Plötzlich fiel Bolitho wieder ein, was ihm sein Vater einst gesagt hatte: Überraschungsangriffe gibt es nicht. Überraschung liegt nur dann vor, wenn ein Kommandant das, was er von Anfang an gesehen hat, falsch auslegt.
Er blickte zu Pascoe hinüber und lächelte flüchtig. Jetzt erst wußte er genau, was sein Vater damals gemeint hatte.
Bolitho ging wieder zur anderen Seite des Achterdecks und richtete das Glas auf eine vorgeschobene Landzunge. Ein paar winzige Häuser waren am Fuß eines Steilhangs zu erkennen, eingekuschelt zwischen Gebüsch und Strand: Fischerhütten. Doch die Boote lagen verlassen auf dem groben Kies; nur ein Hund verteidigte seine Heimstätte und bellte wütend die langsam vorbeiziehenden Schiffe an.
«Die nächste Bucht ist es«, sagte Farquhar gespannt.
Outhwaite drehte sich um und rief:»Feuern erst auf Befehl und bei sich hebendem Schiff!»
«Von wegen heben«, murmelte Allday verächtlich.»Ehe wir nicht klar von diesem Vorland sind und ein bißchen Wind kriegen, hebt sich gar nichts!»
«An Deck!«Die Stimme des Ausgucks klang ungewöhnlich laut.»Schiffe vor Anker hinter der Landspitze!»
Bolitho atmete langsam aus.»Signalisieren Sie diese Meldung weiter an die Buzzard!»
Sekunden später flatterte bereits die Bestätigung von der Rah der Fregatte. Javal ging es offenbar genauso wie ihnen allen: er war gespannt bis zum Äußersten.
Bolitho sah auf seine Uhr. Die Nicator mußte jetzt die nördliche Durchfahrt passiert haben und mehr Segel setzen, um den entsche i-denden Teil ihrer Aufgabe in Angriff zu nehmen. Selbst wenn die französischen Feldwachen sie gesichtet hatten, war es für einen Stellungswechsel der Landbatterie zu spät.
Die Detonation kam wie ein abgehackter Donnerschlag. Bolitho sah weder Mündungsfeuer noch Rauch, nur die Spur des Geschosses auf der Wasserfläche. Es mußte ein ganz flacher Schuß sein, denn er konnte unter den Bahn eine Linie winziger Wellen sehen — wie von einer gespenstischen Bö oder einem angreifenden Hai.
Die Kugel schlug im Vorschiff ein. Die Matrosen brachen in Gebrüll aus, und Bolitho sah den Zweiten Offizier von Geschütz zu Geschütz eilen, um die Mannschaft zu beruhigen.
«Sehen Sie, Sir! Soldaten!«Allday deutete mit seinem Entersäbel hin.
Bolitho beobachtete die winzigen blauen Gestalten, die jetzt unter den Bäumen hervor zur Landspitze hasteten. Vielleicht glaubten sie, daß noch ein zweiter Verband kommen und eine Landung versuchen würde, die sie abwehren mußten. Bolitho leckte sich die trockenen Lippen. Wenn es doch einen zweiten Schiffsverband gegeben hätte!
«Drehen Sie einen Strich ab, Captain«, sagte er,»damit die obere Batterie besseres Schußfeld hat!»
Farquhar protestierte:»Achtzehnpfünder gegen Infanterie, Sir?»
Gelassen erwiderte Bolitho:»Dann haben die Leute zu tun und kommen nicht auf unnütze Gedanken. Außerdem kann es das Selbstvertrauen des Feindes dort oben erschüttern. Sie sind auf ein ganzes Geschwader gefaßt, vergessen Sie das nicht!»
Er zuckte zusammen, denn wieder hallte ein Abschuß über das Wasser; hoch oben sauste die Kugel bösartig über die Masten.
«Steuerbordbatterie klar!«Outhwaite deutete auf die rennenden Soldaten.»Bei der Hebung!«Er stieß die Sprechtrompete hoch.
«Feuer!»
Die lange Linie der Rohre glitt im Rückstoß binnenbords; wirbelnd zog der Rauch über die Finknetze. Bolitho hielt das Glas auf das Land gerichtet; die Kugeln peitschten durch Bäume und Gebüsch, warfen Erde und Steine auf und verursachten ein wüstes Durcheinander. Die Soldaten hatten offenbar ähnliche Bedenken wie Farquhar gehabt, denn viele erwischte es im offenen Gelände; Bolitho sah Menschen, Musketen und Trümmer durch die Luft fliegen.
Es hatte nicht viel zu sagen, machte aber doch den Geschützbedienungen etwas mehr Mut. Er hörte Hochrufe und aus der unteren Batterie Schreie der Enttäuschung, weil sie nicht feuern durfte.
