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Lion starrte mich an.

»Soll ich die Wahrheit sagen?«, fragte ich. »Damit Lion die Möglichkeit hat, dorthin zu kommen.«

»Und was hat Lion davon?«

»Dort sind doch meine Eltern!«, mischte sich Lion ein. »Geht das? Ist es möglich auf Neu-Kuweit zu gelangen? Der Planet ist doch in Quarantäne, oder nicht?«

Stasj erwiderte zunächst nichts. Dann fing er an zu sprechen, wobei er seine Worte sorgsam wählte: »Lion, ich verstehe deine Erregung und deine Sehnsucht nach deinen Eltern. Aber glaub mir, auf den von Inej eroberten Planeten gibt es weder Massenverhaftungen noch Blutbäder unter der Bevölkerung. Und auch keine Repressionen…«

»Wovor sollten wir uns dann fürchten?«, fragte Lion.

Und ich fügte hinzu: »Stasj, stell dir vor, du wärst dreizehn Jahre alt. Und deine Eltern wären irgendwo auf einem anderen Planeten… Und du könntest dorthin gelangen…«

Der »Dunaj« fuhr gemächlich über die Straßen, die Automatik hatte die am wenigsten befahrene Strecke gewählt, vorbei an erleuchteten Gebäuden, luxuriösen Büros, Hochstraßen — und Stasj’ Gesicht erschien ungewöhnlich weich vor dieser Kulisse.

»Die Mehrzahl der Phagen hat überhaupt keine Eltern, Tikkirej. Aber ich hatte einen Vater. Er verschwand während einer Mission auf dem… auf einem kleinen Planeten. Ich war da gerade elf Jahre alt und schon damals hätte ich ein Raumschiff entführen und einen Rettungsversuch unternehmen können. Aber mir war völlig klar, dass ich keine Chance hatte. Und ich blieb auf Avalon, um meine Ausbildung fortzusetzen.«

Er schwieg eine Zeit lang und ergänzte dann:

»Du könntest nun sagen, dass ich ihn nicht geliebt habe. Aber das wäre falsch.«

»Ich glaube dir, Stasj.« Ich fühlte plötzlich einen Kloß im Hals. »Du hast aber doch selber gesagt… dass unsere Zivilisation viel zu vernünftig und logisch sei. Das hast du bemängelt. Und meine Eltern… gerade sie haben immer richtig und logisch gehandelt. Anders wäre es nicht gegangen. Aber ich werde sie nun nie mehr wiedersehen… Es gibt sie nicht mehr. Und wenn wir jetzt wieder logisch handeln würden, dann wird auch Lion seine Eltern nicht wiedersehen. Vielleicht gibt es Krieg und er wird auf seinen kleinen Bruder schießen…«

»Das werde ich nicht!«, ereiferte sich Lion.

»Aber er wird schießen!«, schrie ich und wandte mich zum Fenster.

Stasj äußerte sich nicht sofort.

»Tikki, ich verstehe dich«, sagte er dann. »Weißt du, ich bin doch überhaupt nicht dagegen, dass Lion nach seinen Eltern sucht. Und es wäre gut, wenn du uns auf Neu-Kuweit helfen könntest…«

Er verstummte.

»Was hast du dann dagegen?«, fragte ich, ohne den Kopf zu wenden.

»Ich weiß es nicht. Irgendetwas gefällt mir nicht«, beendete Stasj das Gespräch.

Er betätigte einen Knopf, und die Scheibe, an die ich meine Nase drückte, glitt nach unten. Der Fahrtwind war kühl, trocken und roch nach Stadt.

»Jetzt werde ich dieser Kutsche aber die Peitsche geben!«, meinte Stasj. »Zieht es?«

»Nein«, erwiderte ich.

Doch der Wind blies mir ins Gesicht. Stasj brachte uns nach Hause, wollte aber nicht mit hinaufkommen. Er verabschiedete sich per Handschlag und fuhr in seinem einfachen, überhaupt nicht heldenhaften Auto weg. Ich stand mit Lion im Hauseingang. Wir hatten keine Lust, in die Wohnung zu gehen.

»Komm, wir besuchen Rossi«, schlug ich vor.

»Was?«, fragte Lion, und mir wurde klar: Mit seinen Gedanken war er weit weg. Bei Mutter, Vater, Bruder und Schwester. Darauf hatte ich auch gehofft. Dieser Traum, in dem er ein Erwachsenenleben durchlebte, würde ihn noch lange quälen. Wäre er jedoch wieder bei seiner Familie, würde der Traum nach und nach verblassen.

»Ich muss mit Rossi sprechen«, sagte ich.

»Warum?« Lion zog eine Grimasse. »Lass ihn in Ruhe, er ist bloß eine feige Rotznase!«

»Ich will nichts von ihm. Ich muss mit ihm sprechen.«

Lion schaute mich voller Zweifel an, hob die Schultern und knöpfte seine Jacke zu, die er im Auto ausgezogen hatte.

