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Ich vertraute mich einem Bekannten an. Er hieß Löser, handelte mit Strümpfen und war früher Arzt in Breslau gewesen.

Er riet mir, weniger allein zu sein. ›Finden Sie eine Frau‹, sagte er. Es half nichts. Sie kennen die Verhältnisse aus Not, aus Einsamkeit, aus Angst, die Flucht zu etwas Wärme, zu einer Stimme, einem Körper – das Aufwachen in einem elenden Raum in einem fremden Land, wie herabgefallen von der Erde, und dann die trostlose Dankbarkeit, einen anderen Atem neben sich zu hören – aber was ist das gegen den Zwang der Phantasie, die das Blut trinkt und einen am Morgen aufwachen läßt mit dem schalen Geschmack, daß man sich mißbraucht hat?

Wenn ich es jetzt erzähle, ist alles unsinnig und widerspricht sich; damals war es nicht so. Aus all den Kämpfen blieb immer das eine übrig: ich mußte zurück. Ich mußte meine Frau noch einmal sehen. Es konnte sein, daß sie längst mit jemand anderem lebte. Das war gleich. Ich mußte sie sehen. Es schien mir vollkommen logisch.

Die Nachrichten über den bevorstehenden Krieg verstärkten sich. Jeder sah, daß Hitler, der sein Versprechen, nur Sudetenland, nicht aber die ganze Tschechoslowakei zu besetzen, sofort gebrochen hatte, nun dasselbe mit Polen begann. Der Krieg mußte kommen. Die Bündnisse Frankreichs und Englands mit Polen ließen nichts anderes zu. Und es war nicht mehr eine Sache von Monaten; nur noch eine von Wochen. Auch für mich. Auch für mein Leben. Ich mußte mich entschließen. Ich tat es. Ich wollte hinüber. Was nachher kam, wußte ich nicht. Es war auch gleichgültig. Wenn der Krieg kam, war ich ohnehin verloren. Ich konnte geradesogut das Verrückte tun.

Eine merkwürdige Heiterkeit kam in den letzten Tagen über mich. Es war Mai, und die Beete am Rond Point waren bunt mit Tulpen. Die frühen Abende hatten bereits das silbrige Licht der Impressionisten, die blauen Schatten und den hohen, hellgrünen Himmel hinter dem kalten Gaslicht der ersten Straßenlampen und den ruhelosen, roten Bändern der Leuchtschrift an den Dächern der Zeitungsgebäude, die den Krieg verkündeten für jeden, der sie lesen konnte.

Ich fuhr zuerst in die Schweiz. Ich wollte meinen Paß auf einem ungefährlichen Gebiet erproben, bevor ich an ihn glaubte. Der französische Zollbeamte gab ihn mir gleichgültig zurück; das hatte ich erwartet. Eine Ausreise ist nur in Ländern mit einer Diktatur schwierig. Aber als der Schweizer Beamte kam, spürte ich, wie sich etwas in mir zusammenzog. Ich saß zwar so gelassen da, wie ich konnte, aber mir schien, als zitterten die Ränder meiner Lungen, so wie manchmal in der Windstille an einem Baum ein Blatt rasend schnell flattert.

Der Mann sah den Paß an. Er war ein mächtiger, breitschultriger Beamter, der nach Pfeifenrauch roch. Als er im Abteil stand, verdunkelte er das Fenster, und einen Augenblick hatte ich die Beklemmung, daß er den Himmel und die Freiheit abschlösse – als wäre das Abteil bereits eine Gefängniszelle. Dann gab er mir den Paß zurück. ›Sie haben vergessen, ihn zu stempeln‹, sagte ich in der Welle der Erleichterung, ohne es zu wollen, rasch. Der Beamte lächelte. ›Ich werde ihn schon noch stempeln. Ist Ihnen das so wichtig?‹

›Das nicht. Es macht ihn nur zu einer Art von Souvenir.‹

Der Mann stempelte den Paß und ging. Ich biß mir auf die Lippen. Wie nervös ich geworden war! Dann fiel mir ein, daß der Paß mit dem Stempel schon etwas echter aussah.

