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»Das ist nicht Ihr Beruf, wie?«fragte sie.

»Nein«, sagte Kern.»Ich glaube, ich bin auch nicht sehr geschickt dafür.«

»Wollen Sie arbeiten? Ich mache gerade Inventur. Zwei bis drei Tage hätte ich zu tun. Sieben Franken am Tag und gutes Essen. Sie können morgen um acht kommen.«

»Gern«, sagte Kern,»aber…«

»Ich weiß schon… von mir erfährt keiner was. Und nun geben Sie mir ein Stück Seife. Reicht das, drei Franken?«

»Es ist zuviel.«

»Es ist nicht zuviel. Es ist zuwenig. Verlieren Sie den Mut nicht.«

»Mit Mut allein kommt man nicht weit«, sagte Kern und nahm das Geld.»Aber es gibt immer wieder Glück. Das ist besser.«

»Sie können mir jetzt noch ein paar Stunden aufräumen helfen. Einen Franken die Stunde. Nennen Sie das auch Glück?«

»Ja«, sagte Kern.»Mit Glück kann man gar nicht weit genug unten anfangen. Um so öfter kommt es.«

»Lernen Sie so was unterwegs?«fragte Frau Grünberg.

»Unterwegs nicht; aber in den Pausen, wenn ich nicht unterwegs bin. Dann denke ich darüber nach und versuche, etwas daraus zu lernen. Man lernt jeden Tag etwas. Manchmal sogar von Kommerzienräten.«

»Verstehen Sie auch was von Wäsche?«fragte Frau Grünberg.

»Nur von sehr grober. Ich habe kürzlich in einem Institut zwei Monate lang nähen gelernt. Allerdings nur sehr einfache Sachen.«

»Kann nie schaden«, erklärte Frau Grünberg.»Ich kann sogar Zähne ziehen. Habe es vor zwanzig Jahren mal von einem Dentisten gelernt. Wer weiß… vielleicht mache ich damit noch gelegentlich mein Glück!«

KERN ARBEITETE BIS zehn Uhr und bekam außer einem guten Abendessen noch fünf Franken ausgezahlt. Das reichte mit dem andern für zwei Tage und gab ein besseres Gefühl als hundert Franken des Kommerzienrates Oppenheim.

Ruth wartete auf ihn in einer kleinen Pension, die aus dem Adressenverzeichnis von Binder stammte. Man konnte dort ein paar Tage wohnen, ohne angemeldet zu sein. Sie war nicht allein. Neben ihr am Tisch auf der kleinen Terrasse saß ein schlanker, älterer Mann.

»Gottlob, daß du da bist«, sagte Ruth und stand auf.»Ich habe schon Angst um dich gehabt.«

»Du mußt keine Angst haben. Wenn man Angst hat, passiert meistens nichts. Es passiert nur etwas, wenn man gar nicht damit rechnet.«

»Das ist ein Sophismus, aber keine Philosophie«, sagte der Mann, der mit Ruth am Tisch gesessen hatte.

Kern drehte sich nach ihm um. Der Mann lächelte.»Kommen Sie und trinken Sie mit mir ein Glas Wein. Fräulein Holland wird Ihnen sagen, daß ich harmlos bin. Ich heiße Vogt und war irgendwann einmal Privatdozent in Deutschland. Leisten Sie mir etwas Gesellschaft bei meiner letzten Flasche.«

»Warum bei Ihrer letzten Flasche?«

»Weil ich morgen für eine Zeitlang in Pension gehe. Ich bin müde. Ich muß mich etwas ausruhen.«

»Pension?«fragte Kern verständnislos.

»Ich nenne es so. Man kann auch Gefängnis dazu sagen. Ich werde mich morgen bei der Polizei melden und erklären, daß ich mich seit zwei Monaten illegal in der Schweiz aufhalte. Dafür bekomme ich dann ein paar Wochen Gefängnis, weil ich schon zweimal ausgewiesen worden bin. Staatspension. Es ist wichtig zu sagen, daß man schon einige Zeit wieder im Lande ist; sonst gilt der Bruch der Einreisesperre als Notstand und man wird nur über die Grenze abgeschoben.«

Kern sah Ruth an.

»Wenn Sie etwas Geld brauchen… ich habe heute ganz gut verdient.«

Vogt wehrte ab.»Danke, nein, ich habe noch zehn Franken. Das reicht für den Wein und die Nacht. Ich bin nur müde; ich will mich wieder einmal ausruhen. Und das können wir doch nur im Gefängnis. Ich bin zweiundfünfzig Jahre alt und nicht sehr gesund. Ich bin wirklich sehr müde vom Herumlaufen und Verstecken. Kommen Sie, setzen Sie sich beide zu mir. Wenn man so viel allein ist, freut man sich an Gesellschaft.«

Er goß Wein in die Gläser.»Es ist Neuchâteler; herb und rein wie Gletscherwasser.«

»Aber Gefängnis…«, sagte Kern.

