Sie nickte.
»Du mußt dich von mir scheiden lassen.«
Die Frau verhielt eine Sekunde den Schritt. Dann ging sie weiter.
»Du mußt dich von mir scheiden lassen. Du mußt morgen hingehen. Du mußt sagen, daß du dich wegen meiner Gesinnung scheiden lassen willst. Du hättest das alles früher nicht gewußt. Hast du es verstanden?«
Die Frau rührte den Kopf nicht. Sie ging steif aufgerichtet weiter.
»Versteh mich doch«, flüsterte Steiner.»Es ist nur, damit du in Sicherheit bist! Es würde mich verrückt machen, wenn sie dir was täten! Du mußt dich scheiden lassen – dann lassen sie dich in Ruhe!«
Die Frau antwortete nicht.
»Ich hebe dich, Marie«, sagte Steiner leise, zwischen den Zähnen hindurch, und die Augen flimmerten ihm vor Erregung.»Ich liebe dich, und ich gehe nicht weg, wenn du es nicht versprichst! Ich gehe zurück, wenn du es nicht versprichst! Verstehst du mich?«
Nach einer Ewigkeit, schien ihm, nickte die Frau.
»Versprichst du es mir?«
Die Frau nickte langsam. Ihre Schultern sanken zusammen.
»Ich biege jetzt ab und komme den Gang rechts herauf. Geh links herum und komme mir entgegen. Sprich nichts, tu nichts! Ich will dich nur noch einmal sehen. Dann gehe ich. Wenn du nichts hörst, bin ich durchgekommen.«
Die Frau nickte und ging rascher.
Steiner bog ab und ging die Gasse rechts hinauf. Sie war eingesäumt von den Buden der Schlächter. Frauen mit Körben feilschten vor den Ständen. Das Fleisch glänzte blutig und weiß in der Sonne. Es roch unerträglich. Die Schlächter schrien. Aber plötzlich versank alles. Das.Hacken der Beile auf den Holzklötzen wurde zum feinen Dengeln von Sensen. Eine Wiese war da, ein Kornfeld, Freiheit, Birken, Wind und der geliebte Schritt und das geliebte Gesicht. Ihre Augen faßten sich und ließen sich nicht los, und in ihnen war alles: Schmerz und Glück und Liebe und Trennung, das Leben schwankend hoch über ihren Gesichtern, voll und süß und wild, und der Verzicht, das rasende Kreisen der tausend flimmernden Messer.
Sie gingen und standen still zugleich, und sie gingen und wußten es nicht. Dann stürzte die Leere grell in Steiners Augen, und erst nach einer Weile unterschied er wieder die Farben und das Kaleidoskop, das sinnlos vor seinen Augäpfeln abrollte und nicht eindrang.
Er stolperte weiter, dann ging er rasch, so schnell er konnte, ohne aufzufallen. Er stieß die Hälfte eines geschlachteten Schweines von einem mit Wachstuch belegten Tisch, er hörte das Schimpfen des Schlächters wie das Rasseln einer Trommel, er lief um die Ecke der Budengasse und blieb stehen.
Er sah sie fortgehen vom Markt. Sie ging sehr langsam. An der Ecke der Straße blieb sie stehen und drehte sich um. So stand sie lange Zeit, das Gesicht etwas emporgehoben, die Augen weit offen. Der Wind zerrte an ihren Kleidern und drückte sie gegen ihren Körper. Steiner wußte nicht, ob sie ihn sah. Er wagte nicht, sich ihr noch einmal zu zeigen. Er ahnte, daß sie vielleicht zurücklaufen würde zu ihm. Nach einer Weile hob sie die Hände und legte sie um ihre Brüste. Sie hielt sie ihm hin. Sie hielt sich ihm hin. Sie hielt sich ihm hin in einer schmerzvoll leeren, blinden Umarmung, den Mund geöffnet, mit geschlossenen Augen. Dann wandte sie sich langsam ab, und die Schattenschlucht der Straße verschluckte sie.
Drei Tage später kam Steiner über die Grenze. Die Nacht war hell und windig, und der Mond stand kreidig am Himmel. Steiner war ein harter Mensch, aber als er die Grenze überquert hatte, naß von kaltem Schweiß, drehte er sich um und sagte wie irrsinnig in die Richtung, aus der er kam, den Namen seiner Frau.
ER NAHM EINE neue Zigarette heraus. Kern gab ihm Feuer.
»Wie alt bist du?«fragte Steiner.
»Einundzwanzig. Bald zweiundzwanzig.«
»So, bald zweiundzwanzig. Kein Spaß, Baby, was?«
Kern schüttelte den Kopf.
