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Gegen neun Uhr brachen sie auf. Sie kamen nach Genf und nahmen den Weg am See entlang. Nach einiger Zeit blieb Vogt stehen.»Sehen Sie sich das einmal an!«sagte er.

»Was?«

Vogt zeigte auf ein palastartiges Gebäude, das in einem großen Park lag. Das mächtige Haus leuchtete in der Sonne wie ein Schloß der Sicherheit und des wohlgefügten Lebens. Der herrliche Park funkelte im Gold und Rot des Herbstlaubes. Lange Reihen von Automobilen standen gestaffelt in dem breit angelegten Einfahrtshof, und Scharen vergnügter Menschen gingen aus und ein.

»Wunderbar«, sagte Kern.»Sieht aus, als ob der Kaiser der Schweiz hier wohnte.«

»Wissen Sie nicht, was das ist?«

Kern schüttelte den Kopf.

»Das ist der Palast des Völkerbundes«, sagte Vogt mit einer Stimme voller Trauer und Ironie.

Kern sah ihn überrascht an.

Vogt nickte.»Das ist der Platz, wo seit Jahren über unser Schicksal beraten wird. Ob man uns Ausweispapiere geben und uns wieder zu Menschen machen soll oder nicht.«

Ein offener Cadillac löste sich aus der Reihe der Automobile und glitt der Ausfahrt zu. Eine Anzahl eleganter, jüngerer Leute saß darin, darunter ein sehr schönes Mädchen in einem Nerzmantel. Sie lachten und winkten einem zweiten Wagen zu und verabredeten ein Frühstück am See.

»Ja«, sagte Vogt nach einer Weile.»Verstehen Sie nun, weshalb es so lange dauert?«-»Ja«, erwiderte Kern.

»Hoffnungslos, was?«

Kern hob die Schultern.»Ich glaube nicht, daß die es sehr eilig haben.«Ein Pförtner kam heran und musterte Kern und Vogt mißtrauisch.»Suchen Sie jemand?«

Kern schüttelte den Kopf.

»Was möchten Sie denn?«fragte der Pförtner.

Vogt sah Kern an. In seinen Augen blinkte ein müder Funken Spott auf.»Nichts«, sagte er dann zu dem Pförtner. «Wir sind nur Touristen. Einfache Wanderer auf Gottes Erde.«

»Dann ist es wohl besser, Sie gehen weiter«, sagte der Pförtner, dem Gedanken an verrückte Anarchisten durch den Kopf schossen.

»Ja«, sagte Vogt.»Das ist wohl besser.«

In der Rue de Montblanc sahen sie sich die Auslagen der Geschäfte an. Vor einem Juwelierladen blieb Vogt stehen.»Ich will mich hier verabschieden.«

»Wohin wollen Sie diesmal?«fragte Kern.

»Nicht mehr weit. Ich gehe in dieses Geschäft.«

Kern blickte verständnislos durch die Scheibe der Auslage, in der auf grauem Samt Brillanten, Rubine und Smaragden ausgestellt waren.

»Ich glaube, Sie werden kein Glück haben«, sagte er.»Juweliere sind bekannt hartherzig. Vielleicht, weil sie dauernd mit Steinen umgehen. Sie geben nie etwas.«

»Ich will nichts haben. Ich will nur etwas stehlen.«

»Was?«Kern sah Vogt zweifelnd an.»Meinen Sie das im Ernst? Damit werden Sie nicht weit kommen, so wie Sie jetzt sind.«

»Das will ich auch nicht. Deshalb tue ich es ja.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Kern.

»Sie werden es gleich verstehen. Ich habe es mir genau überlegt. Es ist die einzige Möglichkeit für mich, über den Winter zu kommen. Ich bekomme mindestens ein paar Monate dafür. Ich habe keine Wahl mehr. Ich bin ziemlich kaputt. Noch ein paar Wochen Grenze geben mir den Rest. Ich muß es tun.«

»Aber…«, begann Kern.

»Ich weiß alles, was Sie sagen wollen.«Vogts Gesicht fiel plötzlich zusammen, als wären die Fäden gerissen, die es gehalten hatten.»Ich kann nicht mehr…«, murmelte er.»Leben Sie wohl.«

Kern sah, daß es vergeblich war, noch etwas zu sagen. Er drückte die schwache Hand Vogts.»Hoffentlich erholen Sie sich bald.«

»Ja, hoffentlich. Das Gefängnis hier ist ganz gut.«Vogt wartete, bis Kern ein Stück weitergegangen war. Dann betrat er das Geschäft. Kern blieb an der Straßenecke stehen und beobachtete den Eingang, indem er tat, als warte er auf die elektrische Bahn. Nach kurzer Zeit sah er einen jungen Mann aus dem Geschäft stürzen und bald darauf mit einem Polizisten zurückkehren. Hoffentlich hat er nun Ruhe, dachte er und ging weiter.

