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»Fünfunddreißig«, sagte ich.

»Sie werden ein Jahr älter werden. Haben Sie jemand, der geschickt mit Pässen ist?«

»Ich weiß jemand hier«, erwiderte ich.»Eine Fotografie ist leicht ausgewechselt.«

Schwarz nickte.»Leichter als eine Persönlichkeit.«

Er starrte eine Weile vor sich hin.»Wäre es nicht sonderbar, wenn Sie jetzt auch beginnen würden, Bilder zu lieben? So wie der tote Schwarz – und dann ich?«

Ich konnte mir nicht helfen, aber ich fühlte einen leichten Schauder.»Ein Paß ist ein Stück Papier«, sagte ich.»Keine Magie.«

»Nein?«fragte Schwarz.

»Doch«, erwiderte ich.»Aber nicht so. Wie lange blieben Sie in Paris?«

Ich war so voll Aufruhr über das Versprechen von Schwarz, mir seinen Paß zu geben, daß ich nicht hörte, was er sagte. Ich dachte nur darüber nach, was ich tun könnte, um auch für Ruth ein Visum zu bekommen. Vielleicht konnte ich sie beim Konsulat als meine Schwester ausgeben. Es war unwahrscheinlich, daß es nützte, denn die amerikanischen Konsulate waren sehr strikt; aber ich mußte es versuchen, wenn nicht ein zweites Wunder passierte. Dann hörte ich plötzlich Schwarz sprechen.

»Er stand plötzlich in der Tür unseres Zimmers in Paris«, sagte Schwarz.»Es hatte ihm sechs Wochen genommen, aber er hatte uns gefunden. Dieses Mal hatte er keinen Beamten vom deutschen Konsulat mobilisiert; er war selbst gekommen und stand vor uns in dem kleinen Hotelzimmer mit den amourösen Drucken nach Zeichnungen des achtzehnten Jahrhunderts an der Wand, Georg Jürgens, Obersturmbannführer, der Bruder Helens, groß, breit, zweihundert Pfund schwer und dreimal so deutsch als in Osnabrück, obschon er in Zivil war. Er starrte uns an.

›Also alles Lügen‹, sagte er. ›Ich dachte mir doch, daß es irgendwo gewaltig stänke!‹

›Was wundert Sie daran?‹ erwiderte ich. ›Es stinkt überall, wohin Sie kommen. Gewaltig! Weil Sie kommen.‹

Helen lachte.

›Laß das Lachen!‹ brüllte Georg.

›Lassen Sie das Brüllen!‹ erwiderte ich. ›Oder ich lasse Sie hinauswerfen!‹

›Warum versuchen Sie das nicht selbst?‹

Ich schüttelte den Kopf. ›Spielen Sie noch immer den Helden, wenn es ungefährlich ist? Sie sind vierzig Pfund schwerer als ich. Kein Unparteiischer würde uns als Boxer paaren. Was wollen Sie hier?‹

›Das geht Sie Vaterlandsverräter einen Dreck an. Gehen Sie raus! Ich will mit meiner Schwester reden!‹

›Bleib hier!‹ sagte Helen zu mir. Sie funkelte vor Zorn. Langsam stand sie auf und nahm einen Aschenbecher aus Marmor in die Hand. ›Noch einen Satz dieser Art, und das Ding fliegt dir ins Gesicht‹, sagte sie sehr ruhig zu Georg. ›Du bist nicht in Deutschland.‹

›Leider noch nicht! Aber wartet nur – dies wird bald Deutschland werden!‹

›Es wird nie Deutschland werden‹, sagte Helen. ›Es mag sein, daß ihr Kommißkaffern es vorübergehend erobert, aber es wird Frankreich bleiben. Bist du gekommen, um darüber zu diskutieren?‹

›Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen. Weißt du nicht, was dir passieren wird, wenn du hier vom Krieg überrascht wirst?‹

›Nicht sehr viel.‹

›Man wird dich in ein Gefängnis stecken.‹

Ich sah, daß Helen einen Augenblick überrascht war.

›Man wird uns vielleicht in ein Lager stecken‹, sagte ich. ›Aber es wird ein Internierungslager sein – kein Konzentrationslager wie in Deutschland.‹

›Was wissen Sie schon davon!‹ schnauzte Georg.

›Genug‹, erwiderte ich. ›Ich war in einem der Ihren – durch Ihre Vermittlung.‹

›Sie Wurm waren in einem Erziehungslager‹, erklärte Georg verächtlich. ›Aber es hat nichts genützt. Sie sind desertiert, nachdem Sie freigelassen wurden.‹

›Ich beneide Sie um Ihre Ausdrücke‹, sagte ich. ›Wenn jemand Ihnen entwischt, so ist das Desertation.‹

›Was sonst? Sie hatten Befehl, Deutschland nicht zu verlassen!‹

Ich winkte ab. Ich hatte genug Gespräche ähnlicher Art mit Georg gehabt, bevor er die Macht hatte, mich dafür einsperren zu lassen.