»Das Gefängnis in Luzern ist gut. Ich kenne es… das ist der Luxus, den ich mir gönne; daß ich mir aussuche,, wo ich ins Gefängnis möchte. Meine Angst besteht nur darin, daß ich nicht hineinkomme. Daß ich allzu menschliche Richter finde, die mich einfach zur Grenze abschieben lassen. Dann geht es wieder von vorn an. Und für uns sogenannte Arier ist das noch schwerer als für Juden. Wir haben keine Kultusgemeinden, die uns unterstützen – und keine Glaubensgenossen. Aber sprechen wir nicht von diesen Dingen…«

Er hob sein Glas.»Wir wollen auf das Schöne trinken in der Welt… das ist unzerstörbar.«

Sie stießen miteinander an. Die Gläser gaben einen reinen Klang. Kern trank den kühlen Wein. Traubensaft, dachte er. Oppenheim. Er setzte sich zu Vogt und Ruth an den Tisch.

»Ich dachte schon, ich müßte allein sein«, sagte Vogt.»Und nun sind Sie hier. Wie schön der Abend ist! Dieses klare herbstliche Licht.«

Sie saßen lange schweigend auf der halb erleuchteten Terrasse. Ein paar späte Nachtschmetterlinge stießen mit ihren schweren Leibern beharrlich gegen das heiße Glas der elektrischen Glühbirne. Vogt lehnte etwas abwesend und sehr friedlich in seinem Stuhl, mit schmalem Gesicht und klaren Augen, und es erschien den beiden andern plötzlich, als nähme da ein Mensch aus einem versunkenen Jahrhundert gelassen und gefaßt Abschied von seinem Leben und der Welt.

»Heiterkeit«, sagte Vogt nachdenklich, als spräche er zu sich selbst.»Heiterkeit, die gelassene Tochter der Toleranz… sie ist unserer Zeit verlorengegangen. Es gehört zu vieles dazu – Wissen, Überlegenheit, Bescheidenheit und die ruhige Resignation vor dem Unmöglichen. Das alles ist geflohen vor dem wilden Kasernenidealismus, der heute unduldsam die Welt verbessern will. Weltverbesserer waren immer Weltverschlechterer – und Diktatoren sind nie heiter.«

»Die, denen sie diktieren, auch nicht«, sagte Kern.

Vogt nickte und trank langsam einen Schluck des hellen Weines. Dann zeigte er auf den See, der im Licht des halben Mondes silbern glänzte und den die Berge umrahmten wie die Wände einer kostbaren Schale.»Denen kann man nicht diktieren«, sagte er.»Den Schmetterlingen auch nicht und dem Laub der Bäume. Und denen auch nicht…«Er wies auf ein paar zerlesene Bücher.»Hölderlin und Nietzsche. Der eine hat die reinsten Hymnen auf das Leben geschrieben… der andere erträumte die göttlichen Tänze dionysischer Heiterkeit – und beide endeten im Wahnsinn… als wenn die Natur irgendwo eine Grenze gesetzt hätte.«

»Diktatoren werden nicht wahnsinnig«, sagte Kern.

»Natürlich nicht.«Vogt stand auf und lächelte.»Aber auch nicht vernünftig.«

»Wollen Sie wirklich morgen zur Polizei?«fragte Kern.

»Ja, ich will. Leben Sie wohl und Dank dafür, daß Sie mir helfen wollten. Ich gehe noch eine Stunde zum See hinunter.«

Er ging langsam die Straße entlang. Sie war leer, und man hörte seine Schritte noch eine Weile, nachdem er nicht mehr zu sehen war.

Kern sah Ruth an. Sie lächelte ihm zu.»Hast du Angst?«fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Mit uns ist das anders«, sagte er.»Wir sind jung. Wir kommen durch.«

ZWEI TAGE SPÄTER tauchte Binder aus Zürich auf; kühl, elegant und sicher.

»Wie geht’s?«fragte er.»Hat alles geklappt?«

Kern berichtete sein Erlebnis mit dem Kommerzienrat Oppenheim. Binder hörte aufmerksam zu. Er lachte, als Kern ihm erzählte, er hätte Oppenheim gebeten, sich für ihn zu verwenden.»Das war Ihr Fehler«, sagte er.»Der Mann ist die feigste Kröte, die ich kenne. Aber ich werde einmal eine Strafexpedition gegen ihn unternehmen.«

Er verschwand und kam abends wieder, einen Zwanzigfrankenschein in der Hand.

»Alle Achtung«, sagte Kern.

Binder schüttelte sich.»Es war nicht schön, das können Sie mir glauben. Der nationale Herr Oppenheim, der alles versteht, seiner Millionen wegen. Geld macht verdammt charakterlos, was?«

»Kein Geld auch.«

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