Er ging zur Leeseite. Weit vorn sprang eine dünne Wassersäule hoch. Die Franzosen und ihre neuen Geschütze waren sehr gut. Auf diese Entfernung konnten sie kaum noch danebenschießen, und dennoch warteten sie ab. Sparten ihre Munition für die Hauptmasse des Geschwaders, das sie erwarteten; oder sie wollten sich erst über die Taktik der Engländer klarwerden.
Nein, das konnte nicht stimmen. So vertrauensselig konnte kein Artillerieoffizier sein.
Er hörte, wie das Ruderrad überkam, die neugesetzte Fock erst killte und dann zog, wie die Brassen dichtgeholt, die Rahen getrimmt wurden. Auf dem Achterdeck, das sich nach Lee neigte, ruckte einer der Neunpfünder heftig an seinen Zügen. Auf diese plötzliche Segelverstärkung würde die französische Artillerie wahrscheinlich reagieren.
So gelassen wie möglich schritt er zur anderen Seite und spähte über das wimmelnde Batteriedeck nach dem französischen Zwe i-decker. Unter geringster Besegelung stand er in etwa zwei Meilen Distanz. Schon das war ein Fehler. Sein Kommandant befehligte das stärkste der anwesenden Kriegsschiffe, seine erste Pflicht war es, die Transportflotte zu schützen, ganz gleich, was kam.
Noch eine halbe Meile; durch sein Glas konnte Bolitho die winzigen Gestalten auf den Decks der nächstliegenden Transporter herumrennen sehen. Die glaubten wahrscheinlich immer noch, die Osiris sei ein Dreidecker und sie würden die erste volle, vernichtende Breitseite abbekommen.
«Einen Strich anluven, Captain!»
«Aye, Sir. Kurs Nord zu West.»
Bolitho sah Pascoe fragend an.»Ist die Nicator zu sehen?»
«Nein, Sir. «Pascoe deutete auf den Pulk der Schiffe.»Sie läßt sich ein vielversprechendes Ziel entgehen.»
Doch Bolitho kannte Adam gut genug, um diese kühle Bemerkung zu durchschauen. Er sah auch, wie Midshipman Breen, der Pascoe beim Signaldienst half, diesen anstarrte, als flehe er um die Bestätigung, alles sei in Ordnung.
Die nächsten, an der Spitze zweier getrennter Reihen ankernden Transporter eröffneten das Feuer mit ihren Buggeschützen; winselnd flogen die Kugeln hoch über das Schiff; eine nur schlug ein sauberes Loch ins Großmarssegel.
Plötzlich rief der Master:»Untiefen an Backbord voraus, Sir!»
Unwillig erwiderte Farquhar:»Von denen sind wir doch klar! Was soll ich denn dagegen tun, Mann? Fliegen?»
Von dem, was jetzt kam, hörte Bolitho überhaupt nichts, wie in einem Fiebertraum: an Backbord barst das Schanzkleid auseinander, mit einer Eruption umherfliegender Splitter rissen die Decksplanken in schiefer Linie auf, Trümmer und das ganze Rohr eines Neunpfünders landeten auf der anderen Deckseite. Das geladene Geschütz ging los, seine Kugel riß eine andere Kanone um, die auf ihre Bedienung stürzte; die Schreckens- und Schmerzens-schreie gingen im Getöse unter.
Das schwere Geschoß, eine doppelte Ladung wahrscheinlich, hatte auch das Ruderrad zertrümmert. Zwei Rudergasten lagen tot oder besinnungslos daneben, ein dritter war nur noch ein blutiger Brei. Der explodierte Neunpfünder hatte Bevan, den Master, fast entzweigeschnitten, sein Blut ergoß sich über das gesplitterte Deck; eine Hand krallte sich in die herausquellenden Eingeweide, als wolle sie allein sich noch ans Leben klammern.
Plowman tauchte aus dem driftenden Qualm auf.»Ich übernehme, Sir!«Er zerrte einen verängstigten Matrosen unter einem Stoß Hängematten hervor.»Auf! Komm mit nach achtern, wir schlagen eine Talje am Ruderkopf an!»
Wieder ein Krachen, diesmal seitlich am Achterdeck. Mehrere Marine-Infanteristen stürzten von der Leiter, und Bolitho hörte die schwere Kugel die Bordwand durchschlagen und durch das menschenwimmelnde Geschützdeck pflügen.
«Segel weg, Captain!«schrie er und hob den Degen.»Die Franzosen haben sich eingeschossen!»
Er konnte weder Angst noch Bitterkeit empfinden, nur Wut. Die jetzt steuerlose Osiris drehte schwerfällig vor den Wind — Bevan, der tote Master, hatte die Gefahr geahnt, ohne zu begreifen, was sie bedeutete. Jetzt war es zu spät. Der Druck des Windes gegen Segel und Rumpf reichte aus, um die Osiris auf jene Sandbank zuzutreiben.
