Als sie Bolitho und seine Männer kommen sahen, hatten sie sicher geglaubt, er wolle Jagd auf sie machen. Sobald die Boote der Destiny auf den Pistolenschuß und die plötzliche Panik der Kutterbesatzung hin ans Ufer kamen, waren die Sklaven auch auf sie losgegangen. Colpoys hatte die Schwenkgeschütze und die Musketen auf sie gerichtet. Als der Pulverqualm sich verzogen hatte, war niemand mehr am Leben.
Bulkley machte auf der obersten Stufe des Niedergangs halt und lauschte dem Quietschen der Blöcke und dem Getrappel der nackten Füße, als die Matrosen an Schoten und Brassen holten, um ihr Schiff auf den richtigen Kurs zu bringen.
Für ein Kriegsschiff war dies nur ein kleines Zwischenspiel. Etwas, das man im Logbuch eintrug — bis zur nächsten Herausforderung, dem nächsten Kampf. Er warf einen Blick auf die hin und her pendelnde Hängelaterne und den rotröckigen Posten darunter.
Und doch, entschied er, gab es einige Dinge, für die es sich zu leben lohnte.
XII Geheimnisse
Die Tage von Bolithos Genesung vergingen ihm wie ein Traum. Von seinem zwölften Lebensjahr an, seit er als Kadett zur See gegangen war, war er an die ständigen Anforderungen des Bordlebens gewöhnt. Bei Tag und bei Nacht, jederzeit und unter allen Bedingungen, war er bereit gewesen, mit seinen Kameraden zusammen jeden Befehl zu erfüllen, und war sich gleichzeitig stets der Folgen bewußt gewesen, wenn er seine Pflichten vernachlässigte.
Als aber die Destiny jetzt langsam durch die Karibik nordwärts segelte, war er gezwungen, sich mit seiner Tatenlosigkeit abzufinden, stillzuliegen und auf die vertrauten Geräusche vor der Kajüte oder über seinem Kopf zu lauschen.
Dieser Traum wurde ihm erträglich durch die Gegenwart Auroras. Selbst die schrecklichen Schmerzen, die ihn plötzlich und erbarmungslos überfielen, wurden durch sie irgendwie gemildert, gerade weil sie seine kümmerlichen Versuche, sie vor ihr zu verbergen, durchschaute.
Sie hielt dann seine Hand oder legte ihm ein feuchtes Tuch auf die Augen. Manchmal, wenn der Schmerz seinen Schädel wie ein glühendes Eisen zu durchbohren schien, umschlang sie seine Schultern und drückte das Gesicht an seine Brust, wobei sie leise Worte murmelte, als könne sie damit den Anfall besänftigen.
Wenn er sie von seinem Lager aus sehen konnte, beobachtete er jede ihrer Bewegungen. So lange seine Kräfte reichten, erklärte er ihr die Schiffsgeräusche, nannte ihr die Namen der Seeleute, soweit er sie selber kannte, und machte ihr deutlich, wie sie alle Hand in Hand arbeiten mußten, um das Schiff in Bewegung zu halten. Er erzählte ihr von seinem Zuhause in Falmouth, von seinem Bruder, den beiden Schwestern und der langen Reihe seiner Vorfahren, die zu einem Teil der See selber geworden waren.
Aurora war immer sorgsam darauf bedacht, ihn nicht mit Fragen zu beunruhigen, und ließ ihn erzählen, so lange ihm danach war. Sie futterte ihn auch, aber so, daß er sich nicht gedemütigt oder wie ein hilfloses Kind vorkam.
Nur wenn es ums Rasieren ging, war es ihr unmöglich, ernst zu bleiben.
«Aber lieber Richard, Sie brauchen doch noch gar keine Rasur!»
Bolitho bekam einen roten Kopf, weil er wußte, daß sie recht hatte. Er rasierte sich ja auch sonst nur einmal in der Woche.
Schließlich sagte sie:»Ich tue es nur Ihnen zuliebe.»
Sie führte das Rasiermesser mit größter Vorsicht, achtete auf jeden Strich und warf gelegentlich einen Blick aus dem Heckfenster, um abzuwarten, bis das Schiff wieder auf ebenem Kiel lag.
Bolitho versuchte, sich zu entspannen, und war froh darüber, daß sie seine Verkrampfung der Angst vor dem Messer zuschrieb. In Wirklichkeit war ihre aufregende Nähe daran schuld, die Berührung ihrer Brust, als sie sich über ihn neigte, und ihrer Hände auf seinem Gesicht und Hals.
«Fertig. «Sie trat zurück und musterte ihn beifällig.»Sie sehen sehr. «Sie suchte nach einem passenden Wort ihres Vokabulars,». sehr vornehm aus.»
Bolitho fragte:»Darf ich sehen?«Er bemerkte ihr Zögern.»Bitte.»
