Bolitho fuhr fort, seine Gefühle einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Er hatte Angst gehabt, als er glaubte, eingeklemmt unter Deck mit der Heloise untergehen zu müssen. Noch nie war er so kurz vor dem Verzweifeln gewesen. Und doch hatte er auch schon davor Kämpfe mitgemacht, sogar viele Male; bereits als zwölfjähriger Kadett hatte er auf seinem ersten Schiff die Zähne zusammenbeißen müssen, als der Donner einer vollen Breitseite der Manxman über das Wasser rollte.
In seiner Koje, nur durch die dünne Tür seiner Kammer von der übrigen Welt getrennt, hatte er über seine Angst nachgedacht und sich gefragt, wie seine Kameraden ihn wohl sahen und beurteilten.
Sie selber schienen sich kaum über den Augenblick hinaus Gedanken zu machen: Colpoys wirkte hochmütig und gelangwe ilt, Palliser unerschütterlich und immer auf dem Sprung, Rhodes recht sorglos. Aber vielleicht hatte Bolithos Erlebnisse auf der Heloise und dann auf der Brigg doch einen stärkeren Eindruck auf ihn gemacht, als er geglaubt hatte. Er hatte mehrere Menschen getötet oder verwundet und mit angesehen, wie andere ihre Feinde mit offensichtlicher Wollust niedergehauen hatten. Ob er sich jemals daran würde gewöhnen können? An den Geruch des fremden Atems dicht vor dem eigenen, an die Ausstrahlung seiner Körperwärme, wenn er versuchte, einen im Nahkampf zu überlisten. An seine Freude, wenn er glaubte, daß man fiel, und an sein Entsetzen, wenn die eigene Klinge in sein Fleisch und auf sein Knochengerüst stieß…
Einer der beiden Rudergänger meldete:»Kurs Nordnordost liegt an,
Sir.»
Als Bolitho sich umdrehte, sah er die untersetzte Gestalt des Kommandanten aus dem Niedergang auftauchen.
Dumaresq war ein schwergewichtiger Mann, aber er bewegte sich so geschmeidig wie eine Katze.
«Alles ruhig, Mr. Bolitho?»
«Aye, Sir. «Er roch nach Brandy, und Bolitho schloß daraus, daß der Kommandant gerade seine Abendmahlzeit beendet hatte.
«Ein tüchtiges Stück haben wir da vor uns. «Dumaresq wippte auf seinen Fersen und sah hoch, um den Stand der Segel und die ersten blassen Sterne zu beobachten. Er wechselte das Thema.»Haben Sie sich von Ihrer kleinen Schlacht erholt?»
Bolitho kam sich entblößt vor. Es war, als hätte Dumaresq seine geheimsten Gedanken erraten.»Ich glaube schon, Sir.»
Dumaresq blieb beharrlich dabei.»Haben Sie Angst gehabt?»
«Zeitweise. «Er nickte in Erinnerung an das Gewicht der Trümmer auf seinem Rücken und an das Gurgeln des steigenden Wassers.
«Gutes Zeichen. «Dumaresq nickte.»Werden Sie nie zu hart — wie schlechter Stahl. Sonst würden Sie eines Tages brechen.»
Bolitho fragte vorsichtig:»Nehmen wir die Passagiere die ganze Strecke mit, Sir?»
«Zumindest bis nach Saint Christopher. Dort werde ich die Hilfe des Gouverneurs in Anspruch nehmen, um eine Nachricht an unseren Befehlshaber dort oder auf Antigua zu schicken.»
«Und der Schatz, Sir? Besteht noch Aussicht, ihn wiederzufinden?»
«Einige Aussicht, ja. Aber ich vermute, daß wir ihn auf ganz andere Weise entdecken, als ursprünglich vorgesehen. Der Geruch von Aufruhr hängt in der Luft. Er schmort seit dem Ende des Krieges und breitet sich immer weiter aus. Früher oder später werden unsere alten Feinde wieder zuschlagen. «Dumaresq wandte sich um und sah Bo-litho an, als ringe er um einen Entschluß.»Als wir noch in Plymouth waren, habe ich von den jüngsten Erfolgen Ihres Bruders gelesen. Er stellte und tötete einen Rebell, der nach Amerika fliehen wollte, einen Mann von hohem Ansehen, der sich aber als ebenso verderbt erwies wie der gemeinste Verräter.«[11]
Bolitho erwiderte ruhig:»Aye, Sir. Ich war dabei.»
«Tatsächlich?«Dumaresq kicherte in sich hinein.»Davon war in der Gazette aber nichts erwähnt. Ihr Bruder wollte wohl den ganzen Ruhm für sich allein?»
Er wandte sich ab, bevor Bolitho fragen konnte, was für eine Verbindung — wenn überhaupt — es gab zwischen ihrem Scharmützel im englischen Kanal und dem mysteriösen Piers Garrick.
