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Dörfer flogen vorüber. Hunde bellten. Ein Schmiedefeuer glühte im frühen Morgen, und ein Schmied beschlug einen Schimmel. Es regnete nicht mehr. Ich wartete auf das Gefühl der Befreiung, auf das ich so lange gewartet hatte; aber es kam nicht. Helen saß still neben mir. Ich wollte mich freuen, aber ich fühlte mich leer.

In Lissabon telefonierte ich mit dem amerikanischen Konsulat in Marseille. Ich schilderte, was geschehen sei bis zu dem Moment, als Georg erschienen war Der Mann, mit dem ich telefonierte, meinte, dann wäre ich ja jetzt sicher. Alles, was ich von ihm erreichen konnte, war, daß er versprach, wenn ein Visum angewiesen würde, es an das Konsulat in Lissabon weiterzuleiten.

Der Wagen, der uns so lange geschützt hatte mußte weggeschafft werden. ›Verkaufe ihn‹, sagte Helen.

›Sollte ich ihn nicht irgendwo ins Meer rollen lassen?‹

›Das ändert nichts‹, erwiderte sie. ›Du brauchst das Geld. Verkaufe ihn.‹

Sie hatte recht. Er war sehr leicht zu verkaufen. Der Käufer erklärte mir, daß er den Zoll zahlen und den Wagen schwarz lackieren lassen werde. Er war ein Händler. Ich verkaufte ihm den Wagen unter Georgs Namen. Eine Woche später sah ich ihn mit einer portugiesischen Nummer. Es gab in Lissabon mehrere ihresgleichen; ich erkannte ihn nur an einer sehr geringen Beule am linken Trittbrett. Den Paß Georgs verbrannte ich.«

Schwarz sah auf seine Uhr.»Der Rest ist schnell erzählt. Ich ging einmal in der Woche zum Konsulat Wir wohnten einige Zeit im Hotel. Ich hatte noch Geld vom Verkauf des Wagens und benutzte es dafür Ich wollte, daß Helen jetzt soviel Luxus haben sollte wie möglich. Wir fanden einen Arzt, der ihr half Mittel zu bekommen. Ich ging sogar mit ihr ins Kasino. In einem Verleihinstitut lieh ich mir dafür einen Smoking. Helen hatte noch ihr Abendkleid aus Paris Ich kaufte ihr ein Paar goldene Schuhe dazu. Die andern hatte ich in Marseille vergessen. Kennen Sie das Kasino?«

»Leider«, sagte ich.»Ich war gestern abend da. Es war ein Fehler.«

»Ich wollte, daß sie spielte«, sagte Schwarz.»Sie gewann. Die unbegreifliche Strähne hielt immer noch an. Sie warf die Chips achtlos hin, und die Nummern kamen.

Diese letzte Zeit hatte wenig mit Realität zu tun. Es schien, als habe die Zeit im Schloß wieder angefangen. Wir spielten uns etwas vor; aber zum erstenmal hatte ich das Gefühl, daß sie nun ganz mir gehörte, obschon sie mir Tag für Tag mehr an den unerbittlichsten aller Liebhaber entglitt. Sie hatte sich noch nicht ergeben; aber sie kämpfte nicht mehr. Es gab qualvolle Nächte und Nächte, in denen sie weinte; aber dann kamen wieder fast unirdische Augenblicke, wo Süße, Trostlosigkeit, Weisheit und eine Liebe ohne die Schranken des Körpers plötzlich zu einer Intensität wurden, daß ich mich kaum zu rühren wagte, so übermächtig schien sie mir. ›Mein Geliebter‹, sagte sie einmal nachts zu mir, und es war das einzige Mal, daß sie darüber sprach, ›wir werden das Gelobte Land, auf das du wartest, nicht zusammen sehen.‹

Ich hatte sie nachmittags zum Arzt gebracht. Jetzt spürte ich plötzlich wie einen Blitzschlag die ohnmächtige Rebellion, die ein Mensch empfinden kann, der erkennt, daß er nicht halten kann, was er liebt.

›Helen‹, sagte ich mit erstickter Stimme, ›was ist aus uns geworden?‹

Sie schwieg. Dann schüttelte sie den Kopf und lächelte. ›Alles, was wir konnten‹, erwiderte sie. ›Und das ist genug.‹

Dann kam der Tag, an dem man mir auf dem Konsulat sagte, das Unglaubliche sei passiert: es seien zwei Visa angewiesen für uns. Die trunkene Laune einer zufälligen Bekanntschaft hatte bewirkt, was alles Flehen und alle Not nicht hatte erreichen können! Ich lachte. Es war Hysterie. Wenn man lachen kann, gibt’s viel zu lachen in der Welt heutzutage, glauben Sie nicht?«

»Das Lachen hört irgendwann auf«, sagte ich.