Steiner schwieg eine Zeitlang. Dann sagte er:»Mit einundzwanzig war ich im Krieg. In Flandern. War auch kein Spaß. Da ist dieses hier hundertmal besser. Verstehst du?«
»Ja.«Kern drehte sich um.»Es ist auch besser, als tot zu sein. Das weiß ich alles.«
»Dann weißt du schon viel. Vor dem Kriege wußten nur wenige Leute so was.«
»Vor dem Kriege – das war vor hundert Jahren.«
»Vor tausend. Mit zweiundzwanzig Jahren lag ich im Lazarett. Da habe ich etwas gelernt. Willst du wissen, was?«
»Ja.«
»Schön.«Steiner zog an seiner Zigarette.»Ich hatte nichts Besonderes. Fleischdurchschuß ohne viel Schmerzen. Aber neben mir lag mein Freund. Nicht irgendein Freund. Mein Freund.
Ein Splitter hatte ihm den Bauch aufgerissen. Er lag da und schrie. Kein Morphium, verstehst du? Hatten sogar für die Offiziere zuwenig. Am zweiten Tag war er so heiser, daß er nur noch stöhnte. Flehte mich an, ein Ende zu machen. Hätte es getan, wenn ich gewußt hätte, wie. Am dritten Tag gab’s mittags auf einmal Erbsensuppe. Dicke Friedenssuppe mit Speck. Vorher hatten wir nur so eine Art Aufwaschwasser gekriegt. Wir aßen sie. Waren furchtbar hungrig. Und während ich fraß wie ein heißhungriges Vieh, selbstvergessen mit Genuß fraß, sah ich über den Rand der Schüssel das Gesicht meines Freundes, die zerborstenen, aufgerissenen Lippen, ich sah, daß er unter Qualen starb, zwei Stunden später war er tot, und ich fraß und es schmeckte mir wie nie in meinem Leben.«
Er machte eine Pause.
»Ihr hattet eben schrecklichen Hunger«, sagte Kern.
»Nein, das war es nicht. Es war etwas anderes: daß neben dir jemand verrecken kann – und du nichts davon spürst. Mitleid, gut – aber die Schmerzen spürst du trotzdem nicht! Dein Bauch ist heil, das ist es. Einen halben Meter neben dir geht für einen andern die Welt unter in Gebrüll und Qual – und du spürst nichts. Das ist das Elend der Welt! Merk dir das, Baby. Deshalb geht es so langsam vorwärts. Und so schnell rückwärts. Glaubst du’s?«
»Nein«, sagte Kern.
Steiner lächelte.»Klar. Aber denk mal gelegentlich dran. Vielleicht hilft dir’s.«
Er stand auf.»Ich will los. Zurück. Der Zöllner glaubt nicht, daß ich jetzt kommen werde. Er hat die erste halbe Stunde aufgepaßt. Morgen früh wird er wieder aufpassen. Daß ich inzwischen ’rüberrücken könnte, geht nicht in seinen Kopf. Zöllnerpsychologie. Gottlob ist der Gejagte meistens nach einiger Zeit klüger als der Jäger. Weißt du warum?«
»Nein.«
»Weil für ihn mehr auf dem Spiel steht.«Er schlug Kern auf die Schulter.»Deshalb sind die Juden das schlaueste Volk der Erde geworden. Erstes Gesetz des Lebens: Gefahr schärft die Sinne.«
Er gab Kern die Hand. Sie war groß und trocken und warm.»Mach’s gut. Vielleicht sehen wir uns mal wieder. Ich werde abends öfter im Café Sperle sein. Kannst da nach mir fragen.«
Kern nickte.
»Also mach’s gut. Und vergiß das Kartenspielen nicht. Es lenkt ab, ohne daß man denken muß. Ein hohes Ziel für Leute ohne Bleibe. Du bist nicht schlecht in Jaß und Tarock. Im Poker mußt du noch mehr riskieren. Mehr bluffen.«
»Gut«, sagte Kern.»Ich werde mehr bluffen. Und ich danke dir auch. Für alles.«
»Dankbarkeit mußt du dir abgewöhnen. Nein, gewöhn sie dir nicht ab. Kommst besser damit durch. Ich meine nicht bei den Leuten, das ist gleichgültig. Bei dir. Wärmt dir das Herz, wenn du’s mal sein kannst. Und denk dran: alles besser als Krieg!«
»Und besser als tot.«
»Tot weiß ich nicht. Aber besser als sterben auf jeden Fall. Servus, Baby!«
»Servus, Steiner!«
Kern blieb noch eine Zeitlang sitzen. Der Himmel war klar geworden und die Landschaft war voll Frieden. Sie war ohne Menschen.
Kern saß schweigend im Schatten der Buche. Das helle durchscheinende Grün der Blätter bauschte sich über ihm wie ein großes Segel – als triebe der Wind die Erde sanft durch den unendlichen blauen Raum – vorbei an den Signallichtern der Sterne und der Leuchtboje des Mondes.
Kern beschloß zu versuchen, nachts noch bis Preßburg zu kommen und von da nach Prag. Eine Stadt war immer am sichersten. Er öffnete seinen Koffer und nahm das saubere Hemd und ein Paar Strümpfe hervor, um sich umzuziehen. Er wußte, daß es wichtig war, wenn ihm jemand begegnete. Er wollte es auch, um das Gefängnis loszuwerden.