Pascoe nickte und packte ein paar Matrosen bei Schulter und Arm.»Aye, Sir.»
Gilchrist sah zu ihm hoch.»Wenn Sie das Ding nicht an Bord hieven können, dann sorgen Sie wenigstens dafür, daß der Rumpf nicht noch mehr beschädigt wird!«Schaum und Spritzwasser einer aufschwappenden Welle schnitten ihm das Wort ab, und er konnte nur noch husten.
Als das Wasser strudelnd abgeflossen war, sah Bolitho, daß der Mann, dem Gilchrist vorhin Prügel angedroht hatte, verschwunden war. Er trieb vermutlich irgendwo in der Finsternis, sah sein Schiff verschwinden, und seine Rufe verhallten zwischen den wütenden Seen. Doch höchstwahrscheinlich war er gleich untergegangen, denn nur wenige Seeleute konnten schwimmen. Bolitho ertappte sich dabei, daß er dem Mann einen schnellen Tod wünschte.
«Da geht sie!«Der Ruf ertönte, als die gekappte Raah mit mächtigem Krachen und Reißen an der Leeseite hinabfiel. Bolitho sah, wie Pascoes Männer auf der Lauf brücke versuchten, die immer noch gefährliche Spiere unter Kontrolle zu bekommen, und hielt den Atem an, denn eine Leine brach, und eine andere spannte sich, schor an der Reling entlang und schlang sich Pascoe um die Schultern.
«Belegen!»
Midshipman Luce, der berstenden Wasserwände nicht achtend, rannte die Laufbrücke hinunter.
«Kappen!»
Aber Pascoe wurde in eine weitere Leine verstrickt. Bolitho fühlte sein Blut gefrieren: es sah aus, als beuge sich Pascoe über das Schanzkleid, aber in Wirklichkeit wurde er hilflos von dem wirbelnden Chaos der Leinen über Bord gezerrt.
Doch jetzt stand Luce neben ihm, geduckt unter dem schwarzen Tauwerk, und hackte mit seiner Axt nach oben.
Yeo eilte vom Vorschiff herbei; sein schnelles, durch zwanzig Jahre Seefahrt geschärftes Auge erkannte sofort die gefährliche Lage.
«Aufpassen, Mr. Luce!»
Doch es war zu spät. Während die scharfe Axt ein gebrochenes Stag durchschnitt, spannte sich ein anderes, das sich um Luces Arm gewickelt hatte. Pascoe fiel keuchend in die Arme zweier Matrosen; doch Luce, mit dem Arm in jener Leine, wurde gegen das Schanzkleid geschleudert, während die Leine unter dem vollen Körpergewicht tief in das Fleisch des Armes schnitt. Das Schiff hob sich schwerfällig, und Luce schrie auf:»O Gott, helft mir doch!«Als Yeo endlich mit seinen Männern bei ihm war und die Leine kappte, fiel er ihnen bewußtlos vor die Füße.
«Schnell, Allday, schaffen Sie ihn hinunter!«befahl Bolitho. Dann rannte er nach achtern und half Pascoe auf die Füße.»Wie geht's?»
Pascoe betastete seinen Rücken und verzog das Gesicht.»Das war knapp…«Er starrte über das Deck.»Wo ist Bill Luce, Sir? Ist er…»
«Er ist verletzt. «Jetzt reagierte das Schiff bereits spürbar, wenn auch langsam, auf seine Freiheit — die Männer, die ihm unter Schmerzen und Mühen dabei geholfen hatten, mochten ihm ganz gleichgültig sein.»Ich habe ihn zum Arzt bringen lassen.»
Pascoe starrte ihn an.»O Gott — er hat mir das Leben gerettet!»
Bolitho verstand seine Verzweiflung, sah trotz der Dunkelheit den Kummer in seinem Gesicht.
«Ich gehe zu ihm hinunter, Adam. Du bleibst hier. Du wirst gebraucht. «Es tat weh, das zu sagen.
Bolitho ging weiter nach achtern. Da stand Farquhar an der Achterdecksreling, als hätte er sich nie weggerührt.»Vielen Dank, Sir«, stieß er aus.»Daß Sie mit vorn waren, hat die Männer wieder in Schwung gebracht!»
«Das möchte ich bezweifeln«, erwiderte Bolitho kühl.»Aber ein Kommandant achtern genügt.»
Er blickte zum gerefften Marssegel hoch. Immer noch eisenhart, aber es hielt, trotz des enormen Drucks.
«Ich gehe ins Krankenrevier«, sagte er.
«Sind Sie verletzt, Sir?»
«Lassen Sie mich sofort rufen, wenn sich etwas ändert. «Er schritt zur Kampanje.»Nein, verletzt bin ich nicht. Nicht körperlich.»
