Einen steilen Abhang hinab und dann in eine enge Schlucht. Bolitho hatte den Eindruck, daß jeder fallende Stein so viel Lärm machte wie ein Felsrutsch. Und doch war es hier seltsam friedlich. Wie Colpoys schon festgestellt hatte, gab es keine Vogelexkremente, woraus zu schließen war, daß Vögel nur selten in diese öde Gegend kamen. Nichts hätte ihren heimlichen Vormarsch eher verraten als der kreischende Protest von aus ihren Nestern aufgescheuchten Seevögeln.
Die Sonne stieg höher, und die Felsen glühten vor Hitze. Sie zogen sich die Hemden aus und wickelten sie wie Turbane um ihre Köpfe; da jeder seine blanke Waffe in der Faust trug, sahen sie mindestens so sehr nach Piraten aus wie die Männer, auf die sie Jagd machten. Jury packte Bolithos Arm.»Da oben! Ein Posten!«Bolitho riß Jury mit sich zu Boden. Er fühlte, wie die Spannung des Kadetten nacktem Entsetzen wich, denn der» Posten «war einer von Don Carlos' Offizieren. Seine Leiche war an einen in der Sonne stehenden Pfahl genagelt, und seine einst schmucke Uniform war blutdurchtränkt.
Jury flüsterte:»Seine Augen! Sie haben ihm die Augen ausgestochen!»
Bolitho schluckte krampfhaft.»Kommen Sie, wir haben noch ein langes Stück vor uns.»
Schließlich erreichten sie einen Haufen loser Steinblöcke, von denen einige frische Bruchkanten und auch Schwärzungen aufwiesen. Bolitho schloß daraus, daß sie von der einleitenden Breitseite der San Augustin weiter oben ausgebrochen worden und heruntergerollt waren.
Er warf sich zwischen zwei Blöcke, fühlte ihre Hitze auf seiner Haut brennen und gleichzeitig ein schmerzendes Pochen in der Narbe überm Auge, als er sich tiefer in einen Spalt preßte, wo man ihn nicht sehen konnte. Jury quetschte sich daneben, und Bolithos Schweiß tropfte auf ihn, als er langsam den Kopf hob und auf die Lagune hinunterschaute.
Er hatte erwartet, daß der eroberte Spanier auf Grund lag oder von den siegreichen Piraten abgetakelt und ausgeplündert wurde, doch was er sah, war ein Bild bester Effektivität und Disziplin. Die San Augustin lag sauber vor Anker, auf ihrem Oberdeck und auf den Masten und Rahen wimmelte es von Menschen. Sie hämmerten, sägten, spleißten und schoren neues Tauwerk ein. Es war das gleiche Bild wie aufjedem Kriegsschiff der Welt.
Die vordere Bramstenge, die in dem kurzen Gefecht weggeschossen worden war, war bereits durch eine fachmännisch aufgeriggte Reservestenge ersetzt. Aus der Art, wie die Leute arbeiteten, entnahm Bo-litho, daß sie zur ursprünglichen Besatzung gehörten. Hier und da standen Gestalten an Deck, die sich nicht an der rastlosen Arbeit beteiligten. Sie hockten hinter leichten Schwenkgeschützen oder hielten schußbereite Musketen. Bolitho mußte an die gemarterte, augenlose Leiche auf dem Abhang denken und spürte einen Kloß im Hals. Kein Wunder, daß die Spanier für die Sieger arbeiteten. Man hatte ihnen eine schreckliche Lehre erteilt und sicher noch Schrecklicheres vor Augen geführt, um jeden Gedanken an Widerstand zu brechen, bevor er aufkam.
Boote legten am verankerten Schiff an, Heißtakel wurden zu ihnen hinuntergelassen und mit großen Netzen, die mit allerlei Kisten und Kästen gefüllt waren, wieder geheißt, über das Schanzkleid geschwenkt und an Deck abgesetzt.
Ein Boot pullte, von den übrigen getrennt, langsam um das Heck der San Augustin herum. Ein kleiner Mann mit sorgfältig ge stutztem Bart, der sich sehr gerade hielt, stand im Heck und zeigte mit einem schwarzen Stock mal hierhin, mal dorthin. Sogar auf die Entfernung wirkte der Mann selbstbewußt und so arrogant wie jemand, der sich durch Untaten Macht und Respekt errungen hatte. Es mußte Sir Piers Garrick sein.
Jetzt beugte er sich über das Dollbord des Bootes und zeigte mit seinem Stock wieder auf irgend etwas. Bolitho folgte der Richtung und sah, daß der Schiffsboden zum Teil aus dem Wasser ragte. Garrick ordnete sicherlich an, daß Teile der Ladung oder Munition umgestaut wurden, um seiner neuen Prise besseren Trimm und damit bessere Segeleigenschaften zu geben.
