»Gut. Und jetzt gehen Sie mit mir hinaus. Wir essen irgendwo. Und wir werden etwas trinken – auf die Aufenthaltserlaubnis und auf Kern. Er ist ein erfahrener Soldat. Wir alle sind Soldaten. Sie auch. Habe ich recht?«
»Ja.«
»Kern würde sich fünfzigmal mit Jubel ausweisen lassen für das, was Sie da in der Hand halten, das wissen Sie doch?«
»Ja, aber ich würde hundertmal lieber nicht…«
»Ich weiß«, unterbrach Marill.»Darüber reden wir, wenn er wieder da ist. Das ist eine der ersten Soldatenregeln.«
»Hat er Geld, um zurückzufahren?«
»Das nehme ich an. Als alte Kämpfer haben wir immer so viel bei uns für den Notfall. Wenn er nicht genug hat, schmuggelt Klassmann den Rest hinein. Er ist unser Vorposten und unsere Patrouille. Und nun kommen Sie! Manchmal ist es verdammt gut, daß es Schnaps gibt auf der Welt. In der letzten Zeit besonders!«
STEINER WAR SEHR wach und gespannt, als der Zug an der Grenze hielt. Die französischen Zollbeamten gingen gleichgültig und rasch durch. Sie fragten nach dem Paß, stempelten ihn und verließen das Abteil. Der Zug fuhr wieder an und rollte langsam weiter. Steiner wußte, daß in diesem Augenblick sein Schicksal entschieden war; er konnte nicht mehr zurück.
Nach einer Weile kamen zwei deutsche Beamte und grüßten.»Bitte Ihren Paß.«
Steiner nahm das Heft und gab es dem jüngeren, der gefragt hatte.»Wozu reisen Sie nach Deutschland?«fragte der andere.
»Ich will Verwandte besuchen.«
»Leben Sie in Paris?«
»Nein, in Graz. Ich habe in Paris einen Verwandten besucht.«
»Wie lange wollen Sie in Deutschland bleiben?«
»Ungefähr vierzehn Tage. Dann fahre ich wieder nach Graz zurück.«
»Haben Sie Devisen bei sich?«
»Ja. Fünfhundert Francs.«
»Wir müssen das in den Paß eintragen. Haben Sie das Geld aus Österreich mitgebracht?«
»Nein, ein Vetter in Paris hat es mir gegeben.«
Der Beamte betrachtete den Paß, dann schrieb er etwas hinein und stempelte ihn.
»Haben Sie etwas zu verzollen?«fragte der andere.
»Nein, nichts.«Steiner nahm seinen Koffer herunter.
»Haben Sie noch großes Gepäck?«
»Nein, dieses hier ist alles.«
Der Beamte sah flüchtig in den Koffer.»Haben Sie Zeitungen, Drucksachen oder Bücher bei sich?«
»Nichts.«
»Danke.«Der jüngere Beamte gab Steiner den Paß zurück. Beide grüßten und gingen. Steiner atmete auf. Er merkte plötzlich, daß er naß von Schweiß war.
Der Zug begann schneller zu fahren. Steiner lehnte sich zurück und blickte durch die Scheiben. Draußen war es Nacht, Wolken zogen rasch und niedrig über den Himmel, und dazwischen blinkten die Sterne. Kleine, halb erleuchtete Bahnhöfe flogen vorüber. Die roten und grünen Lichter der Signale huschten vorüber, und die Schienen glänzten. Steiner ließ das Fenster herunter und sah hinaus. Der feuchte Fahrtwind riß an seinem Gesicht und an seinen Haaren. Er atmete tief; es schien eine andere Luft zu sein. Es war ein anderer Wind, es war ein anderer Horizont, es war ein anderes Licht, die Pappeln an den Straßen bogen sich anders und vertrauter, die Straßen selbst führten irgendwo in sein Herz – er atmete tief, es war ihm heiß, sein Blut klopfte, die Landschaft hob sich und sah ihn an, rätselhaft und doch nicht mehr fremd – verdammt, dachte er, was ist das, ich werde sentimental! Er setzte sich wieder hin und versuchte zu schlafen – aber er konnte es nicht. Die dunkle Landschaft draußen lockte und rief, sie wurde zu Gesichtern und Erinnerungen, die schweren Jahre des Krieges standen wieder auf, als der Zug über die Rheinbrücke donnerte; das Wasser, schillernd und mit dumpfem Rauschen dahintreibend, warf hundert Namen hoch, verschollene, tote, fast schon vergessene Namen, Namen von Regimentern und Kameraden, von Städten und Lagern, Namen aus der Nacht der Jahre, es war ein Anprall, und Steiner stand plötzlich im Sturm seiner Vergangenheit und wollte sich wehren und konnte es nicht.
