Die Kommandanten des Geschwaders standen um den Tisch und sahen ihm zu. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, und alle schienen erschöpft von der Wut des Sturmes und vom Kampf ums Überleben.
In dem ganzen, weit auseinandergetriebenen Geschwader hatte es siebzehn Tote gegeben. Vom Mast gestürzt, über Bord gewaschen. Manche waren auch nur unbemerkt verschwunden, als seien sie nie an Bord gewesen.
Es war Nachmittag, die Schiffe segelten wieder in lockerer Formation, und Bolitho hatte alle Kommandanten zur Lagebesprechung beordert.
Er blickte in Javals dunkles Gesicht. Was er berichtet hatte, war zu erwarten gewesen, und doch hatte Bolitho bis zum letzten Moment noch Hoffnung gehabt. Aber kurz nach Sonnenaufgang war die Buzzard in Sicht gekommen und hatte sogleich signalisiert: die Franzosen waren ausgelaufen. Ein Dutzend Schiffe, vielleicht mehr, waren mit dem steifen Nordwest unter ihren Rockschößen losgesegelt; Javal und seine Männer hatten alle Hände voll zu tun gehabt, den Feind auch nur in Sicht zu behalten. Der französische Befehlshaber hatte sogar mit derartigen Komplikationen gerechnet: zwei Fregatten kamen mit dem Sturm auf Javal zu, schossen ihm ein paar Kugeln in die Takelage und verschwanden dann wieder zu ihrem Geleit.
Für einen Kämpfer wie Javal mußte das furchtbar gewesen sein. Mit seinem zerschossenen Rigg und bei dem jede Minute stärker werdenden Sturm hatte er nur zusehen können, wie die Franzosen entwischten. Er hatte versucht, durch Signalschüsse und Raketen mit dem Geschwader Verbindung zu bekommen, aber da Gilchrist zu lange gewartet hatte und die Linienschiffe immer noch auf ihrem vorbestimmten Kurs blieben, war sogar dieser Kontakt unmöglich.
Nachdenklich sagte Bolitho:
«Der Admiral müßte inzwischen die Depeschen der Harebell erhalten haben. Er muß annehmen, daß wir imstande sind, Toulon zu überwachen oder mindestens alle Fahrzeuge zu beschatten, die herauskommen.»
Oben an Deck hörte er das Stampfen der exerzierenden Marine-Infanteristen, vermischt mit Hammer- und Axtschlägen, denn die Leute des Zimmermanns waren fleißig dabei, die Sturmschäden auszubessern.
Er sah zu Herrick hinüber. Was mochte der wohl denken?
Probyn war pessimistisch.»Jetzt, da die Franzosen sich Ihrer, äh, Überwachung entzogen haben, sind wir alle einigermaßen im Zweifel über die Lage. Vielleicht haben wir zu viel auf Hörensagen, auf Gerüchte, gegeben. Wer weiß, wo diese französischen Schiffe jetzt sein mögen?«Langsam sah er sich am Tisch um.»Ganz abgesehen davon — was können wir schon ohne Informationen erreichen?»
Bolitho sah ihn unbewegt an. Probyn hatte vorsichtigerweise immer» wir «gesagt. Aber er meinte» Sie».
Javal zuckte die Achseln und gähnte.»Ich könnte mich vom Geschwader lösen, Sir. Vielleicht finde ich ein paar von den Franzosen, wenn nicht sogar alle. Schließlich müssen auch sie bei diesem Sturm Schwierigkeiten gehabt haben.»
Gespannt blickten alle Kommandanten auf Bolitho. Manche würden, so glaubte er jedenfalls, sein Dilemma verstehen, vielleicht auch teilen.
Schickte er die Buzzard los, so hatte er keine» Augen«. Für die Zweidecker und das Prisenschiff reduzierte sich die Sichtweite auf das, was der beste Ausguck erkennen konnte. Außerdem waren die
Linienschiffe zu langsam und zu wenig beweglich für Rekognoszierungsaufgaben. Somit konnte er auf seine einzige Fregatte nicht verzichten.
«Natürlich«, sprach Probyn weiter,»könnten wir nach Gibraltar zurücksegeln, Sir. Wäre vielleicht besser, wir verstärken mit unserer Kampfkraft eine Flotte, die dort möglicherweise zusammengestellt wird, als daß wir hier blindlings und zwecklos herumstreifen.»
Jetzt sprach Herrick zum erstenmal.»Das wäre ein Eingeständnis unseres Mißerfolges! Und meiner Ansicht nach eine falsche Entscheidung!«Er sah Bolitho fest in die Augen.»Wir wissen, wie Ihnen zumute sein muß, Sir.»
«Wirklich teuflisches Pech«, fuhr Farquhar dazwischen.