Jury flüsterte:»Was tun sie, Sir?»
«Die San Augustin macht klar zum Auslaufen. «Er rollte sich trotz der spitzen Steine auf den Rücken, um nachzudenken.»Die Destiny kann es nicht mit allen gleichzeitig aufnehmen. Wir müssen sofort handeln.»
Er sah Entschlossenheit auf Jurys Gesicht. Dieser hatte offenbar das gleiche gedacht, mit einer vertrauensvollen Siegesgewißheit, die auch Bolitho einmal gekannt hatte.
Er sagte:»Sehen Sie? Da legen weitere Boote an der San Augustin an, mit Garricks Schatz. Um ihn allein geht es. Deshalb die eigene Flottille. Und nun hat er auch noch ein Vierundvierzig-Kanonen-Schiff, mit dem er machen kann, was er will. Kapitän Dumaresq hatte recht: Nichts kann ihn mehr aufhalten. «Er lächelte matt.»Außer der Destiny.»
Bolitho sah es vor sich, als wäre es schon geschehen: die Destiny dicht unter Land, um eine Ablenkung zugunsten Pallisers zu inszenieren, während die gekaperte San Augustin dalag wie ein zum Sprung bereiter Tiger. In diesen begrenzten Gewässern würde die Destiny keine Chance haben.
«Wir müssen zurück.»
Bolitho kroch zwischen den Felsblöcken davon, während er sich innerlich noch gegen das sträubte, was getan werden mußte.
Colpoys konnte seine Erleichterung kaum verbergen, als sie den Abhang zu ihm hochkletterten. Er berichtete:»Sie haben die ganze Zeit geschuftet und die Hütten ausgeräumt. Mit Sklaven, lauter armen Teufeln. Ich sah mehr als einen, der mit einer Kette niedergeschlagen wurde.»
Danach schwieg Colpoys, bis Bolitho mit seinem Bericht fertig war. Schließlich sagte er:»Ich weiß, was Sie denken. Weil dies eine verdammt nutzlose und verrottete Insel ist, für die sich niemand interessiert und von der verflucht wenige Menschen bisher überhaupt gehört haben, fühlen Sie sich betrogen und sind nicht bereit, Menschenleben — Ihr eigenes eingeschlossen — dafür aufs Spiel zu setzen. Aber die großen Seeschlachten unter wehenden Fahnen sind eben selten. Dies wird einmal als Scharmützel, als >Zwischenfall<, bezeichnet werden. Wichtig ist allein, was wir davon halten. «Er legte sich zurück und betrachtete Bolitho ruhig.»Ich sage daher: zum Teufel mit aller übertriebenen Vorsicht. Wir werden uns zu ihrer Kanone aufmachen, ohne auf die morgige Dämmerung zu warten. Sie haben keine weitere Kanone, welche die Lagune bestreicht. Alle anderen sind auf dem Hügel mit einer anderen Zielrichtung eingegraben. Es wird Stunden dauern, sie herumzuschwenken. «Er grinste.»In der Zeit kann eine ganze Schlacht gewonnen oder verloren werden.»
Bolitho nahm wieder das Fernrohr. Seine Hände bebten, als er es auf die Hügelkuppe mit der teilweise verdeckten Kanone richtete. Es war sogar noch derselbe Ausguck wie vorhin.
Jury sagte heiser vor Erregung:»Sie haben die Arbeit eingestellt.»
«Kein Wunder. «Colpoys beschattete seine Augen.»Schauen Sie mal etwas weiter hinaus, junger Freund. Ist das nicht Anlaß genug?»
Langsam kam die Destiny in Sicht. Ihre Mars- und Bramsegel hoben sich sehr hell von dem tiefblauen Himmel ab.
Bolitho hing gebannt an dem Bild, meinte, die Schiffsgeräusche zu hören, die vertrauten Düfte zu riechen, die Geborgenheit des Bordlebens zu spüren. Er kam sich vor wie ein Mann, der in der Wüste vor Durst umkommt und dem ein Krug Wein als Fata Morgana vorschwebt. Oder wie jemand, der auf dem Weg zum Galgen stehenbleibt, um einem Sperling zuzuhören. Beide wissen, daß es für sie morgen keinen Wein mehr geben wird und auch nicht mehr den Laut der Vögel.
Er sagte entschlossen:»Auf denn! Ich sage es den anderen. Wenn wir nur eine Möglichkeit hätten, Palliser zu unterrichten!»
Colpoys rutschte den Abhang hinunter, dabei blickte er Bolitho an. Seine Augen wirkten gelb im Sonnenlicht.
«Er wird's schon merken, Richard. Die ganze verdammte Insel wird's merken.»
Colpoys wischte sich Gesicht und Nacken mit dem Taschentuch. Es war Nachmittag, und die glühende Hitze, die von den Felsen abgestrahlt wurde, war eine Qual.