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»Grüß dich, Kirill«, rief sie und sah abschätzig zu Herbert. Natascha mochte die Hirnamputierten nicht. »Hast du etwas zu tun?«

»Nein.« Ich klappte schnell meinen Laptop zu. Nataschas Stimme schien so… viel versprechend. So, als ob sie etwas Gutes erfahren hätte.

»Na dann, komm mit!«, erwiderte Natascha und verschwand im Korridor.

»Ich habe versprochen, ihr auch zu helfen… in Mathematik«, flunkerte ich Herbert vor.

»In Ordnung. Auf Wiedersehen!« Herbert rieb sich die Stirn und schaute angestrengt auf den Bildschirm. Warum hatte ich nur gelogen? Ihm war doch egal, ob ich mit Natascha Mathematik lernte oder mit ihr in einer dunklen Ecke herumknutschte.

Also, das mit dem Herumknutschen spukte nur in meiner Phantasie herum. Erstens schien Natascha vergessen zu haben, dass wir uns in den Bergen geküsst hatten. Zweitens stand sie nicht allein im Korridor, sondern mit einem Mädchen ihres Alters.

»Elli«, stellte Natascha das Mädchen vor. Ich kannte sie nicht. Sie kam sicherlich jemanden besuchen. Das gab es zwar nicht oft, kam aber vor.

»Kirill«, nannte ich meinen Namen. Der fremde Name gefiel mir nicht, aber das war nicht zu ändern.

Elli hatte rote Haare, war dünn und lächelte ständig. Sie war sympathisch, nur dass ihre Augen sehr frech und schadenfroh blitzten. Sie trug Hosen und Pullover wie Natascha. Elli gab mir zur Begrüßung die Hand und fragte Natascha:

»Wohin?«

»In den Garten«, schlug Natascha vor.

Es sah ganz so aus, als ob wir über etwas Geheimes reden würden.

WederNataschasDetektorarmbandnochmein Schlangenschwert hatten im Heim Überwachungsanlagen gefunden. Trotzdem bemühten wir uns, alle wichtigen Gespräche draußen zu führen.

Wir gingen durch den Korridor zum Ausgang. Der Wächter saß in seinem Kämmerchen, nackt bis zur Gürtellinie, ließ seine Muskeln spielen und schaute sich bewundernd an. Uns warf er kurz zu: »Draußen regnet es, nehmt einen Schirm!«

Die Schirme in einem Schränkchen an der Tür waren für alle. Ich nahm einen großen Familienschirm mit anderthalb Metern Durchmesser, schob den Reifen über meinen Kopf, setzte ihn auf und zog die Antenne höher. Die Akkus waren fast leer, aber wir wollten uns ja nicht lange draußen aufhalten.

Es regnete wirklich. Der Regen fiel leise, fast lautlos. Der Schirm schaltete sich ein und über meinem Kopf klopften die Regentropfen an ein unsichtbares Hindernis, wobei sie eine Kuppel nachzeichneten. Die Mädchen drängten sich sofort an meine Seite und hakten sich unter. Ich störte mich nicht daran. Ich stand da und schaute in den von Wolken bedeckten Nachthimmel, aus dem der Regen fiel.

Eigentlich war es warm. Aber dieser feine Nieselregen brachte eine ungewohnte Kälte mit sich. Ein komischer Regen.

»Der Herbst beginnt«, sagte Natascha leise. »Der Herbstregen…«

Stimmt! Das war es also! Das war ja mein erster richtiger Herbst! Auf Karijer wechselten die Jahreszeiten fast unmerklich, auf Neu-Kuweit landete ich im Sommer und auf dem Avalon im Winter.

Und jetzt begann auf Neu-Kuweit der Herbst.

»Schneit es hier?«, erkundigte ich mich.

»Nein, wohl kaum«, erwiderte Natascha.

»Hier ist ein anderes Klima, der Winter ist regnerisch und kühl. Etwas über null Grad. Das ist gut, unsere Leute in den Bergen haben es auch so schon schwer.«

Erschreckt sah ich zu Elli.

»Sie gehört zu uns, zum Widerstand«, beruhigte mich Natascha.

»Hm.« Elli lächelte. »Du bist doch Tikkirej, stimmt’s?«

»Ja.«

»Und ich bin wirklich Elli.«

Wir gingen weiter in den Garten hinaus, bis wir zu einem schiefen Holzpavillon kamen. Daneben leuchtete matt eine Laterne, und es war gut zu übersehen, dass niemand in der Nähe war.

»Hier ist der passende Platz für ein Gespräch«, entschied Elli. Sie gab sich sehr selbstbewusst, als ob sie die Hauptperson wäre.

Wir gingen in den Pavillon und setzten uns auf eine Bank. Der Schirm analysierte die Situation und schaltete sich aus. Dabei überschüttete er uns mit Wassertropfen. Elli lachte.