Outhwaite war von der Erregung angesteckt.»Schneller, Jungs! Neu laden! Mr. Guthrie eine Guinea[27] für das Geschütz, das zuerst ausrennt!»
Aus dem Augenwinkel sah Bolitho das Vorland achtern weggleiten; die erste Gruppe der ankernden Schiffe schimmerte im schwachen Morgenlicht auf; die Segel waren festgemacht, und die Unbeweglichkeit der Rümpfe ließ erraten, daß jedes Schiff mit seinem Nachbar fest verbunden war, so daß sie eine starre Schranke bildeten. Er hatte erwartet, daß die Franzosen auf diese Weise ankern würden. Es war eine bevorzugte Form der Verteidigung, schon lange, bevor man von der Revolution auch nur geträumt hatte.
Dann sah er Mündungsfeuer aufblitzen. Es kam aus einem tiefen grünen Sattel zwischen zwei Hügeln. Bis jetzt hatten sich die dortigen Kanoniere nur auf die Entfernung eingeschossen. Nun wurde es ernst.
Die Kugel schlug mittschiffs in den Rumpf der Osiris, ziemlich tief, dicht über der Wasserlinie. Noch dort, wo Bolitho stand, federten die Planken so stark, als säße der Treffer dicht unter seinen Füßen, nicht zwei Decks tiefer. Er sah die Angst in Farquhars Gesicht, als der Bootsmann mit seinen Leuten auf ein Luk zustürmte, und sah auch die Fäden dunklen Rauchs, die über den Netzen hochwirbelten und zeigten, wie genau die Kugel saß.
Achtern hörte er das regelmäßige Krachen von Geschützen: Javal folgte seinem Beispiel und beschoß die nächstliegenden Hänge in der Hoffnung, einen lohnenden Treffer anzubringen.
«An Deck! Französisches Linienschiff vor Anker hinter den Transportern!»
Bolitho ließ sein Glas über der Reling entlang hingleiten. Gesichter huschten wie Geister durch die Linse, dann fand er den französischen Vierundsiebziger und stellte das Glas genauer ein. Wie die dichtgedrängten Transporter lag auch er noch vor Anker. Doch die Segel waren nur lose aufgegeit, und die Ankertrosse war schon kurzstag, bereit zum Aufholen. Dahinter glitt eine Fregatte langsam vor dem Wind dahin; eben wurde ihre Fock gesetzt und leuchtete kurz im Sonnenlicht auf. Die beiden kleineren Begleitschiffe, Korvetten laut Plowman, mußten anderswo liegen. Das war nicht verwunderlich. Denn die Masten und Rahen der Transportschiffe überschnitten sich in einem scheinbar hoffnungslosen Gewirr. Grimmig musterte Bolitho sie durch sein Glas. Schwer beladen. Kanonen, Pulver, Kugeln, Zelte, Gewehre, Proviant für eine ganze Armee.
Wieder schlug eine Kugel dicht beim Rumpf ein und ließ das Deck erbeben.
Das einzige Mittel, der langsamen Vernichtung durch die weitreichende Artillerie zu entgehen, war, mehr Segel zu setzen, anzugreifen und so nahe an die ankernden Schiffe heranzusegeln, daß der Feind nicht mehr genau schießen konnte.
«Wo bleibt bloß die Nicator?«fragte Farquhar erregt.»Herrgott, sie müßte doch jetzt in Sicht kommen!»
«Der französische Vierundsiebziger hat Anker gelichtet, Sir!»
Bolitho blickte zu Farquhar hin, doch der hatte die Meldung offenbar nicht gehört.
«Danke«, sagte Bolitho,»Mr. Outhwaite, Steuerbordbatterien feuerbereit!»
Dann sah er, daß der Bootsmann unter dem Achterdeck hervorkam und etwas zu melden hatte.»Zwei Durchschüsse, Sir. Aber bis jetzt kein Schaden unter der Wasserlinie. Wenn's nicht schlimmer wird, geht's noch.»
«Danke«, sagte Farquhar kurz und nickte.
«Setzen Sie die Fock, Captain«, sagte Bolitho zu ihm.»Und Signal an die Buzzard: >Breche in Kürze durch die feindliche Li-nie
Farquhar starrte ihn an.»Wir könnten uns in ihren Festmachern verfangen, Sir! Ich würde vorschlagen.»
Beide duckten sich, denn wieder flog eine Kugel niedrig über ihre Köpfe hinweg, und Bolitho fühlte ihren Atem an seinen Schultern wie das Sausen einer Säbelklinge.
«Die Nicator müßte jetzt schon in Sicht sein«, sagte er.»Mindestens für den Ausguck. Probyn muß also auf Widerstand gestoßen sein. Wenn weder er noch wir zum Angriff kommen, würden wir alle beide für nichts und wieder nichts kaputtgeschossen!»