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›Niemand kommt‹, sagte Helen und ging mir voran.

Ich wandte mich um und drehte den Schlüssel in der Tür um. Dann folgte ich ihr.

Ich hatte in den ersten Jahren meines Exils oft an meine Wohnung gedacht; dann hatte ich sie zu vergessen gesucht. Jetzt, als ich in ihr war, fühlte ich wenig. Sie war da wie ein Bild, das ich einmal besessen hatte und das mich an eine bestimmte Zeit meines Lebens erinnerte. Ich stand in der Tür und blickte mich um. Fast nichts war geändert worden. Das Sofa und die Sessel waren neu bezogen. ›Waren sie nicht früher grün?‹ fragte ich.

›Blau‹, sagte Helen.«

Schwarz wendete sich mir zu.»Dinge haben ihr eigenes Leben, und es wird entsetzlich, wenn man sie mit dem eigenen vergleicht.«

»Wozu vergleichen?«fragte ich.

»Tun Sie das nicht?«

»Ja, aber nicht auf verschiedenen Ebenen. Ich beschränke mich auf mich selbst. Wenn ich hungrig am Hafen stehe, vergleiche ich mich mit einem imaginären Ich, das außerdem noch an Krebs leidet. Das macht mich dann für eine Minute glücklich, weil ich keinen Krebs habe und nur hungrig bin.«

»Krebs«, sagte Schwarz und starrte mich an.»Wie kommen Sie darauf?«

»Ich könnte auch Syphilis sagen. Oder Tuberkulose. Krebs ist das Nächste.«

»Das Nächste?«Schwarz starrte mich immer noch an.»Ich sage Ihnen, es ist das Fernste! Das Fernste!«wiederholte er.

»Gut«, erwiderte ich nachgiebig.»Das Fernste. Ich habe es nur so als Beispiel gebraucht.«

»Es ist so fern, daß es unbegreiflich ist.«

»Das ist jede tödliche Krankheit, Herr Schwarz. Immer.«

Er nickte und schwieg.»Haben Sie noch Hunger?«fragte er dann.

»Nein. Warum?«

»Sie sagten etwas davon.«

»Das war auch nur ein Beispiel. Ich habe heute bei Ihnen schon zweimal zu Abend gegessen.«

Er blickte auf.»Wie das klingt! Zu Abend essen! Wie tröstlich! Wie unerreichbar, wenn alles vorbei ist!«

Ich schwieg. Nach einer Weile sagte er ruhiger:

»Die gelben Sessel. Sie waren neu bezogen worden, das war alles, in den fünf Jahren, in denen mein Dasein ein Dutzend Saltos der Ironie geschlagen hatte. Es scheint manchmal nicht zusammenzupassen, das war es, was ich meinte.«

»Ja. Der Mensch stirbt, aber das Bett bleibt. Das Haus bleibt. Die Dinge bleiben. Man möchte sie auch zerstören.«

»Nicht, wenn sie einem gleichgültig sind.«

»Man soll sie nicht zerstören«, sagte ich.»Man ist nicht so wichtig.«

»Nein?«erwiderte Schwarz und hob mir ein plötzlich verstörtes Gesicht entgegen.»Nicht wichtig? Natürlich nicht! Aber sagen Sie mir – was sonst ist wichtig, wenn ein Leben nicht wichtig ist?«

»Nichts«, erwiderte ich und wußte, daß es wahr war und doch nicht wahr.»Nur wir machen es wichtig.«

Schwarz trank hastig von dem dunklen Wein.»Und warum nicht?«fragte er laut.»Wollen Sie mir sagen, warum wir es nicht wichtig machen sollen?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es war auch nur eine dumme Redensart. Ich nehme es selbst wichtig genug.«

Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwei. Das Orchester spielte Tanzmusik; einen Tango, in dem kurze, gedämpfte Hornstöße mich an die fernen Sirenen eines abfahrenden Schiffes erinnerten. Nur noch ein paar Stunden, dachte ich, bis zur Dämmerung, dann kann ich gehen. Ich fühlte nach den Fahrscheinen in meiner Tasche. Sie waren da. Fast hätte ich es nicht mehr geglaubt; die ungewohnte Musik, der Wein, die verhängten Räume und die Stimme von Schwarz hatten etwas Einschläferndes und Unwirkliches.

»Ich stand noch immer in der Tür zum Wohnzimmer«, fuhr Schwarz fort.»Helen sah mich an und fragte: ›Ist dir deine Wohnung so fremd geworden?‹

Ich schüttelte den Kopf und machte in paar Schritte vorwärts. Eine merkwürdige Verlegenheit hatte mich erfaßt. Die Dinge schienen nach mir greifen zu wollen; aber ich gehörte nicht mehr zu ihnen. Ein Schreck durchzuckte mich: daß ich vielleicht auch nicht mehr zu Helen gehöre. ›Es ist alles, wie es war‹, sagte ich rasch und heiß und verzweifelt. ›Alles, wie es war, Helen.‹

›Nein‹, erwiderte sie. ›Nichts ist mehr so. Weshalb bist du zurückgekommen? Deshalb? Damit alles so sei, wie es war?‹

›Nein‹, sagte ich. ›Ich weiß, daß es das nicht gibt. Aber haben wir nicht hier gelebt? Wo ist das geblieben?‹

›Nicht hier. Es ist auch nicht in den alten Kleidern geblieben, die wir weggeworfen haben. Meinst du das?‹

›Nein. Ich frage nicht für mich. Aber du warst immer hier. Ich frage für dich.‹

Helen sah mich seltsam an. ›Warum hast du nie früher gefragt?‹ sagte sie dann.

