Bolitho sah auf seine Hände, die beim Aufknöpfen des Hemdkragens zitterten.
Er hat Angst vor mir, Angst, daß ich ihn schikanieren werde, bloß um meinen Kummer abzureagieren.
Diese Erkenntnis machte ihn etwas ruhiger, aber gleichzeitig schämte er sich.»Danke, Ozzard«, sagte er freundlich,»ich komme jetzt schon allein zurecht.»
«Bestimmt, Sir?«fragte der Mann unsicher und ging rückwärts zur Tür, als fürchte er immer noch, Bolitho würde auf ihn losgehen. An der Tür zögerte er.»Ich bin nicht ganz ohne Bildung, Sir«, sagte er.»Wenn Sie wünschen, könnte ich Ihnen vorlesen, dann verginge die Zeit vielleicht schneller. Und Sie brauchten nicht zu reden.»
Bolitho wandte sich ab, um sein Gesicht zu verbergen.»Nein, jetzt nicht, Ozzard. Aber ich weiß Ihr Angebot zu schätzen. Mehr, als ich sagen kann.»
Im Spiegel der schrägstehenden Fensterflügel sah er, daß der Mann hinausging, lautlos wie immer.
IV In Gefangenschaft
Richard Bolitho stand an der Achterdecksreling und sah in den Sonnenuntergang. Große, rostrote Flecken am Himmel ließen die westliche Kimm scharf hervortreten. Gemächlich glitt die Lysander unter Klüver und Marssegeln dahin; ihr breiter Rumpf neigte sich kaum vor dem Westwind, der ihr den ganzen Tag treu geblieben war.
Er starrte über das Deck zum Vorschiff, durch Wanten und Stage und den fettigen, dünnen Rauch aus der Kombüse. Mit Mühe konnte er den winzigen Umriß der Harrebell ausmachen, die weit vor dem Flaggschiff lag. Ihre Maststengen und Rahen standen wie Kreuze im ersterbenden Tageslicht.
Die anderen Schiffe seines Geschwaders waren am Nachmittag nach Süden verschwunden und würden jetzt mehr Segel setzen, um über den Punkt hinauszugelangen, an dem die Lysander angreifen sollte. Er vergegenwärtigte sich die Karte und stellte im Geiste noch einmal die bruchstückhaften Informationen zusammen, auf die er seine Taktik gebaut hatte. Er konnte die Küstenlinie fast vor sich sehen, die Berge hinter der Bucht, die Wassertiefen und die Sandbänke. Im Gegensatz dazu gab es eine ganze Menge Fakten, die er nicht kannte: Zum Beispiel, was der Feind an einem bestimmten Ort tat, beziehungsweise ob es wirklich so wichtig war, daß es sich lohnte, die ihm anvertrauten Schiffe deswegen zu riskieren.
Das Großmarssegel fiel ein, killte laut, als der Wind abflaute, und fand dann seine Kraft wieder. Der Steuermannsmaat der Wache machte es sich etwas bequemer und scherzte mit dem Rudergast; und auch an der Leeseite lockerte Leutnant Fitz-Clarence seine gespannte, wachsame Haltung.
Bolitho versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was er zu tun hatte. Doch es war ruhig im Schiff und eine unmittelbar wichtige Entscheidung nicht zu treffen; so konnte er seiner Angst nicht ausweichen.
Seit zwei Tagen war er wieder an Bord; vor vier Tagen hatten Ja-vals Leute den Schoner genommen. Der mußte inzwischen schon in Gibraltar sein, auch bei ungünstigem Wind, es sei denn, er war einem überlegenen Feind begegnet. Das Schiff würde von einem Prisenausschuß verkauft, vielleicht auch in den Dienst des Königs übernommen werden. Die wenigen überlebenden Spanier würden auf eine Gefangenen-Hulk[11] kommen, wenn sie nicht von der Möglichkeit Gebrauch machten, sich zum Dienst auf einem britischen Kriegsschiff zu verpflichten. Nach fünf Jahren Krieg konnte man auf jedem Schiff des Königs ein Dutzend Sprachen und Dialekte hören.
Und Adam? Langsam trat Bolitho an die Wanten und starrte auf die See hinaus. Land konnte selbst der Ausguck nicht mehr erken-
nen, und der Himmel war bereits so dunkel, daß es schwerfiel, die Kimm zu unterscheiden, die vor Sekunden noch wie geschmolzenes Kupfer geglüht hatte.
Ein weiterer Leutnant war an Deck gekommen und sprach leise mit Fitz-Clarence. Vorn und tiefer unten im geräumigen Schiffsrumpf erklang der schrille Ton einer Bootsmannsmaatenpfeife, und Bolitho hörte das Tappen nackter Füße — die nächste Wache schickte sich an, das Schiff bis Mitternacht zu übernehmen.