»Das Merkwürdige ist, daß wir oft lachten in den letzten Tagen«, erwiderte Schwarz.»Wir waren in einem Hafen, der von Winden nicht getroffen wurde, so schien es. Die Bitterkeit war ausgelaufen, es gab keine Tränen mehr, und die Trauer war so durchsichtig geworden, daß sie von einer ironisch-wehmütigen Heiterkeit oft nicht zu unterscheiden war. Wir zogen in eine kleine Wohnung. In unbegreiflicher Blindheit verfolgte ich weiter meinen Plan: nach Amerika zu entkommen. Es gingen lange keine Schiffe, bis endlich eines sicher wurde. Ich verkaufte die letzte Degas-Zeichnung und kaufte die Plätze. Ich war glücklich. Ich glaubte, wir wären gerettet. Trotz allem! Trotz der Ärzte. Es mußte noch dieses eine Wunder geben!

Die Abfahrt wurde einige Tage verschoben. Dann ging ich vorgestern noch einmal zum Schiffsbüro. Die Reise war für heute angesetzt. Ich sagte es Helen und ging aus, um noch etwas zu kaufen. Als ich zurückkam, war sie tot. Alle Spiegel im Zimmer waren zerschlagen. Ihr Abendkleid lag zerrissen auf dem Boden. Sie lag daneben; sie lag nicht auf dem Bett.

Ich glaubte zuerst, es sei ein Raubmord. Dann, daß jemand von der Gestapo sie getötet habe; doch der hätte mich gesucht, nicht sie. Erst als ich sah, daß außer den Spiegeln und dem Kleid nichts beschädigt war, begriff ich. Das Gift fiel mir ein, das ich ihr gegeben und von dem sie gesagt hatte, daß sie es verloren habe. Ich stand und starrte, und dann suchte ich nach einem Brief. Es war keiner da. Nichts war da. Sie war gegangen ohne ein Wort. Verstehen Sie das?«

»Ja«, sagte ich.

»Sie verstehen es?«

»Ja«, erwiderte ich.»Was hätte sie Ihnen denn noch schreiben sollen?«

»Irgend etwas. Warum. Oder -«

Er schwieg. Er dachte wahrscheinlich an letzte Worte, an eine letzte Liebesbeteuerung, an etwas, was er hätte mitnehmen können in seine Einsamkeit. Er hatte gelernt, viele Schablonenbegriffe abzustreifen, aber anscheinend nicht diesen.

»Sie hätte nie aufhören können zu schreiben, wenn sie einmal angefangen hätte«, sagte ich.»Dadurch, daß sie Ihnen nichts geschrieben hat, hat sie Ihnen mehr gesagt, als sie je in Worten hätte können.«

Er dachte darüber nach.»Haben Sie das Schild im Reisebüro gesehen?«flüsterte er dann.»Um einen Tag verschoben. Sie hätte noch einen Tag länger gelebt, hätte sie es gewußt!«

»Nein.«

»Sie wollte nicht mitkommen. Deshalb hat sie es getan!«

Ich schüttelte den Kopf.»Sie konnte die Schmerzen nicht länger aushalten, Herr Schwarz«, sagte ich behutsam.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte er.»Warum hätte sie es sonst gerade am Tag vor der Reise getan? Oder dachte sie, man hätte sie als Kranke nicht nach Amerika hineingelassen?«

»Warum wollen Sie einem sterbenden Menschen nicht überlassen, selbst zu bestimmen, wann er es nicht mehr ertragen kann?«erwiderte ich.»Es ist doch das Geringste, was wir tun können!«

Er starrte mich an.»Sie hat bis zum Äußersten ausgehalten«, sagte ich.»Ihretwegen, sehen Sie das nicht? Nur Ihretwegen. Als sie Sie gerettet wußte, hat sie losgelassen.«

»Und wenn ich nicht so blind gewesen wäre? Wenn ich nicht nach Amerika gewollt hätte?«

»Herr Schwarz«, erwiderte ich.»Es hätte die Krankheit nicht aufgehalten.«

Er bewegte seinen Kopf auf eine sonderbare Weise»Sie ist fort, und plötzlich ist es, als ob sie nie dagewesen wäre«, flüsterte er.»Ich habe sie angesehen, und da war keine Antwort. Was habe ich getan? Habe ich sie getötet, oder habe ich sie glücklich gemacht; Hat sie mich geliebt, oder war ich nur ein Stock, an dem sie ging, wenn es ihr paßte? Ich finde keine Antwort.«

»Müssen Sie eine haben?«

»Nein«, sagte er, plötzlich ruhig.»Verzeihen Sie Wahrscheinlich nicht.«

»Es gibt keine. Es gibt nie eine andere als die, die Sie sich selbst geben.«

»Ich habe es Ihnen erzählt, weil ich es wissen muß«, flüsterte er.»Was ist es gewesen? Ist es ein leeres, sinnloses Leben gewesen, das Leben eines nutzlosen Menschen, eines Hahnreis, eines Mörders -«

»Das weiß ich nicht«, sagte ich.»Aber wenn Sie wollen, auch das eines Liebenden und, wenn Ihnen etwas daran liegt, das einer Art von Heiligen. Doch was sollen die Namen? Es war da. Ist das nicht genug?«

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