›Früher?‹ erwiderte ich verständnislos. ›Warum früher? Ich konnte nicht kommen.‹

›Früher. Bevor du weggingst.‹

Ich begriff sie nicht. ›Was hätte ich fragen sollen, Helen?‹

Sie schwieg eine Weile. ›Warum hast du mich nicht gefragt mitzugehen?‹ sagte sie dann.

Ich starrte sie an. ›Mitzugehen? Weg von hier? Von deiner Familie? Von allem, was du liebtest?‹

›Ich hasse meine Familie.‹ Ich war völlig verwirrt. ›Du weißt nicht, was es heißt, draußen zu sein‹, murmelte ich schließlich.

›Du wußtest es damals auch nicht.‹

Das war wahr. ›Ich wollte dich hier nicht wegnehmen‹, sagte ich lahm.

›Ich hasse es‹, erwiderte sie. ›Alles hier! Weshalb bist du zurückgekommen?‹

›Du hast es damals nicht gehaßt.‹

›Weshalb bist du zurückgekommen?‹ wiederholte sie.

Sie stand auf der anderen Seite des Zimmers, getrennt von mir durch mehr als die gelben Sessel und durch mehr als fünf Jahre Zeit. Feindseligkeit und eine wache Enttäuschung schlugen mir plötzlich entgegen, und ich fühlte dumpf, daß ich in meinem, mir selbstverständlich erscheinenden Wunsch, sie keinen Schwierigkeiten auszusetzen, sie vielleicht schwer gekränkt hatte, als ich flüchtete und sie zurückließ.

›Weshalb bist du zurückgekommen, Josef?‹ fragte Helen.

Ich hätte gern geantwortet, daß ich ihretwegen zurückgekommen sei, aber ich konnte es im Augenblick nicht. Es war nicht so einfach. Ich erkannte plötzlich – und ich erkannte es erst in diesem Augenblick -, daß es eine ruhige, klare Verzweiflung gewesen war, die mich zurückgetrieben hatte. Alle meine Reserven waren aufgebraucht, und der nackte Wille zu überleben nicht stark genug gewesen, dem Frost der Einsamkeit länger standhalten zu können. Ich war nicht fähig gewesen, mir ein neues Leben aufzubauen. Ich hatte es im Grunde auch wohl nie wirklich gewollt. Ich war mit meinem früheren Leben längst nicht fertig geworden; ich hatte es weder verlassen noch überwinden können; Gangräne hatte eingesetzt, und ich hatte die Wahl gehabt, im Gestank der Gangräne zu krepieren oder zurückzugehen und zu versuchen, sie zu heilen.

Ich hatte das alles nie genau überlegt, und es war mir auch jetzt nur in Umrissen klar; aber ich war wie erlöst, wenigstens das zu wissen. Die Schwere und Verlegenheit wich. Ich wußte jetzt, weshalb ich hier war. Ich hatte nichts aus den fünf Jahren Exil mitgebracht als meine geschärften Sinne, die Bereitschaft zu leben und die Vorsicht und Erfahrung eines flüchtigen Verbrechers. Das andere hatte Bankrott gemacht. Die vielen Nächte zwischen den Grenzen, die grauenhafte Langeweile des Daseins, das nur um etwas Essen und ein paar Stunden Schlaf kämpfen darf, die Maulwurfsexistenz unter Grund – sie versanken ohne Spur, während ich hier auf der Schwelle meiner Wohnung stand. Ich hatte zwar Bankrott gemacht, aber ich brauchte keine Schulden zu übernehmen. Ich war frei. Das Ich dieser Jahre hatte Selbstmord begangen, als ich die Grenze überschritt. Es war keine Rückkehr. Ich war tot, ein anderes Ich lebte, und es lebte von geschenkter Zeit. Keine Verantwortung war mehr da. Die Gewichte fielen ab.«

Schwarz wandte sich mir zu.»Verstehen Sie, was ich meine? Ich wiederhole mich und rede in Gegensätzen.«

»Ich glaube schon, daß ich Sie verstehe«, erwiderte ich.»Die Möglichkeit zum Selbstmord ist eine Gnade, deren man sich nur selten bewußt wird. Sie gibt einem die Illusion des freien Willens. Und wahrscheinlich begehen wir mehr Selbstmorde, als wir jemals ahnen. Wir wissen es nur nicht.«

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