalt, hoch saß sie auf langsam trabendem Pferd. Er stürmte zu ihr; kaum sah sie sich verfolgt, trieb sie ihren Gaul an und floh davon. Bald verschwand sie, bald war sie sichtbar mit wehenden Haaren. Wie einer Beute jagte er ihr nach, sein Herz lachte, mit kleinen zärtlichen Rufen ermunterte er sein Pferd, las mit frohen Augen im Hinfliegen die Kennzeichen der Landschaft ab, die hingeduckten Felder, das Erlengehölz, die Ahorngruppen, die lehmigen Ufer der Tümpel, ließ immer wieder den Blick zu seinem Ziel zurückkehren, der schönen Fliehenden. Bald mußte er sie erreichen. Als Lydia ihn nahe wußte, gab sie die Flucht auf und ließ das Tier im Schritt gehen. Sie wandte sich nicht nach dem Verfolger um. Stolz, scheinbar gleichmütig ritt sie vor sich hin, als wäre nichts gewesen, als wäre sie allein. Er trieb sein Pferd neben ihres, dicht nebeneinander schritten friedlich die beiden Rosse, aber Tier und Reiter waren erhitzt vom Jagen.
»Lydia!« rief er leise. Sie gab keine Antwort.
»Lydia!«
Sie blieb stumm.
»Wie schön war das, Lydia, dich von fern reiten zu sehen, wie ein goldener Blitz flog dein Haar hinter dir her. Wie schön war das! Ach, wie wunderbar, daß du vor mir geflohen bist! Da sah ich erst, daß du mich ein wenig liebhast. Ich hatte es nicht gewußt, noch gestern abend war ich im Zweifel. Erst da, als du mir zu entfliehen versucht hast, habe ich plötzlich verstanden. Schöne, Liebe, du mußt müde sein, laß uns absteigen!«
Er sprang rasch vom Pferde und faßte im selben Augenblick ihre Zügel, daß sie nicht nochmals ausrisse. Schneeweiß blickte ihr Gesicht zu ihm herab, und als er sie vom Pferde hob, brach sie in Weinen aus. Behutsam führte er sie ein paar Schritte, ließ sie ins verdorrte Gras niedersitzen und kniete neben ihr. Da saß sie und kämpfte mit dem Schluchzen, tapfer kämpfte sie und wurde Herr darüber.
»Ach, daß du so schlecht bist!« fing sie an, als sie sprechen konnte. Kaum brachte sie die Worte heraus.
»Bin ich so schlecht?«
»Du bist ein Frauenverführer, Goldmund. Laß mich vergessen, was du mir da vorher gesagt hast, es waren unverschämte Worte, es ziemt sich nicht für dich, so mit mir zu reden. Wie kannst du glauben, ich hätte dich lieb? Laß uns das vergessen! Aber wie soll ich vergessen, was ich gestern abend habe sehen müssen?«
»Gestern abend? Was hast du denn da gesehen?«
»Ach, tu nicht so, lüge doch nicht so! Es war gräßlich und schamlos, wie du da vor meinen Augen dieser Frau schön getan hast! Hast du denn keine Scham? Sogar das Bein hast du ihr gestreichelt, unterm Tisch, unter unserem Tisch! Vor mir, vor meinen Augen! Und jetzt kommst du, wo sie fort ist, und stellst mir nach! Du weißt wirklich nicht, was Scham ist.«
Goldmund hatte längst schon die Worte bereut, die er ihr gesagt hatte, ehe er sie vom Pferd holte. Wie dumm war das gewesen, Worte waren in der Liebe entbehrlich, er hätte schweigen sollen.
Er sagte nichts mehr. Er kniete neben ihr, und da sie ihn so schön und unglücklich ansah, steckte ihr Leid ihn an; er fühlte selbst, daß da etwas zu beklagen war. Aber trotz allem, was sie da gesagt hatte, sah er in ihrem Auge doch Liebe, und auch der Schmerz auf ihren zuckenden Lippen war Liebe. Er glaubte ihrem Auge mehr als ihren Worten. Aber sie hatte eine Antwort erwartet. Da sie nicht kam, machte Lydia ihre Lippen noch herber, sah ihn aus den etwas verweinten Augen an und wiederholte: »Hast du denn wirklich keine Scham?«
»Verzeih«, sagte er demütig, »wir sprechen da von Sachen, über die man nicht sprechen sollte. Es ist meine Schuld, verzeih mir! Du fragst, ob ich keine Scham habe. Ja, Scham habe ich wohl. Aber ich habe dich doch lieb, du, und die Liebe weiß nichts von Scham. Sei nicht böse!«
Sie schien kaum zu hören. Sie saß und machte diesen bitteren Mund und blickte darüber weg in die Ferne, als wäre sie ganz allein. Nie war er in einer solchen Lage gewesen. Es kam vom Sprechen.
