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Sofort war alles anders. Grau. Wie durch Rauchglas gefiltert. Das bedeutet also, Sjan Tien wurde gefasst? Und wird hingerichtet?

Aber das konnte er doch nicht gemacht haben, das stimmte nicht!

»Geht nicht auf den Platz, Jungs«, riet uns der Fahrer. »Das ist nichts für euch.«

»Wir werden nicht hingehen«, versprach Lion.

Er schaute mich an.

In der Ferne sah man schon die Hochhäuser von Agrabad, verschiedenfarbig, halb himmelblau, halb dottergelb, festlich und stolz.

»Natürlich gehen wir nicht hin«, bestätigte ich. »Da, sehen Sie, rechts am Weg ist das Motelzeichen. Wir steigen dort aus!«

Es war alles wie früher. Genauso grün und warm, Häuschen und Zelte, einige Menschen, die ihren Grill vorbereiteten. Im Bungalow mit der Aufschrift »Check-in« war die Tür geöffnet. Daraus klang fröhliches Lachen. Lion und ich schauten uns an und gingen hinein.

Am Tisch saß das nette Mädchen. Ich erkannte sie sofort wieder. Sie war es, die vor einem Monat so nett zu mir war. Ich dachte, dass sie mit jemandem sprach, aber sie war allein. Sie lachte über ein Buch, ein echtes aus Papier. Als wir hineinkamen, schaute uns das Mädchen lächelnd an, nickte und vertiefte sich wieder ins Buch. Aber sofort schaute sie mich aufmerksam an und rief:

»Tikkirej! Du bist der kleine Tikkirej, der seit einem Monat verschollen ist!«

»Ich bin nicht klein!«, protestierte ich.

Das Mädchen schaute beschämt.

»Entschuldige bitte, so haben wir dich in unseren Gesprächen genannt. Natürlich bist du nicht klein. Und du — bist Lion? Du hast auch bei uns gewohnt, mit deinen Eltern?«

Lion nickte ebenfalls und wartete ungeduldig auf die nächsten Worte. Aber das Mädchen interessierte etwas anderes.

»Mein Gott, wo wart ihr denn, Jungs? Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Euch überall gesucht, den Wald durchkämmt, den See. Was wir uns nicht alles ausgemalt haben!«

Ich hatte den Eindruck, dass sie nicht log. Dass sich wirklich alle hier auf die Suche nach uns gemacht hatten.

Wir jedoch mussten lügen.

»Damals, in der Nacht…«, begann ich, »alle waren eingeschlafen und wir hatten Angst… Lion war gerade bei mir, heimlich wegen der Eltern, wir wollten spielen. Da war so ein Kapitän, er wohnte im Nachbarhaus und war auch nicht eingeschlafen. Er sah uns und schrie, dass der Planet überfallen worden wäre und wir in den Wald laufen sollten. Er nahm uns in seinem Auto mit bis zum Wald, er hat uns herausgelassen und ist selbst in die Hauptstadt weitergefahren… Und wir haben im Wald gelebt.«

Das Mädchen schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»Jungs… Was sagt ihr da? Man glaubt, dass das ein Verrückter war, ein Mörder! In seinem Zimmer fand man einen ermordeten Polizisten! Mein Gott, dass ihr davongekommen seid!«

»Ich habe es dir doch gleich gesagt!«, schrie mich Lion an und stieß mich schmerzhaft in die Seite. »Er war irgendwie eigenartig, seine Augen waren böse! Gut, dass wir ausgestiegen sind! Er hätte uns in Stücke gerissen!«

»Du bist ja selbst ins Auto eingestiegen!«, wandte ich lautstark ein.

Wir hatten einige dieser Stücke vorbereitet. Es war von Anfang an klar, dass Stasj erwähnt werden musste. Der Agent des Inej hatte ihn beobachtet und seinen Vorgesetzten sicherlich mitgeteilt, wer Stasj war.

»Dann bin ich eben eingestiegen«, wiegelte Lion ab und schien sich zu beruhigen. Erwartungsvoll sah er das Mädchen an. »Sagen Sie bitte, meine Eltern, wo sind sie?«

»Dein Vater ist in die Stadt gefahren«, erwiderte das Mädchen. »Und Missis Anabell und die Kleinen… Du hast ein Brüderchen und ein Schwesterchen, stimmt’s? Sie sind hier. Im selben Cottage. Deine Mutter wollte nicht umziehen, ehe du nicht gefunden bist.«

Sie sah nur noch Lions Rücken, so schnell flitzte er aus dem Foyer.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Er hat sich sehr nach seinen Eltern gesehnt.«

»Und deine Eltern sind auf einem anderen Planeten geblieben, ja?«, fragte das Mädchen.