Sie nahm einen Handspiegel vom Kajütbord und sagte:»Sie sind sehr kräftig. Sie werden wieder ganz gesund.»
Er starrte das Gesicht im Spiegel an. Es schien einem Fremden zu gehören. Der Arzt hatte das Haar über der rechten Schläfe wegrasiert und zwischen Haaransatz und Augenbrauen war seine Stirn rot und schwarz angelaufen. Bulkley schien zwar zufrieden, als er den Verband abgenommen hatte, aber für Bolithos Augen wirkte die noch nicht verheilte Wunde, die noch durch die kreuz und quer laufenden Stiche der zusammenziehenden Naht vergrößert war, abstoßend.
Er sagte leise:»Ich muß dich anwidern.»
Sie legte den Spiegel weg und sagte:»Nein, ich bin stolz auf dich. Nichts kann dich aus meinem Herzen vertreiben. Seit dem Augenblick, als du hereingetragen wurdest, war ich bei dir. Ich habe über dich gewacht und kenne deinen Körper wie meinen eigenen. «Sie begegnete seinem fragenden Blick.»Diese Narbe wird bleiben, aber sie ist ein Ehrenzeichen und keine Schande.»
Etwas später verließ sie ihn, da Dumaresq sie zu sich gebeten hatte.
Der Kommandantensteward Macmillan erzählte Bolitho, daß die Destiny am kommenden Tag die Insel Saint Christopher sichten würde. Es war daher wahrscheinlich, daß der Kommandant die Angaben
Egmonts noch einmal überprüfen und sich vergewissern wollte, daß er auch jetzt dabei blieb.
Die Jagd nach dem verschwundenen Gold war Bolitho unwichtig. Während der Schmerzanfälle und als er dann in Auroras Armen der Genesung entgegenging, hatte er viel Zeit gehabt, über seine Zukunft nachzudenken. Vielleicht zu viel Zeit.
Der Fortschritt in seinem Befinden zeigte sich auch darin, daß verschiedene Besucher kamen. Rhodes, der vor Freude, ihn wiederzusehen, über das ganze Gesicht strahlte, war unverfroren wie immer, als er meinte:»Jetzt sehen Sie wirklich wie ein Schreckgespenst aus, Richard. Da werden sämtliche Dirnen Reißaus nehmen, wenn wir in den nächsten Hafen einlaufen. «Im übrigen war Rhodes sorgsam darauf bedacht, Aurora nicht zu erwähnen.
Auch Palliser erschien, und seine Worte kamen fast einer Entschuldigung nahe:»Wenn ich — wie Colpoys vorschlug — Seesoldaten mitgeschickt hätte, wäre das Ganze nicht passiert. «Er zuckte mit den Schultern und sah sich in der Kajüte um. Sein Blick blieb auf den weiblichen Kleidungsstücken ruhen, die von der Zofe vor den Heckfenstern zum Trocknen aufgehängt waren.»Aber offenbar hat Ihr Krankenlager auch angenehme Seiten.»
Bulkley und der Schreiber des Kommandanten beaufsichtigten Bo-lithos erste Schritte aus der Kajüte. Bolitho genoß es, wie das Schiff unter seinen nackten Füßen lebte, aber er wußte auch, daß er noch sehr schwach und schwindlig war, so sehr er das auch zu verbergen suchte.
«Dürfte eine schwere Fraktur sein«, sagte Spillane, und Bulkley wünschte ihn und seine medizinischen Kenntnisse dafür zum Teufel. Er antwortete barsch:»Unsinn! Aber immerhin ist es erst ein paar Tage her.»
Bolitho hatte mit dem Tod gerechnet; je weiter seine Genesung fortschritt, desto undenkbarer schien es ihm, einen anderen Weg einschlagen zu müssen: daß er mit dem nächsten Schiff nach Hause geschickt, aus der Marine entlassen und nicht einmal auf Halbsold» zur späteren Verwendung «gesetzt werden würde.
Gerne hätte er sich bei Stockdale bedankt, aber dem war es trotz seiner guten Beziehungen an Bord bisher nicht gelungen, am Posten Kajüte vorbeizukommen. Alle Midshipmen mit der bemerkenswerten Ausnahme von Coldroy hatten ihn besucht und seine schreckliche Narbe mit einem Gemisch aus Mitleid und Ehrfurcht angestarrt. Jury war es unmöglich gewesen, seine Gefühle zurückzuhalten.»Und ich habe wegen eines Nadelstichs geheult wie ein Baby!«rief er aus.
Es war schon später Abend, als Aurora in die Kajüte zurückkehrte. Er spürte eine Veränderung an ihr, bemerkte die Geistesabwesenheit, mit der sie sein Kopfkissen glattstrich und nachschaute, ob seine Wasserkaraffe gefüllt war.