Während er vo n einer Leiter zur nächsten tiefer stieg, wurden die Geräusche der See immer gedämpfter; jetzt empfingen ihn das Knarren der beanspruchten Planken, die Gerüche nach Bilgewasser und Teer. Schwankende Laternen warfen schiefe Schatten auf seinen Weg durch das untere Batteriedeck der Lysander, wo das ganze Jahr lang kein Tageslicht hinkam. Bei dem kleinen Krankenrevier fand er ein paar Matrosen vor, die sich von der Behandlung erholten; manche waren verbunden, manchen half noch die tiefe RumNarkose über ihre Schmerzen hinweg. Die Luft war dick zum Schneiden und stank nach Leid und Blut.
Er trat ein. Henry Shacklock, der Schiffsarzt, sprach mit seinen Gehilfen, die noch zwei Lampen über dem Tisch anbrachten.
Shacklock blickte hoch und erkannte Bolitho.»Sir?»
Er war ein müde aussehender, dünnhaariger Mann. In dem schwankenden, gelben Licht wirkte er fast kahl, dabei war er noch nicht einmal dreißig. Bolitho hatte festgestellt, daß er ein guter Arzt war — leider ein ziemlich seltener Fall auf den Schiffen des Königs.
«Wie geht's Mr. Luce?»
Die Gehilfen traten zur Seite, und Bolitho sah, daß der Midship-man bereits auf dem Tisch lag. Er war nackt, sein Gesicht verzerrt, die Haut sehr bleich. Shacklock entfernte einen provisorischen Verband von der Schulter.
Die Leine mußte Fleisch und Muskeln glatt durchschnitten haben. Der Unterarm lag in einem unnatürlichen Winkel, die Finger waren ausgestreckt und schlaff.
Shacklock maß mit seiner Handspanne wie mit einem Zollstock eine Entfernung von der Schulter ab — knapp sechs Zoll.
«Der Arm muß ab, Sir. «Zweifelnd schob er die Lippen vor.»Und selbst dann…»
Bolitho sah auf Luces totenbleiches Gesicht hinunter. Siebzehn Jahre alt. Überhaupt noch nicht gelebt.
«Muß das sein?»
Wozu die Frage? Er hatte sie schon so oft gestellt.
«Ja. «Der Arzt nickte seinen Gehilfen zu.»Je schneller, desto besser. Vielleicht kommt er nicht zu sich, bis wir fertig sind.»
In diesem Moment schlug Luce die Augen auf. Regungslos starrten sie Bolitho an und schienen in diesen wenigen Sekunden alles zu begreifen, was geschehen war und was noch kommen würde.
«Sie haben Mr. Pascoe das Leben gerettet. Adam kommt herunter, sobald er kann«, sagte Bolitho und versuchte, möglichst ruhig zu sprechen.
Über den Kopf des Jungen hinweg sah er, daß Shacklock zwei Messer aus einem Kasten nahm. Eins war kurz, das andere lang und schmal. Einer der Gehilfen rieb unter der Laterne irgend etwas mit einem Tuch ab, und als der Mann seitwärts schwankte, sah Bolitho, daß es eine Säge war.
«Mein Arm, Sir?«flüsterte Luce fast unhörbar. Die Tränen liefen ihm übers Gesicht.»Bitte nicht, Sir!»
Der Gehilfe reichte Bolitho einen Becher Rum, und er hielt ihn dem Jungen an die Lippen.»Trinken Sie. So viel Sie können. «Der Rum tröpfelte ihm aus den Mundwinkeln; der Körper zitterte wie im Fieber. Das war alles, was sie hatten: Rum und nach der Operation Opium zum Schlafen.
Er hörte Schritte, und dann Pascoes Stimme, gepreßt und kaum erkennbar:»Der Kommandant läßt respektvoll melden, Sir, daß wir soeben die Nicator gesichtet haben.»
Bolitho richtete sich auf, behielt aber die Hand an Luces Schulter.»Danke. «Die Schatten kamen drohend näher, wie Engel des Todes, denn Shacklocks Männer wollten anfangen.»Bleib bei ihm, Adam.»
Er blickte wieder auf den Midshipman nieder; der starrte immer noch zu ihm auf, Rum und Tränen mischten sich auf seinem Hals. Nur sein Mund bewegte sich. »Bitte!«flüsterte er wieder.
Bolitho wartete, bis Pascoe neben Luces Kopf stand, und sagte dann zu Shacklock:»Tun Sie Ihr Bestes!»
Der Chirurg nickte.»Ich habe die Messer anwärmen lassen, Sir, damit der Schock nicht so groß ist.»
Als Bolitho sich zum Gehen wandte, gab der Arzt ein Zeichen, und er hörte Luce aufschreien: Die Gehilfen hatten seine Arme und Beine gepackt und preßten ihm den Kopf auf die Tischplatte.
Luces furchtbare Schreie verfolgten ihn bis aufs Hauptdeck. Dort endlich riß der Sturm sie weg.
Bolitho stützte beide Hände auf die Karte und studierte sie minutenlang. In zwei langen Tagen und Nächten hatte sich der Sturm erschöpft, und in dem warmen Sonnenlicht und der sanften Brise kam ihm das Schiffjetzt fast unbeweglich vor.