»Blöde Technik«, meinte ich.

»Jede Technik ist blöd«, stimmte Elli zu. »Ist bei euch alles in Ordnung, Tikkirej?«

»Ja. Und wer bist du?«

»Ich komme vom Avalon.«

»Beweise es!«, forderte ich. Nicht, dass ich es nicht glaubte, mir missfiel jedoch, das sie so herumkommandierte.

»Einen schönen Gruß von Ramon.«

Ich nickte. Wirklich, sie kann ja wohl kaum Dokumente bei sich führen.

»Alles klar. Wie geht es Tien?«

»Tien? Gut. Berichte von Anfang an, Tikkirej!«

Mir gefiel dieses Wort nicht. »Berichte« … Ein Mädchen, ein »Gepäckstück«, aber rumkommandieren…

»Wir sind wie vorgesehen gelandet. Die Kapsel ist getaut, alles wie geplant. Wir entschlossen uns, im See zu baden, dort haben uns die ›Schrecklichen‹ gefangen genommen.«

Natascha lächelte stolz.

»Wir verbrachten einen Tag bei ihnen«, fuhr ich fort. »Aber Natascha kann das besser erzählen!«

»Vorerst berichtest du!«, verfügte Elli.

»Dann brachte uns Natascha mit einem Jetski nach Mendel. Wir hielten ein Auto an und wurden zum Motel mitgenommen. So kamen wir zu Lions Eltern… Und die schickten uns am nächsten Tag in das College Pelach. Ich hatte mich schon gewundert über diese Wohltätigkeit, dort war alles vom Feinsten…«

»Das ist bekannt. Weiter!«

»Am Abend schlich sich Natascha ins College. Sie berichtete, dass sich das Ministerium für Verhaltenskultur für uns interessierte. Am Morgen sind wir dann abgehauen und Natascha hat uns hierhergeführt. Und so verstecken wir uns hier schon den vierten Tag.«

Elli nickte.

»Alles klar. Konntet ihr irgendetwas Wichtiges erfahren?«

»Na ja…« Ich wand mich. »Uns kommt es so vor, als ob Inej das Imperium provozieren würde. Wenn die Armee zuschlägt, dann hofft Inej auf die Hilfe der Fremden. Sicher gibt es eine geheime Übereinkunft, mit den Halflingen zum Beispiel.«

»Ich verstehe.« Elli dachte nach. »Wahrscheinlich kommt der Imperator auch von selbst darauf. Aber hat er etwa eine andere Wahl?«

»Ich weiß nicht«, nuschelte ich. Irgendwie gefiel mir Elli gar nicht mehr.

»Ich weiß auch nicht.« Elli erhob sich und trommelte mit ihren Fingern an den Pfeiler des Pavillons. Ganz wie eine erwachsene seriöse Frau und gar nicht mädchenhaft. »Die Zeit arbeitet für Inej. Die Bevölkerung schließt sich zusammen, sogar diejenigen, die ohne Kodierung geblieben sind. Es werden neue Raumschiffe gebaut. Und im Imperium tauchen nach und nach neue Kodierte auf.«

»Wie das denn?«, wunderte ich mich. »Bei allen sind doch die Radioshunts ausgeschaltet!«

»Viele nutzen die Shunts trotzdem. Um sich Fernsehserien anzuschauen oder für die Arbeit. Und das initiierende Signal kann auch über das normale Netz gegeben werden, man muss lediglich in das Netz eindringen.«

Ich verstand. Und wirklich, wenn Inej auch jetzt nicht in der Lage war, die Planeten im Handstreich zu erobern, nach und nach wäre das durchaus möglich: Ein einziger Agent könnte auf den Planeten eindringen, ein beliebiges Informationsnetz anzapfen und darüber das Codesignal senden… Und schon hätten wir Hunderte und Tausende Hirnamputierte.

»Das ist ungünstig«, äußerte ich. Ich fühlte mich hilflos und unwohl. »Und was wird nun der Imperator machen?«

»Auch ich denke darüber nach, was er machen wird.« Sie seufzte. »Aber gut. Wir sollten uns besser unserer Aufgabe zuwenden.«

»Tja, wir sind bereit…«, begann ich unsicher. »Zu allem, was befohlen wird. Sollen wir vielleicht zu den Partisanen gehen?«

»Das glaube ich nicht.« Elli musterte mich. »Hast du eine Waffe?«

»Eine Peitsche«, bekannte ich.

»Oho!« Elli war sichtlich erstaunt. »Das wusste ich nicht. Eine Peitsche dürfen doch nur Phagen besitzen?«

»Ja, aber ich habe den Status eines Helfers. Und die Peitsche… ist eigentlich ausgemustert. Damit kann man nicht besonders kämpfen.«

»Aber ein, zwei Leute kann man töten?«

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