«Nicht nur das«, sagte Javal und sah Bolitho mit kühler Neugier an.»Es ist auch eine teuflisch schwere Entscheidung — für Sie, Sir.»
«Ja.»
Bolitho suchte mit den Augen die Karte des Mittelmeeres ab. Alle diese Meilen. Selbst wenn er richtig geraten hatte — und mehr als Raten war es ja nicht, wie Probyn ganz richtig bemerkt hatte — , dann war es immer noch nicht sicher, daß er Kontakt mit dem Feind bekam. In der Nacht oder bei schlechtem Wetter konnten Schiffe aneinander vorbeisegeln, ohne daß eins vom anderen wußte. Ein ganzes Reich konnte durch eine falsche oder zu hastige Entscheidung verlorengehen.
«Folgendes werden wir tun«, sagte er, und es kam heraus, als hätte er von Anfang an nichts anderes im Sinn gehabt.»Unsere jetzige Position ist, soweit wir sagen können, etwa sechzig Meilen westlich der Nordküste von Korsika. «Er klopfte mit dem Zirkel auf die Karte.»Wir segeln nach Cap Corse. Der Sturm hat uns so weit nach Osten abgetrieben, daß sich eine andere Route nicht mehr lohnt. «Gespannt beugten sie sich über den Tisch.»Wir machen also we i-ter, und sobald wir Cap Corse gerundet haben, nehmen wir Kurs nach Südost. «Unbeirrt fuhr der Zirkel die italienische Küstenlinie entlang, immer tiefer.»In Syrakus legen wir an, nehmen Trinkwasser an Bord und bringen die Schwerverwundeten an Land. Die Sizilianer haben vielleicht Informationen für uns. Sie halten Frieden mit den Franzosen, aber lieben sie nicht besonders.»
Unvermittelt sah er auf.»Die Buzzard segelt dann früher los als wir, und zwar durch die Straße von Messina östlich um Sizilien herum, und trifft sich mit dem Geschwader vor Malta. Ich werde Ihnen noch genaueres sagen, Captain Javal, wenn wir etwas weiter sind.»
Er sah jedem einzelnen ins Gesicht. Damit hatte er sich festgelegt. Sich und jeden seiner Kommandanten, jeden Mann im Geschwader.
Herrick räusperte sich.»Und dann, Sir?»
Bolitho erwiderte seinen Blick und sah die Sorge, die in seinen Zügen aufstieg.»Dann, Captain Herrick, werden wir wissen, was wir zu erwarten haben.»
Probyn legte die schweren Hände breit auf den Tisch. Sie waren wie rote Krebse.»Wenn wir auch dort wieder keinen Erfolg haben, Sir, dann dürfte die Begegnung mit dem Admiral nicht angenehm ausfallen.»
Bolitho musterte ihn kalt.»Ich brauche Unterstützung, Captain Probyn, kein Mitleid.»
Sprühwasser spritzte gegen die Heckfenster, und er schloß:»Ich denke, Sie gehen am besten wieder an Bord Ihrer Schiffe. Der Wind frischt auf, wie mir scheint.»
Scharrend stießen sie die Stühle zurück und sahen einander an wie Fremde.
Probyn nahm Hut und Degen und fragte, ohne Bolitho dabei anzusehen:»Ich nehme an, wir bekommen die neuen Order noch schriftlich, Sir?»
«Das dürfte doch wohl überflüssig sein!«fuhr Herrick dazwischen.
«Da bin ich anderer Meinung«, sagte Probyn.»Es sollte mir leid tun, wenn ich ausdrücklich darauf bestehen müßte.«»Sie bekommen sie«, nickte Bolitho.
Farquhar klopfte an die Zwischentür, und als auf dieses Zeichen hin der Türposten erschien, befahl er:»Lassen Sie die Boote rufen! Und der Erste Offizier soll die Ehrenwache antreten lassen!»
«Übrigens, wie macht sich denn Ihr Erster?«fragte Probyn.
«Einigermaßen«, erwiderte Farquhar kühl.
«Sie kennen ihn also?«hakte Bolitho ein.
Probyn hüstelte verlegen.»Nicht eigentlich, Sir. Eine flüchtige Bekanntschaft, könnte man sagen.»
Die Kommandanten verabschiedeten sich und fuhren auf ihre Schiffe zurück.
Herrick war der letzte. Ohne Umschweife begann er:»Die Sache mit der Vorbramrah, Sir. Als ich hörte, was die Lysander beim Sturm für Schwierigkeiten hatte, habe ich nachgedacht. Vielleicht ist eine Kugel durch das Rick gegangen, aber die Umhüllung hat den Schaden verdeckt. So etwas kommt vor.»
Bolitho lächelte.»Vielleicht. Ihre Schuld war es nicht.»
Herrick blickte sich an Deck um, und Bolitho versuchte, seine Gedanken zu erraten. Bedauern, Besorgnis oder bloße Neugier?