In der Schweiz überlegte ich einen Tag, ob ich auch mit dem Zuge nach Deutschland fahren sollte; aber ich hatte nicht den Mut. Ich wußte auch nicht, ob man Heimkehrer, selbst solche aus dem früheren Österreich, nicht besonders revidieren würde. Wahrscheinlich hätte man es nicht getan; ich beschloß trotzdem, schwarz über die Grenze zu gehen.

In Zürich begab ich mich deshalb, wie früher, zuerst zur Hauptpost. Am Schalter für postlagernde Sendungen traf man dort meistens Bekannte – Wanderer ohne Aufenthaltsbewilligung, wie man selbst, die einem Informationen geben konnten. Von dort ging ich ins Café Greif- dem Gegenstück zum Café de la Rose. Ich traf verschiedene Grenzgänger, aber keinen, der die Übergänge nach Deutschland genau kannte. Das war verständlich. Wer, außer mir, wollte schon nach Deutschland? Ich merkte, wie man mich anschaute und dann, als man merkte, daß es mir ernst war, vor mir zurückwich. Wer zurückwollte, mußte ein Überläufer sein; denn wer wollte schon zurück, wenn er das Regime nicht auch akzeptierte? Und was würde jemand, der so weit war, sonst noch tun? Wen verraten? Was verraten?

Ich war plötzlich allein. Man mied mich, wie man jemand meidet, der gemordet hat. Ich konnte auch nichts erklären; mir wurde selbst manchmal so heiß, daß ich vor Panik schwitzte, wenn ich daran dachte, was ich vorhatte; wie hätte ich es da anderen begreiflich machen können?

Am dritten Morgen kam die Polizei um sechs Uhr früh und holte mich aus dem Bett. Man fragte mich genau aus. Ich wußte sofort, daß einer meiner Bekannten mich angezeigt hatte. Mein Paß wurde mißtrauisch betrachtet, und ich wurde zum Verhör mitgenommen. Es war jetzt ein Glück, daß der Paß gestempelt worden war. Ich konnte so nachweisen, daß ich legal eingereist und erst drei Tage im Lande war. Ich erinnere mich genau an den frühen Morgen, als ich mit dem Beamten durch die Straßen ging. Es war ein klarer Tag, und die Türme und Dächer der Stadt standen scharf, wie aus Metall geschnitten, vor dem Himmel. Aus einer Bäckerei roch es nach warmem Brot, und aller Trost der Welt schien in diesem Geruch zu sein. Kennen Sie das?«

Ich nickte.»Die Welt erscheint einem nie schöner als in dem Augenblick, wenn man eingesperrt wird. Bevor man sie verlassen muß. Wenn man sie nur immer so fühlen könnte! Vielleicht hat man zu wenig Zeit dazu. Zu wenig Ruhe.«

Schwarz schüttelte den Kopf:»Es hat mit Ruhe nichts zu tun. Ich habe es so gefühlt.«

»Konnten Sie es halten?«fragte ich.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Schwarz langsam.

»Das ist es ja, was ich herausfinden muß. Es ist mir aus den Händen geglitten – aber hatte ich es ganz, als ich es hielt? Kann ich es jetzt nicht vielleicht stärker wieder zurückgewinnen und es für immer halten? Jetzt, wo es sich nicht mehr verändert? Verliert man nicht immerfort, was man zu halten glaubt, weil es sich bewegt? Und steht es nicht still, erst wenn es nicht mehr da ist und sich nicht mehr ändern kann? Gehört es einem nicht erst dann?«

Seine Augen waren starr auf mich gerichtet. Es war das erstemal, daß er mich voll anblickte. Die Pupillen waren groß. Ein Fanatiker oder ein Verrückter, dachte ich plötzlich.

»Ich habe es nie gekannt«, sagte ich.»Aber will das nicht jeder? Halten, was nicht zu halten ist? Und verlassen, was einen nicht verlassen will?«

Die Frau im Abendkleid am Nebentisch stand auf. Sie blickte über die Veranda auf die Stadt und den Hafen hinunter.»Darling, warum müssen wir zurück?«sagte sie zu dem Mann im weißen Smoking.

»Wenn wir doch hierbleiben könnten! Ich habe gar keine Lust, wieder nach Amerika zu gehen.«

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