›Georg war immer ein Idiot‹, sagte Helen. ›Ein muskulöser Schwächling. Er braucht eine gepanzerte Weltanschauung wie eine dicke Frau ein Korsett, weil er sonst zerfließen würde. Streite nicht mit ihm. Er tobt, weil er schwach ist.‹

›Laß das!‹ erwiderte Georg friedlicher, als ich erwartet hatte. ›Pack deine Sachen, Helen. Die Lage ist ernst. Wir fahren heute abend zurück.‹

›Wie ernst ist die Lage?‹

›Es gibt Krieg. Ich wäre sonst nicht hier.‹

›Du wärest sonst auch hier‹, sagte Helen. ›Genauso wie du vor zwei Jahren in der Schweiz warst, als ich nicht zurückkommen wollte. Es paßt dir nicht, daß die Schwester eines so treuen Parteimitgliedes nicht in Deutschland leben will. Damals hast du erreicht, daß ich zurückkehrte. Jetzt bleibe ich hier, und ich will nicht mehr darüber reden.‹

Georg starrte sie an. ›Wegen dieses erbärmlichen Schurken da? Hat er dich wieder bequatscht?‹

Helen lachte. ›Schurke – wie lange habe ich das nicht gehört. Ihr habt wirklich ein vorsintflutliches Vokabular! Nein, dieser Schurke da, mein Mann, hat mich nicht bequatscht. Er hat sogar alles getan, um mich zurückzuschicken. Mit besseren Gründen als du.‹

›Ich will mit dir allein reden‹, sagte Georg.

›Es wird dir nichts nützen.‹

›Wir sind Geschwister.‹

›Ich bin verheiratet.‹

›Das sind keine Blutsbande‹, erklärte Georg. ›Du hast mir nicht einmal einen Stuhl angeboten‹, fügte er, plötzlich kindisch beleidigt, hinzu. ›Man kommt von Osnabrück all den Weg und wird stehend abgefertigt.‹ Helen lachte. ›Dies ist nicht mein Zimmer. Mein Mann bezahlt die Miete.‹

›Setzen Sie sich, Obersturmbannführer und Hitlerknecht‹ sagte ich. ›Und gehen Sie bald wieder.‹

Georg sah mich ärgerlich an und setzte sich krachend auf das altersschwache Sofa. ›Ich möchte mit meiner Schwester allein reden, können Sie das nicht verstehen?‹ fragte er.

›Haben Sie mich mit ihr allein reden lassen, als Sie mich verhaften ließen?‹ fragte ich zurück.

›Das war etwas ganz anderes‹, schnaubte Georg.

›Bei Georg und seinen Parteigenossen ist es immer etwas anderes, wenn sie dasselbe tun wie andere Menschen‹, sagte Helen sarkastisch. ›Wenn sie Leute, die anderer Meinung sind als sie, einsperren oder totschlagen, verteidigen sie damit die Freiheit des Denkens; wenn sie dich ins Konzentrationslager schickten, verteidigten sie die besudelte Ehre ihres Vaterlandes – ist das nicht so, Georg?‹

›Genauso!‹

›Außerdem hat er immer recht‹, sagte Helen. ›Er hat nie Zweifel und nie ein schlechtes Gewissen. Er steht auch immer auf der richtigen Seite, auf der Seite der Macht. Er ist wie sein Führer – der friedlichste Mensch der Welt, wenn die anderen nur tun, was er für richtig hält. Die Störenfriede sind immer die andern. Ist das nicht so, Georg?‹

›Was hat das mit uns hier zu tun?‹

›Nichts‹, sagte Helen. ›Und alles. Siehst du nicht, wie lächerlich du hier wirkst, du Säule der Rechthaberei in dieser toleranten Stadt? Selbst in Zivil hast du immer noch Stiefel an, um auf anderen herumtrampeln zu können. Aber hier hast du keine Macht, noch nicht! Hier kannst du mich nicht in deine nach Schweiß stinkende, plattfüßige Partei-Frauenschaft einschreiben lassen! Hier kannst du mich auch nicht überwachen wie eine Gefangene! Hier kann ich atmen, und hier will ich atmen.‹

›Du hast einen deutschen Paß! Es gibt Krieg. Du wirst hier ins Gefängnis gesteckt werden.‹

›Noch nicht! Und dann immer noch lieber hier als bei euch! Denn ihr würdet mich auch einsperren müssen! Ich würde nicht mehr wie eine Stumme herumgeistern, nachdem ich einmal wieder die süße Luft der Freiheit geatmet habe und euch entronnen bin, euren Kasernen und Brutanstalten und eurer trostlosen Schreierei!‹

Ich stand auf. Ich wollte nicht, daß sie sich preisgab vor dem nationalistischen Klotz, der sie nie verstehen konnte. ›Der da ist schuld!‹ schnarrte Georg. ›Der verfluchte Kosmopolit! Er hat dich verdorben! Warte, Bursche, wir werden noch abrechnen!‹

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