Er war allein im Abteil. Er zündete eine Zigarette nach der anderen an und wanderte hin und her in dem kleinen Raum. Er hatte nicht geglaubt, daß alles noch eine solche Gewalt über ihn haben könnte. Krampfhaft begann er sich zu zwingen, an morgen zu denken, daran, wie er versuchen mußte, durchzukommen, ohne Aufsehen zu erregen, an das Krankenhaus, an seine Lage, und wen von seinen Freunden er aufsuchen und fragen könnte.
Aber all das erschien ihm im Augenblick sonderbar neblig und unwirklich – es entwich ihm, wenn er es fassen wollte, sogar die Gefahr, in der er schwebte und der er entgegenfuhr, verblich zu einer abstrakten Vorstellung, sie hatte keine Kraft, sein zitterndes Blut kühl und zum Nachdenken zu zwingen, im Gegenteil, sie peitschte es mit auf zu einem Wirbel, in dem sich sein Leben wie in einem dunklen Tanz und einer mystischen Wiederkehr zu drehen schien. Da gab er es auf. Er wußte, es war die letzte Nacht; morgen würde alles überschattet sein von dem andern – es war die letzte reine Nacht im Ungewissen, im Sturm des Gefühls, es war die letzte Nacht ohne das grausame Wissen und die Klarheit des Verderbens. Er gab es auf, zu denken. Er gab sich hin.
Die Nacht entfaltete sich groß vor dem Fenster des dahinja-genden Zuges. Sie war ohne Ende, sie entfaltete sich über vierzig Jahre eines Mannes und über sein Leben, für das vierzig Jahre die Ewigkeit bedeuteten. Die Dörfer, die vorüberglitten, mit wenigen Lichtern und vereinzeltem Hundelaut, waren alle die Dörfer seiner Kindheit – er hatte in allen gespielt, über alle waren seine Sommer und Winter dahingegangen, und die Glocken ihrer Kapellen hatten überall für ihn geläutet. Die Wälder, die schwarz und verschlafen vorüberflogen, waren alle die Wälder seiner Jugend – ihr grüngoldenes Dämmer hatte seine ersten Streifzüge überschattet, in ihren glatten Teichen hatte sich sein atemloses Gesicht gespiegelt, wenn er das Leben der gefleckten Molche mit den roten Bäuchen belauerte – und der Wind, der in den Buchen harfte und in den Tannen sang, war der uralte Wind der Abenteuer gewesen. Die matt leuchtenden Straßen, die wie ein Netz die mächtigen Felder überspannten, waren alle die Straßen seiner Unruhe gewesen, er war auf ihnen allen gewandert, er hatte an ihren Kreuzungen gezögert, er kannte ihren Abschied und ihre Hoffming und ihre Wiederkehr von Horizont zu Horizont, er kannte ihre Meilensteine und die Gehöfte, die an ihnen lagen. Und die Häuser, unter deren Dächern geduckt das Licht gefangen war und wie die Verheißung von Wärme und Heimat rötlich aus den Fenstern leuchtete; er hatte in jedem ihrer Fenster gewohnt, er kannte den sanften Druck der Türklinken, er wußte, wer unter dem Lampengrund wartete, die Stirn ein wenig gesenkt, das goldene, feuerfarbene Haar übersprüht von Funken – sie, deren Gesicht überall gestanden und gewartet hatte, an allen Straßen und in allen Winkeln der Welt, verdunkelt manchmal und oft fast unsichtbar, überflutet von Sehnsucht und Vergessenwollen, das Antlitz seines Lebens, dem er nun entgegenfuhr, das Gesicht, das sich jetzt über den Nachthimmel ausbreitete, die Augen, die hinter den Wolken schimmerten, der Mund, der vom Horizont her lautlose Worte sprach, die Arme, die er schon fühlte im Wind, im Wehen der Bäume, und das Lächeln, in dem die Landschaft und sein Herz versanken im Ansturm des unendlichen Gefühls.
Er spürte, wie seine Adern schmolzen und sich öffneten, wie sein Blut hinauszuströmen schien in den verklärten Strom, der draußen flutete und es aufnahm und stärker mit ihm zurückkehrte, der seine Hände trug und sie mit sich nahm zu fernen Händen, die sich ihm entgegenstreckten, diesen kreisenden Strom, der Stück um Stück von ihm wegbröckelte und wegschwemmte, der seine Vereinzelung löste wie ein Wildwasser im Frühjahr eine Eisscholle und der ihm in dieser einzigen, endlosen Nacht das einsame Glück der Allverbundenheit gab und ihm alles an die Brust schwemmte: Sein Leben, die verlorenen Jahre, den Glanz der Liebe und das tiefe Wissen um die Wiederkehr, jenseits der Zerstörung.