Dumaresq verkündete:»Ich werde jetzt mit Mr. Egmont Karten spielen. Der Doktor hat ihn als seinen Partner akzeptiert, und ich werde unseren tapferen Mr. Colpoys als meinen wählen. «Er schüttelte sich vor Lachen.»Wir könnten ja eine von Egmonts Geldkassetten leeren, bevor wir vor Basseterre ankern.»
Bolitho seufzte und ging langsam an die Querreling. In einer halben Stunde war Wachwechsel: ein paar Worte mit Rhodes und dann hinunter in die Messe.
Er hörte Yeames, den Steuermannsmaat der Wache, ungewöhnlich höflich murmeln:»Hallo, guten Abend, meine Damen!»
Bolitho fuhr herum, und sein Herz begann zu pochen, als er Aurora vorsichtig und bei ihrer Zofe eingehakt an die Leereling des Achterdecks treten sah.
Er bemerkte, daß sie zögerte, und wußte nicht, was er tun sollte.
«Lassen Sie mich Ihnen helfen«, sagte er schließlich, überquerte das Deck und ergriff ihre ausgestreckte Hand. Durch den Handschuh fühlte er die Wärme ihrer Finger, das zarte Gelenk.
«Kommen Sie auf die Luvseite, Madam. Da spritzt es nicht so, und der Ausblick ist besser.»
Sie leistete keinen Widerstand, als er sie das schräge Deck hinauf zur anderen Seite geleitete. Dann zog er sein Taschentuch und wickelte es um das Hängemattsnetz. So gelassen wie möglich erklärte er ihr, daß dies zum Schutz ihres Handschuhs vor Teer und anderen Verunreinigungen geschehe.
Sie stand nahe an den Netzen und blickte über das dunkle Wasser in die Ferne. Bolitho roch ihr Parfüm und spürte ihre verwirrende Nähe.
Schließlich sagte sie:»Eine lange Reise bis zur Insel Saint Christopher, nicht wahr?«Sie wandte sich um und schaute ihn an, aber ihre Augen lagen im Dunkeln.
«Wir werden über zwei Wochen brauchen, meint Mr. Gulliver, Madam. Es sind gut dreitausend Meilen.»
Er sah ihre Zähne in der Dunkelheit leuchten, wußte aber nicht, ob das Lächeln Bestürzung oder Ungeduld mit einschloß.
«Über dreitausend Meilen, Leutnant?«Dann nickte sie.»Ich verstehe.»
Durch das offene Skylight hörte Bolitho Dumaresqs kehliges Lachen und Colpoys Erwiderung. Sie waren zweifellos beim Kartenausteilen. Auch Aurora hatte es gehört und sagte schnell zu ihrer Zofe:»Du kannst uns verlassen. Das war ein schwerer Tag für dich.»
Sie folgte dem Mädchen mit den Blicken, als es sich zum Niedergang tastete, und fügte für Bolitho hinzu:»Sie war ihr Leben lang nur auf festem Boden. Das Schiff muß ihr sehr fremd sein.»
Bolitho fragte:»Was haben Sie vor? Wo werden Sie nach allem, was geschah, Sicherheit finden?»
Sie neigte den Kopf, als Dumaresq wieder laut lachte.»Das hängt von ihm ab. «Sie sah an Bolitho vorbei, und ihre Augen schimmerten wie die Gischt, als sie fragte:»Ist es Ihnen denn so wichtig?»
«Das wissen Sie doch. Ich mache mir schreckliche Sorgen.»
«Wirklich?«Mit der freien Hand ergriff sie seinen Arm.»Sie sind ein lieber Junge. «Als sie fühlte, daß er erstarrte, setzte sie sanft hinzu:»Ich bitte um Entschuldigung. Sie sind kein Junge, sondern ein Mann, das haben Ihre Taten bewiesen, als ich dachte, daß ich sterben müßte.»
Bolitho lächelte.»Ich bin es, der um Entschuldigung bitten muß. Weil ich so gern möchte, daß Sie mich mögen, benehme ich mich wie ein Narr.»
Sie drehte sich um und trat näher, um ihn anzuschauen.»Sie meinen es ehrlich, das weiß ich.»
«Wären Sie nur in Rio geblieben!«Bolitho marterte sich das Hirn, wie er ihr helfen könnte.»Mr. Egmont hätte Ihr Leben nicht aufs Spiel setzen dürfen.»
Sie schüttelte den Kopf, und die Bewegung ihrer tanzenden Haare stach Bolitho wie ein Dolch ins Herz.
«Er war immer gut zu mir. Ohne ihn wäre ich schon vor langer Zeit verloren gewesen. Ich habe spanisches Blut. Als meine Eltern starben, wollte man mich einem portugiesischen Händler als Ehefrau verkaufen. «Sie schüttelte sich.»Ich war erst dreizehn. Und er war ein fettes Schwein.»