Der Feind hatte sein Eröffnungsfeuer benutzt wie einen Stachelstock gegen streunendes Vieh. Ein Stoß hier, ein Stich dort, um das hilflose Rind in eine sorgfältig aufgebaute Falle zu treiben.
Die beiden verborgenen Geschütze feuerten jetzt mit neuer Kraft. Die Kugeln krachten in den Schiffsrumpf oder schlugen gefährlich nahe bei der Buzzard ein, die immer noch auf die ankernden Schiffe zuhielt. Jetzt rief Pascoe:»Die feindliche Fregatte setzt mehr Segel, Sir! Und eine Korvette kommt vom Ankerplatz klar!»
Bolitho richtete sein Glas durch den driftenden Rauch zuerst auf die Fregatte. Lang und schlank. Achtunddreißig Kanonen gegen Javals zweiunddreißig. Vorausgesetzt, daß er bisher der schweren Artillerie entgangen war, würde er eine ganz gute Chance haben. Wenn er die Korvette abwehren konnte. Wenn, wenn, wenn, klang es höhnend durch sein Hirn.
In der Linse erschien ein dunkler Fleck, und Bolitho schwenkte sie weiter, um den französischen Vierundsiebziger ins Blickfeld zu bekommen. Auch jetzt noch fuhr er nur unter den notwendigsten Segeln und näherte sich der Osiris ganz langsam auf konvergierendem Kurs. Die Geschütze waren ausgerannt, aber noch im Schatten. Er dachte darüber nach. Im Schatten? Also legte der Kommandant keinen Wert darauf, die Luvposition zu behalten. Sie hielt von Steuerbord auf die Osiris zu, die gerefften Marssegel dicht angebraßt; Vorderkastell und sogar Galion wimmelten von Matrosen und blinkenden Waffen. Er konnte den Namen deutlich ablesen: Immortalite.
«Was ist mit dem Ruder, Mr. Outhwaite?«brüllte Farquhar heiser.»Haben Sie ein Notruder fertig?»
Bolitho beobachtete das gekräuselte Wasser hinter der Sandbank. Noch fünfzig Yards, knapp. Selbst wenn sie Anker warfen, konnten sie jetzt nicht mehr freikommen und schon gar nicht den Transportschiffen irgendwelchen Schaden zufügen.
Er beobachtete den Zweidecker mit der im Sonnenschein leuchtenden Trikolore und zuckte zusammen, als er noch eine zweite Flagge am Großmast entdeckte: einen langen, gespaltenen Wimpel.
Pascoe sah ihn an und versuchte zu grinsen.»Ein Kommodore, Sir. Für uns gehörte sich eigentlich ein richtiger Admiral!»
Eine Kugel fuhr donnernd durch eine der unteren Stückpforten; Bolitho hörte Schreie und Rufe nach den Maaten des Schiffsarztes.
Er wandte sich wieder dem französischen Schiff zu. Längst hätte Probyn hier sein und eine volle Breitseite in die ankernden Transporter feuern müssen, die jetzt vollkommen unverteidigt waren, da der Zweidecker und seine kleineren Gefährten an der Küste entlangsegelten, um das Gefecht zu beginnen. Die Nicator wäre auf keinen Widerstand gestoßen. Zorn wallte brennend in ihm auf.
Wieder erbebte das Deck, und mit einem Knall wie von einem Pistolenschuß kam die Vormaststenge herunter und stürzte über Bord, ein schlangengleiches schwarzes Gewirr von gebrochenen Stangen und Wanten mit sich reißend.
«Aufgelaufen!«schrie Farquhar mit wildem Blick. Er trat ein paar Schritt zur Seite und rutschte dabei in einer Blutlache aus.»Gottverdammt!«Er schützte sein Gesicht mit dem gebogenen Arm, denn wieder schlug eine Kugel ins Schanzkleid und riß zwei Männer nieder, die einen verwundeten Kameraden von der Stückpforte zurückzogen.
«Ihre Befehle, Sir?«fragte Farquhar mit ausdrucksloser Stimme.
Bolitho ließ die Transporter nicht aus dem Auge; sie schienen sich jetzt zu bewegen, schienen in einem riesigen Pulk am Bug vorbeizuziehen. Doch das sah nur so aus, weil die Osiris unter dem Druck des Windes sehr langsam drehte, während ihr Vordersteven im harten Sand festsaß.
«Ich glaube«, sagte er langsam,»wir werden bald die Steuerbordbatterien abfeuern können.»
Pascoe nickte dazu. Sein Gesicht war aschfahl, denn weitere Explosionen schleuderten Schlamm und Sprühwasser über die Netze. Der bemalte Streifen Leinwand, der den Feind eine Zeitlang getäuscht hatte, war längst vom heißen Sturmwind der Kanonen weggerissen. Schmerzhaft fest packte Bolitho mit der Rechten seinen linken Arm, um sich nicht die Verwüstungen und das noch drohende Unheil auszumalen.