Ich nickte. »Ja. Sie sind auf einem anderen Planeten geblieben. Ich gehe jetzt. Auf Wiedersehen.«

»Ich heiße Anna.« Das Mädchen lächelte. »Wenn du möchtest, Tikkirej, kannst du in dein ehemaliges Häuschen ziehen. Es ist frei. Übrigens, vor kurzem kam ein Brief vom Ministerium für Migration.«

»Ich… ich hole ihn nachher ab«, murmelte ich und sprang ins Freie.

Lion konnte ich kurz noch sehen — er stürzte gerade durch die Tür seines Cottage.

Wie Lion wohl von seiner Mutter aufgenommen würde? Sie war doch ebenfalls durch Inej zum Zombie geworden…

»Idiot!«, beschimpfte ich mich selbst. »Sie ist trotzdem eine Mutter!« Ich bekam auch einige Zuwendung von Missis Anabell ab. Natürlich viel weniger als Lion. Die Mutter versuchte ihn sogar zu baden — Lion musste sich mit den Händen im Türrahmen verbarrikadieren und schreien, dass seine Mutter nicht ins Bad kommen solle. Trotzdem umarmte Missis Anabell auch mich und Tränen traten ihr in die Augen, als sie sah, wie »dünn und zerkratzt« ich doch war. Danach gab sie mir ein großes Stück Fleischpastete. Im Haus begann ein totales Durcheinander. Lions kleiner Bruder begann zu brüllen, weil er ihn inzwischen vergessen hatte und nicht glauben wollte, dass das sein Bruder sei. Das Schwesterchen wiederum forderte weinerlich, dass Lion so schnell wie möglich aus dem Badezimmer kommen sollte und hämmerte mit den Fäusten an die Tür. Missis Anabell schwirrte in der Küche umher, stellte etwas in die Mikrowelle, schaltete die Backröhre ein, rief ihren Ehemann an, danach etliche Freundinnen und berichtete allen, dass sich ihr Sohn wieder eingefunden hätte. Ich ging leise auf die Veranda und setze mich auf das von der Sonne aufgeheizte Geländer. Kurz darauf erschien Lions Brüderchen. Er hatte aufgehört zu weinen, setzte sich möglichst weit von mir entfernt auf den Fußboden und begann mit seinen Autos zu spielen. Ich schaute ihm zu und grübelte darüber nach, warum Lions Eltern total normal geblieben waren. Ihnen war nichts Schlimmes widerfahren. Vielleicht war Inej auch gar nicht so schlimm — sie hatten halt alle einen Hau weg wegen des Imperiums. Aber in allen anderen Belangen verhielten sich die Leute normal.

»Peng, peng!«, spielte Lions Bruder und ließ die Autos zusammenstoßen. In seiner Phantasie waren das offensichtlich gar keine Autos, sondern Kampfraumschiffe.

»Da hast du es, du verfluchter Imperier… Frau Präsident, der Auftrag ist ausgeführt…«

Aha, also hat man auch schon die Kleinsten manipuliert… Na und? Im übrigen Imperium spielen die Kinder auch Krieg, nur dass bei ihnen die Armee des Imperiums siegt.

»Zu Befehl, Oberkommandierende!«, rief der Junge. »Der Feind wird vernichtet!«

Er erhob sich, warf ein Auto auf den Fußboden und fing an, es kräftig mit seinen Füßen zu bearbeiten. Zuerst dachte ich, dass er wegen Lions Auftauchen so überdreht wäre und erneut in Schreie, Tränen und Geheul ausbrechen würde. Bei Kleinen passiert das manchmal, besonders, wenn sie sehr verwöhnt sind.

Er hatte aber überhaupt nicht vor zu weinen oder zu schreien.

Er zertrampelte das Auto. Unnachgiebig und konzentriert wie ein Erwachsener. Trat mit seinem kleinen Füßchen in der winzigen Sandale, stampfte ununterbrochen auf das Plastikgehäuse. Das Spielzeug war stabil, der Konstrukteur kannte sich offenbar mit ungezogenen Kindern aus. Die Erwachsenen erwarteten jedoch nicht, dass kleine Kinder so ausdauernd sein könnten. Er stampfte und trat, schnaufte vor Anstrengung, drehte das Auto um, als es in die Ecke rutschte und trat abwechselnd mit Ferse und Fußspitze zu.

Endlich zersplitterte das Gehäuse und zerfiel in kleine, runde Stücke. Es war ein spezieller Sicherheitskunststoff für Kinderspielzeuge. Daraufhin setzte sich der Kleine wieder auf den Fußboden und wollte seine Sandalen ausziehen.

Ich sprang vom Geländer, setzte mich neben ihn und half ihm dabei.

»Mein Fuß tut weh«, sagte der Kleine, wobei er mich böse anschaute und seine Ferse rieb.

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