Jetzt tauchte Gilchrists stangendürre Gestalt im langen, glänzenden Ölmantel an der Achterdecksleiter auf. Er hatte wahrscheinlich vor seinem Kommandanten mehr Angst gehabt als vor den ersten Anzeichen eines Sturmes. Oder ihm hatte so viel daran gelegen, zu zeigen, daß er mit jeder Krise fertig wurde, daß er gewartet hatte, bis es viel zu spät war. Bolitho wischte sich das triefende Gesicht mit dem Ärmel ab. Augen und Mund brannten ihm vom Salzwasser. Als er wieder hochsah, war schon eine ganze Menge Leinwand verschwunden. Allerdings war das Vormarssegel nur noch halb an der Rah festgemacht. Am anderen Ende stand es wie ein großer Leinwandballon weg und füllte sich stoßend, als stäke ein lebendiges Untier darin. Irgend etwas sauste vor den dahinjagenden Wolken vorbei und schlug mit dumpfem Krachen im Vorschiff auf.
Eine heisere Stimme schrie:»Bringt den Mann ins Krankenrevier!«Dann Leutnant Veitch:»Befehl belegt! Dem kann kein Arzt mehr helfen!»
Armer Teufel, dachte Bolitho. Kämpfte da oben mit dem peitschenden Segel und mußte sich so weit über die große, schwingende Rah vorbeugen, obwohl er sich nur mit den Füßen festklammern konnte. Rechts und links von ihm seine Kameraden: fluchend, in die Nacht schreiend, zerrten sie an der nassen, harten Leinwand, bis die Fingernägel abbrachen und die Knöchel bluteten. Ein Abrutschen, ein unvermuteter Windstoß, und er war gefallen.»An die Brassen! Klar bei Ruder!»
«Langsam aufkommen, wenn ich's sage!«fauchte Grubb.»Ganz vorsichtig, als wenn's ein Baby war!«»Ruder nach Luv!»
Wieder huschten unbestimmte Gestalten durch das nasse Dunkel, ein Midshipman mit blutender Hand, ein Matrose, der den linken Arm an den Leib preßte, die Zähne vor Schmerzen gebleckt.
«Leebrassen — hol dicht!»
Schwerfällig tauchte die Lysander ihre siebzehnhundert Tonnen Eichenholz und Artillerie in einen Malstrom berstenden Schaumes.
Hoch oben schwankte das gereffte Marssegel, ein verkürztes, eisenhartes Rechteck, stöhnten die Masten unter dem Druck des Windes.
Bolitho sah das alles, hörte, wie sein Schiff und seine Matrosen kämpften, um den Bug in den Wind zu bringen und das Schiff in Gewalt zu behalten. Fiel das Ruder aus oder wurde das Marssegel in Streifen zerrissen wie vorhin der Klüver, dann konnte es zu spät sein.
Doch das Ruder lag in Hartlage, die Rudergasten traten mit ihren bloßen Füßen auf die nassen Planken, als marschierten sie bergauf, und der Zweidecker reagierte. Schäumend rauschte die See vom Luvlaufgang quer über Deck, wirbelte an das gegenüberliegende Schanzkleid, riß Männer und Geschirr mit. Eine ganze Menge Wasser würde seinen Weg hinunter in den Schiffsraum finden. Die Pumpen mußten schon arbeiten, aber in dem allgemeinen Krach konnte Bolitho sie nicht hören. Vorräte würden verderben; Trinkwasser, so kostbar wie Schießpulver, würde verunreinigt werden und nicht mehr zu genießen sein.
Bolitho ließ die Netze los und ließ sich vom Wind das krängende Deck hinabstoßen, bis er beim Kompaß war.
«Schiff zeigt fast genau nach Nord, Sir!«brüllte Grubb und sah einem wimmernden Mann nach, der vorbeigetragen wurde.»Sie müßte sich halten können!»
«Sie muß!«erwiderte Bolitho und sah, daß seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlten.»Wenn wir vor diesem Wind ablaufen, müssen wir so lange zurückkreuzen, daß wir niemals rechtzeitig kommen!»
Grubb sah ihm nach und fragte dann den Steuermannsmaaten:»Was sagen Sie dazu, Mr. Plowman?»
Plowman hielt sich am Kompaßgehäuse fest; im schwachen Licht der Lampe schimmerte sein Ölzeug wie nasse Seide.»Ich habe Mr. Gilchrist rechtzeitig gesagt, er soll >Alle Mann< pfeifen lassen. Hol ihn der Teufel, seinetwegen wären wir beinahe alle abgesoffen!»
Grubb verzog das Gesicht.»Dazu kann es immer noch kommen!»
Bolitho kämpfte sich wieder zur Reling — da hörte er einen Schrei:»Köpfe weg da unten! Die Vorbramrah geht stiften!»