Sanft legte er sein Gesicht auf ihr Knie, und sogleich tat die Berührung ihm wohl. Doch war er etwas ratlos und traurig, und auch sie schien noch immer traurig zu sein, sie saß regungslos, schwieg und sah ins Weite. Wieviel Verlegenheit, wieviel Traurigkeit! Aber das Knie nahm das Anschmiegen seiner Wange freundlich an, es wies ihn nicht zurück. Mit geschlossenen Augen lag sein Gesicht auf ihrem Knie, langsam nahm es dessen edle, lange Form in sich auf. Goldmund dachte mit Freude und Rührung, wie sehr dies Knie in seiner vornehmen und jugendlichen Form ihren langen, schönen, straff gewölbten Fingernägeln entspreche. Dankbar schmiegte er sich an das Knie, ließ Wange und Mund mit ihm sprechen.
Jetzt spürte er ihre Hand, die sich zaghaft und vogelleicht auf sein Haar legte. Liebe Hand, fühlte er und spürte, wie sie leise und kindlich sein Haar streichelte. Ihre Hand hatte er oft schon genau betrachtet und bewundert, er kannte sie beinah wie seine eigene, die langen schlanken Finger mit den langen, schön gewölbten, rosigen Hügeln der Fingernägel. Nun sprachen die langen zarten Finger schüchtern mit seinen Locken. Ihre Sprache war kindlich und bange, aber sie war Liebe. Dankbar schmiegte er seinen Kopf in ihre Hand, fühlte mit dem Nacken, mit den Wangen ihre Handfläche.
Da sagte sie: »Es ist Zeit, wir müssen fort.«
Er hob den Kopf und sah sie zärtlich an, sanft küßte er ihre schlanken Finger.
»Bitte, steh auf«, sagte sie, »wir müssen nach Haus.«
Er gehorchte sofort, sie standen auf, sie stiegen auf ihre Pferde, sie ritten.
Goldmunds Herz war voll Glück. Wie schön war Lydia, wie kindlich rein und zart! Noch nicht einmal geküßt hatte er sie, und war doch so beschenkt und von ihr erfüllt. Sie ritten scharf, und erst bei der Heimkehr, dicht vor der Einfahrt des Hofes, erschrak sie und sagte: »Wir hätten nicht beide zugleich ankommen sollen. Wie töricht wir sind!« Und noch im letzten Augenblick, als sie von den Pferden stiegen und schon ein Reitknecht gelaufen kam, flüsterte sie ihm rasch und glühend ins Ohr: »Sag mir, ob du heut nacht bei diesem Weib gewesen bist!« Er schüttelte den Kopf viele Male und machte sich daran, das Pferd abzuzäumen.
Am Nachmittag, als ihr Vater ausgegangen war, fand sie sich in der Schreibstube ein.
»Ist es auch wahr?« fragte sie sofort mit Leidenschaft, und er wußte alsbald, was sie meinte.
»Warum hast du dann so mit ihr gespielt, so abscheulich, und sie verliebt gemacht?«
»Es galt dir«, sagte er. »Glaube mir, tausendmal lieber hätte ich deinen Fuß gestreichelt als den ihren. Aber nie ist dein Fuß unterm Tisch zu mir gekommen und hat mich gefragt, ob ich dich liebhabe.«
»Hast du mich wirklich lieb, Goldmund?«
»O ja.«
»Aber was soll daraus werden?«
»Ich weiß es nicht, Lydia. Es kümmert mich auch nicht. Es macht mich glücklich, dich zu lieben – was daraus werden wird, daran denke ich nicht. Ich bin froh, wenn ich dich reiten sehe, und wenn ich deine Stimme höre, und wenn deine Finger mir das Haar streicheln. Ich werde froh sein, wenn ich dich küssen darf.«
»Man darf nur seine Braut küssen, Goldmund. Hast du daran nie gedacht?«
»Nein, ich habe nie daran gedacht. Warum sollte ich? Du weißt so gut wie ich, daß du nicht meine Braut werden kannst.«
»So ist es. Und weil du nicht mein Mann werden und immer bei mir bleiben kannst, darum war es sehr unrecht von dir, mir von Liebe zu sprechen. Hast du geglaubt, daß du mich verführen könntest?«
»Ich habe nichts geglaubt und gedacht, Lydia, ich denke überhaupt viel weniger, als du meinst. Ich wünsche nichts, als daß du mich einmal küssen möchtest. Wir sprechen so viel. Liebende tun das nicht. Ich glaube, du hast mich nicht lieb.«
»Heut morgen hast du das Gegenteil gesagt.«
»Und du hast das Gegenteil getan!«
»Ich? Wie meinst du das?«
»Zuerst bist du vor mir davongeritten, als du mich kommen sahst. Da glaubte ich, du liebest mich. Dann hast du weinen müssen, und ich glaubte, es sei, weil du mich liebhättest. Dann lag mein Kopf auf deinem Knie, und du hast mich gestreichelt, und ich glaubte, das sei Liebe. Aber jetzt tust du nichts Liebes mit mir.«