STEINER FAND KURZ hinter Wien ein Auto, das ihn bis zur Grenze mitnahm. Er wollte nicht riskieren, seinen Paß österreichischen Zollbeamten vorzuzeigen – deshalb stieg er ein Stück vor der Grenze aus und ging den Rest des Weges zu Fuß. Gegen zehn Uhr abends meldete er sich am Zollamt. Er erklärte, gerade aus der Schweiz herübergeschoben worden zu sein.

»Schön«, sagte ein alter Zollbeamter mit einem Kaiser-Franz-Joseph-Bart.»Das kennen wir. Morgen früh schicken wir Sie zurück. Setzen Sie sich nur irgendwohin.«

Steiner setzte sich draußen vor die Zollbude und rauchte. Es war sehr ruhig. Der Beamte, der gerade Dienst hatte, döste vor sich hin. Nur ab und zu fuhr ein Auto durch. Ungefähr eine Stunde später kam der Beamte mit dem Kaiserbart heraus.»Sagen Sie«, fragte er Steiner:»Sind Sie Österreicher?«.

Steiner war sofort in Alarm. Er hatte seinen Paß in seinen Hut eingenäht. Wie kommen Sie darauf«, sagte er ruhig.»Wenn ich Österreicher wäre, wäre ich doch kein Emigrant.«

Der Beamte schlug sich vor die Stirn, daß sein silberner Bart wackelte.»Richtig! Richtig! Was man so manchmal alles vergißt! Ich fragte Sie nur, weil ich dachte, wenn Sie Österreicher wären, könnten Sie vielleicht Tarock spielen.«

»Tarock spielen kann ich. Das habe ich als Kind schon gelernt, im Krieg. Ich war eine Zeitlang in einer österreichischen Division.«

»Großartig! Großartig!«Der Kaiser Franz Joseph klopfte Steiner auf die Schulter.»Da sind Sie ja fast ein Landsmann. Wie ist es denn? Spielen wir eine Partie? Es paßt gerade mit der Zahl.«

»Natürlich.«

Sie gingen hinein. Eine Stunde später hatte Steiner sieben Schilling gewonnen. Er spielte nicht nach den Methoden des Falschspielers Fred – er spielte ehrlich. Aber er spielte viel besser als die Zollbeamten, so daß er gewinnen mußte, wenn sein Blatt nur einigermaßen gut war.

Um elf Uhr aßen sie zusammen zu Abend. Die Zollbeamten erklärten, es sei ihr Frühstück; ihr Dienst gehe bis morgens acht Uhr. Das Frühstück war kräftig und gut. Dann spielten sie weiter.

Steiner bekam ein sehr gutes Blatt. Der österreichische Zoll spielte mit dem Mute der Verzweiflung gegen ihn. Sie kämpften, aber sie waren fair. Um drei Uhr duzten sie sich. Und um vier Uhr waren sie völlig familiär; die Bezeichnungen Schweinehund, Mistvieh und Arschloch galten nicht mehr als Beleidigungen, sondern als spontane Ausdrücke des Erstaunens, der Bewunderung und der Zuneigung.

Um fünf Uhr kam der Zöllner vom Dienst herein.»Kinder, es ist die höchste Zeit, Josef über die Grenze zu bringen.«

Es entstand ein allgemeines Schweigen. Aller Augen richteten sich auf das Geld, das vor Steiner lag. Schließlich machte der Kaiser Franz Joseph eine Bewegung.»Gewonnen ist gewonnen«, sagte er resigniert.»Er hat uns ausgemistet. Nun zieht er davon wie eine Herbstschwalbe, dieser Galgenstrick!«

»Ich hatte gute Karten«, erwiderte Steiner.»Verdammt gute Karten.«

»Das ist es ja gerade«, sagte Kaiser Franz Joseph melancholisch.»Du hast gute Karten gehabt. Morgen hätten wir vielleicht gute Karten. Dann bist du aber nicht mehr da. Darin liegt irgendeine Ungerechtigkeit.«

»Das stimmt. Aber wo gibt es schon Gerechtigkeit, Brüder?«

»Die Gerechtigkeit beim Kartenspielen liegt darin, daß der Gewinner Revanche geben muß. Wenn er dann wieder gewinnt, kannst du nichts machen. Aber so…«Kaiser Franz Joseph hob die Hände und hielt sie flach in die Luft.»Es hat was Unbefriedigendes so…«

»Aber Kinder«, sagte Steiner.»Wenn es das allein ist! Ihr schiebt mich über die Grenze, morgen abend schieben die Schweizer mich zurück – und ich gebe euch Revanche!«

Kaiser Franz Joseph klappte seine ausgestreckten Hände zusammen. Es schallte nur so durch den Raum.»Das war es!«stöhnte er erlöst.»Wir selbst konnten es dir nicht vorschlagen, verstehst du? Weil wir ja eine Behörde sind. Wir dürfen dich nicht verleiten, die Grenze wieder zu überschreiten. Wenn du von selbst kommst, das ist was andres!«

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