Eine Bö wehte Kombüsendunst nach achtern, und Bolitho merkte, daß er nichts im Magen hatte. Aber bei dem Gedanken an Haferbrei und die fettigen Klumpen gekochten Fleisches, das übliche Mittagessen, verging ihm der Appetit.
Herrick tauchte im Niedergang auf und kam herüber zu ihm.
«Ich habe Mr. Gilchrist angewiesen, alle Offiziere und höheren Deckoffiziere gleich nach acht Glasen in der Messe zu versammeln, Sir. «Er zögerte und versuchte, im Halbdunkel Bolithos Stimmung zu erkennen.»Sie sind alle sehr gespannt.»
«Danke, Thomas. «Er wandte sich um, denn ein Bootsmannsmaat kam, gefolgt von einigen Männern seiner Wache, auf der Steuerbordlaufbrücke heran.
Ein Schiffsjunge prüfte die Kompaßlampe, ein anderer das Stundenglas daneben. Zwei Marine-Infanteristen nahmen langsam Haltung an, als ein Korporal nahte, um sie zu inspizieren. Fast schwarz sahen ihre roten Röcke in der tiefen Dämmerung aus. Die leuchtendweißen Brustriemen und Kniehosen verstärkten den Kontrast noch. Es waren die Wachtposten, einer für Herricks Kajütentür, einer für seine.
Brummend gab der Master einem Midshipman Anweisungen, die der Junge, tief über seine Tafel gebeugt, niederschrieb.
Der eben an Deck gekommene Leutnant nahm Haltung an und tippte formell an den Dreispitz.»Wachablösung vollzählig angetreten, Mr. Fitz-Clarence.»
Fitz-Clarence nickte gravitätisch.»Lassen Sie bitte den Rudergänger ablösen, Mr. Kipling.»
Undeutliche Befehle, Füßescharren. Dann sang der Rudergast aus:»Kurs Ost zu Nord liegt an, Sir!»
Grubb schnaufte geräuschvoll.»Gehört sich auch! Ich komme wieder an Deck, ehe das Glas gedreht wird!«Es klang wie eine Drohung.
Bolitho erschauerte.»Ich bin soweit, Thomas.»
Vorn ertönte die Schiffsglocke, ein Toppsgast glitt an einem Backstag hinunter und lachte laut auf, weil er einen Kameraden beinahe umgeworfen hätte.
Sie gingen zum Niedergang hinüber, und Herrick sagte:»Ich glaube, Mr. Grubb hat recht. Der Wind hat nach Westen gedreht, und wir werden schneller an die Küste herankommen als gedacht.»
Sie stiegen die Leiter hinunter und kamen an einem Matrosen vorbei, der einen Sack Schiffszwieback aus der Messe geholt hatte. Er drückte sich an eine Kajütentür, als fürchte er, den Kommodore oder den Kommandanten auch nur zu streifen.
Das Licht einer Laterne fiel auf die Bodenstücke der Geschütze. Es waren einige der achtundvierzig Achtzehnpfünder, die jetzt so friedlich aussahen, daß man sich nur schwer vorstellen konnte, wie sie, in Rauch und Pulvergestank gehüllt, im Rückstoß binnenbords fuhren, worauf die brüllenden, von der Detonation fast tauben Kanoniere die Rohre für die nächste Breitseite ausputzten.
Weiter achtern blinkte das helle Rechteck der Messetür; dahinter drängten sich die Offiziere der Lysander und jeder Mann im Deckoffiziersrang, der nicht gerade Wache ging.
Herrick blieb stehen und sagte unsicher:»Es scheint mir lange her, seit die Offiziersmesse mein Zuhause war.»
Bolitho sah ihn prüfend an.»Und meins. Mit zwanzig Jahren dachte ich, wenn man erst Kapitän ist, hat man ein leichtes Leben. Heute aber weiß ich: jede Beförderung hat ihre Tücken, ebenso wie ihre Vorteile.»
Herrick nickte.»Mehr Tücken als Vorteile, finde ich.»
Bolitho zupfte unauffällig seine Uniform zurecht. Herrick hatte bisher weder Adam noch überhaupt jemanden von den Vermißten erwähnt. Und doch mußte er sehr oft an ihn gedacht haben. Bolitho erinnerte sich an die Zeit, als Adam auf der Impulsive, Herricks kleinem Zweidecker, Midshipman gewesen war. Das hatte ihn damals merkwürdig berührt. Ob er vielleicht eifersüchtig gewesen war? Hatte er gefürchtet, Adams dienstliches Vertrauensverhältnis zu Herrick könnte zu einer engeren menschlichen Bindung führen, als er selbst sie ihm zu bieten hatte? Alles Trennende kam wieder hoch wie ein Dämon, der auf der Lauer gelegen hatte.