Und ehe sich jemand rühren oder etwas unternehmen konnte, schlug die Bramrah des Vormastes heftig nach Lee, hing quälende Sekunden lang still und sauste dann hinab wie ein abgebrochener Ast. Stage und Fallen, Spieren und Blöcke kamen in knatterndem Gewirr hinterher; das Ganze blieb mit schmetterndem Krachen an Steuerbord unterhalb des Bugs hängen. Wie der Stoßzahn eines gespenstischen Nachtungeheuers leuchtete das aufgetauchte Vorbramsegel in der Finsternis.
Bolitho sah, wie Farquhar sich auf der Luvlaufbrücke nach vorn kämpfte, bis auf die Haut durchnäßt, eine Schulter bloß und blutig. Er sah alles so klar, als betrachte er eine Zeichnung und nicht ein Schiff, das um sein Überleben kämpfte.
Hätte Herrick das Schiff kommandiert, so wäre das alles nicht passiert. Kein Leutnant hätte Angst gehabt, ihn rechtzeitig an Deck holen zu lassen; wie seine Fähigkeiten als Stratege und Kommodore-Stellvertreter auch sein mochten — jedenfalls war er ein erstklassiger Seemann.
«Zwanzig Mann nach vorn!«brüllte Bolitho und rannte selbst an Farquhar vorbei zum Vorschiff. Allday war dicht hinter ihm — das wußte er, ohne hinzusehen.
Pfeifen schrillten, Stimmen antworteten. Marine-Infanteristen und Matrosen, manche vollbekleidet, manche halbnackt, kämpften sich durch Sturm und Gischt nach vorn, wo bereits der Bootsmann und einige ältere Matrosen im Gewirr des Tauwerks arbeiteten.
Bolitho merkte, wie das Schiff sich hob und dann schwer in einen tiefen Wellentrog fiel, und er hörte Schreckensgeschrei, weil die gebrochene Rah krachend gegen den Rumpf schlug.
Er sah, daß Pascoe schon da war, und rief:»Hast du da Aufsicht?»
Pascoe schüttelte den Kopf.»Mr. Yeo kappt das Treibgut, Sir!«Er duckte sich mit gekreuzten Armen wie ein Preisboxer, denn eine mächtige Wasserwand stürzte über den keuchenden Männern zusammen.»Und Mr. Gilchrist führt die Hauptabteilung am Kranbalken!»
Bolitho nickte zustimmend und sagte zu Allday:»Wir fassen mit zu. Achtern können wir doch nichts mehr tun.»
Er kletterte durch riesige Schlingen Tauwerks nach unten; innerhalb von Sekunden waren seine Hände und Schienbeine blutig.
Jemand sagte:»Zum Teufel, das is' ja der Kommodore, Jungs!«Und ein anderer murmelte:»Na, dann muß es ja ziemlich schlimm stehen!»
Bolitho blickte über Bord und sah die schäumende Bugwelle, wo die gebrochene Rah wieder und wieder wie ein Rammbock in den Schiffsrumpf krachte. In der Dunkelheit schimmerten die gesplitterten Bruchstellen des Holzes wie die Zähne eines hohnlachenden Mauls. Es schien hoffnungslos.
Er sah, wie Gilchrist mit fuchtelnden Armen auftauchte.
«Äxte, Mr. Yeo! Lassen Sie die Rah ganz, aber kappen Sie die Taue, so schnell Sie können!»
Ein Mann versuchte, von seinem gefährlichen Sitz auf dem Kranbalken wegzuklettern, doch Gilchrist packte ihn und zwang ihn, in das tobende Wasser unter dem mächtigen Ankerstock hinunterzusehen.
«Wir retten das Schiff, oder wir saufen zusammen ab! Jetzt klarier' die Leine da, oder ich will morgen dein Rückgrat sehen!»
Gilchrists Zorn, sein unbeabsichtigter Hinweis, daß es tatsächlich ein Morgen geben würde, schien zu wirken. Keuchend und fluchend warfen sie sich in den Kampf gegen die gebrochenen Spieren; mit ihrer Wut hielten sie ihre Angst im Zaum und verschlossen die Ohren vor dem Heulen des Windes.
Bolitho arbeitete Schulter an Schulter mit namenlosen Gestalten und nutzte die Anstrengung, um seine Gedanken zu ordnen. Die Vormaststenge konnte ersetzt werden. Herrick hatte vor dem Auslaufen für einen guten Vorrat an Reservespieren gesorgt. Wenn die Rah gerettet werden konnte, dann mußte das Schiff in ein paar Tagen wieder seine normale Segelkraft haben, ruhigeres Wetter vorausgesetzt. Aber das würde Zeit kosten und die Ankunft auf ihrer Position verzögern, die er so sorgfältig ausgesucht hatte, um die Transportschiffe des Feindes abzufangen.
«Mr. Pascoe!«schrie Gilchrist.»Gehen Sie mit ein paar Männern ein Stück nach achtern und sichern Sie die Spiere!»