»Na dann, gehen wir…«

Wir warteten nicht auf den Bus, sondern liefen die Regenbogenstraße entlang. Lion steckte die Hände in die Taschen und pfiff eine Melodie. Doktor Goltz musste sehr talentiert sein, wenn sie Lion so schnell helfen konnte: Er verhielt sich völlig normal.

Die Regenbogenstraße ist eine Schlafstraße. Hier gibt es lediglich Wohnhäuser und einige kleine Geschäfte, wenn jemand nach der Arbeit vergessen hatte, in den Supermarkt zu fahren. Kaum jemand war auf der Straße. Kurz darauf kam uns ein alter Mann im Rollstuhl entgegen, der bei unserem Anblick bedrückt den Kopf schüttelte. Er meinte sicherlich, dass Kinder in die Schule gehörten oder etwas Nützliches tun und sich nicht auf der Straße herumtreiben sollten. Ich erinnerte mich voller Traurigkeit an den tapferen alten Semetzki.

Auf Avalon erstaunten mich in erster Linie die Häuser. Bei uns auf Karijer waren die Häuser groß und ihre Wände dünn wie Fensterglas. Auf Neu-Kuweit, wo es fast überall warm ist, waren die Häuser auch leicht gebaut, aber klein und nur für eine Familie. Hier jedoch waren riesige Gebäude mit vielen Wohnungen und dicken Beton- oder Ziegelwänden üblich. Das war zwar schön wie in einem alten Film, aber eigenartig. Mittlerweile hatte ich mich allerdings daran gewöhnt. Dicke Wände, feste Türen und Fenster mit Doppelverglasung waren für mich normal geworden.

Eigenartig waren auch die Höfe. Auf Karijer standen die Häuser in Reihen aneinandergepresst mit speziellen Plätzen für Spiel und Spaß. Unter den Kuppeln war nicht allzu viel Platz. Auf Neu-Kuweit dagegen war reichlich Raum zwischen den Häusern. Avalon lag dazwischen, jedes Haus hatte sein Eckchen, bepflanzt mit Bäumen, ausgestattet mit Rutschen und Karussells für die Kleinen, Hütten und Wasserbecken, nicht zum Baden, sondern als Dekoration.

Wir kürzten durch einen Hof ab und kamen auf eine Allee mit Kastanienbäumen. Schade, dass jetzt Winter war! Schade, dass ich im Frühling schon auf Neu-Kuweit sein würde, ohne zu sehen, wie hier alles blüht. Das bedauerte ich sehr.

»Wollen wir etwas zu trinken kaufen?«, fragte Lion, als wir an einem kleinen Geschäftchen vorbeigingen.

»Na los.«

Er wartete.

»Ah…«, besann ich mich und suchte Kleingeld in der Tasche zusammen. »Hier!«

Im Weitergehen tranken wir heißen Kaffee. Wir passierten das Vergnügungszentrum mit einem konventionellen und mehreren virtuellen Kinos, einem Aquapark und Sportsälen… ich war einmal dort, es hatte mir gefallen.

»Hier ist es nicht schlechter als auf Neu-Kuweit«, bemerkte Lion. Und berichtigte sich sofort: »Was sage ich da, hier ist es sogar besser… Tikkirej, willst du nur meinetwegen dorthin zurückkehren?«

»Nein.«

»Warum dann?«

Ich war mir nicht sicher. Wir gingen die Straße entlang und niemand konnte uns abhören. Nein! Das war ein blödes Argument! Man konnte sich nie völlig sicher sein. Wenn jemand abhören will, dann kann er sogar mit einem niedrig fliegenden Satelliten die Worte von den Lippen ablesen, eine Wanze unterschieben oder mit einem gewöhnlichen Richtmikrofon aus einem vorbeifahrenden Auto mithören.

»Weißt du, Lion, hier ist mir langweilig. Soll ich etwa wie ein Idiot im Laboratorium arbeiten und dann studieren? Auf Neu-Kuweit können wir den Phagen helfen. Vielleicht werde ich sie davon überzeugen können, dass ich zum Phagen tauge.«

Lion schaute mich eigenartig an. Dann fragte er aus unerfindlichen Gründen: »Du willst ein Phag werden?«

»Selbstverständlich!«

Er versank in Gedanken. In Sekundenschnelle schien in ihm erneut der erwachsene Mann erwacht zu sein, der es geschafft hatte, zu kämpfen, zu heiraten und zu sterben.

Endlich holte Lion tief Luft und sagte traurig: »Aber sie nehmen dich doch nicht… Phagen sind alle genverändert. Ein normaler Mensch kann kein Phag werden.«

»Das ist alles Blödsinn!«, widersprach ich voller Überzeugung. »Was macht es schon aus, dass ich nicht genetisch modifiziert wurde? Wetten, dass ich radioaktive Strahlung besser aushalten kann als ein Phag? Und noch viele andere Dinge. Vielleicht können sie sogar einen Spezialagenten brauchen, der auf radioaktiven Planeten arbeiten kann.«

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