Er verschwand. Steiner sah Kern kopfschüttelnd an.»Du bestätigst meine Theorie«, sagte er.»Ich habe die Juden immer für das dümmste und vertrauensseligste Volk der Welt gehalten. Wir hätten glatt dreißig Schilling ’rausgeholt.«
Kern lächelte.»Du rechnest nicht mit einem: mit der panischen Angst, die ein paar tausend Jahre Pogrome und Getto gezüchtet haben. Daran gemessen, sind die Juden sogar ein tollkühnes Völkchen. Und schließlich bin ich nur ein elender Mischling.«
Steiner grinste.»Na schön, dann komm. Mazzes essen! Wir wollen das Laubhüttenfest feiern. Lilo ist eine wunderbare Köchin.«
Das Etablissement Potzloch bestand aus drei Abteilungen: einem Karussell, einer Schießbude und dem Panorama der Weltsensationen. Steiner führte Kern am Morgen gleich in einen Teil seiner Arbeiten ein. Er hatte den besseren Karussellpferden die Messingteile ihres Geschirrs zu putzen und das Karussell zu fegen.
Kern machte sich an seine Arbeit. Er putzte nicht nur die Pferde, sondern auch die Hirsche, die sich im Takt wiegten, und die Schwane und die Elefanten. Er war so vertieft, daß er nicht hörte, wie Steiner an ihn herantrat.»Komm, Kleiner, Mittagessen!«
»Schon wieder essen?«
Steiner nickte.»Schon wieder. Etwas ungewohnt, was? Du bist unter Künstlern; da herrschen die bürgerlichsten Sitten der Welt. Es gibt sogar nachmittags eine Jause. Kaffee und Kuchen.«
»Ein Schlaraffenland!«Kern kroch aus einer Gondel vor, die von einem Walfisch gezogen wurde.»Mein Gott, Steiner!«sagte er.»Man könnte Angst kriegen, so wunderbar geht alles in der letzten Zeit. Zuerst in Prag – und jetzt hier. Gestern wußte ich noch nicht, wo ich schlafen sollte… und heute habe ich eine Stellung, eine Wohnung und werde zum Mittagessen abgeholt! Ich glaube es noch nicht!«
»Glaub’s nur«, erwiderte Steiner.»Denk nicht nach, nimm’s! Alte Devise der fahrenden Leute.«
»Hoffentlich dauert es noch ein bißchen!«
»Es ist eine Lebensstellung«, sagte Steiner.»Mindestens für drei Monate. Bis es zu kalt wird.«
Lilo hatte einen wackeligen Tisch in das Gras vor dem Wohnwagen gestellt. Sie brachte eine große Schüssel mit Gemüsesuppe und Fleisch und setzte sich zu Steiner und Kern. Es war helles Wetter mit einer Ahnung von Herbst in der Luft. Auf der Wiese waren Wäschestücke aufgehängt, zwischen denen ein paar gelbgrüne Zitronenfalter spielten.
Steiner dehnte die Arme.»Eine gesunde Existenz! Und nun auf in die Schießbude.«
Er zeigte Kern die Gewehre, und wie sie geladen wurden.»Es gibt zwei Arten von Schützen«, sagte er.»Die Ehrgeizigen und die Habgierigen.«
»Wie im Leben«, meckerte Direktor Potzloch, der gerade vorüberstrich.
»Die Ehrgeizigen schießen auf Karten und Nummern«, erläuterte Steiner weiter.»Sie sind nicht gefährlich. Die Habgierigen wollen etwas gewinnen.«Er zeigte auf eine Anzahl Etageren im Hintergrund der Bude, die mit Teddybären, Puppen, Aschbechern, Weinflaschen, Bronzefiguren, Haushaltungsgegenständen und ähnlichen Sachen gefüllt waren.
»Sie sollen etwas gewinnen. Die unteren Etagen nämlich. Kommt einer aber an fünfzig Ringe heran, dann gerät er in die obersten Etagen, wo die Stücke zehn Schilling und mehr wert sind. Dann gibst du eine von Direktor Potzlochs Original-Zauberkugeln ins Gewehr. Sie sehen genauso aus wie die andern. Hier liegen sie, an dieser Seite. Der Mann wird staunen, wenn er plötzlich damit nur einen Zweier oder Dreier schießt. Bißchen weniger Pulver, verstehst du?«
»Ja.«
»Vor allem nie das Gewehr wechseln, junger Mann!«erklärte Direktor Potzloch, der wieder hinter ihnen stand.»Mit dem Gewehr sind die Brüder mißtrauisch. Mit den Kugeln nicht. Und dann die Balance! Gewonnen soll werden. Verdient aber muß werden. Das muß ausbalanciert werden. Wenn Sie das können, sind Sie ein Lebenskünstler. Nicht zuviel gesagt. Wer oft schießt, hat natürlich ein Recht auf die dritte Etage.«
»Wer fünf Schilling verpulvert hat, darf eine von den Bronzegöttinnen gewinnen«, sagte Steiner.»Wert einen Schilling.«
»Junger Mann«, sagte Potzloch plötzlich mit pathetischer Drohung,»auf eins mache ich Sie aber gleich aufmerksam: auf den Hauptgewinn. Der ist ungewinnbar, verstehn S’? Er ist ein Privatstück aus meiner Wohnung: ein Prunkstück!«
Er zeigte auf einen getriebenen, silbernen Obstkorb mit zwölf Silbertellern und Bestecken dazu.»Sie haben eher zu sterben, als einen Sechziger durchzulassen. Versprechen S’ mir das!«
Kern versprach es. Potzloch wischte sich den Schweiß von der Stirn und haschte nach seinem Kneifer.»Allein schon der Gedanke!«murmelte er.»Meine Frau brächte mich um! Ein Erbstück, junger Mann«, schrie er,»ein Erbstück in dieser traditionslosen Zeit! Wissen S’ was ein Erbstück ist? Lassen S’ nur, Sie wissen es nicht…«
Er sauste los. Kern sah ihm nach.»Nicht so schlimm«, sagte Steiner.»Unsere Gewehre stammen sowieso aus der Zeit der Belagerung Trojas. Und außerdem hast du Lilo zu Hilfe, wenn’s brenzlig wird.«
Sie gingen zum Panorama der Weltsensationen hinüber. Es war eine Bude, die mit bunten Plakaten bedeckt war. Sie stand auf einem dreistufigen Podest. Vorn war ein Kassenhäuschen in Form eines chinesischen Tempels aufgebaut – eine Idee Leopold Potzlochs. Steiner wies auf ein Plakat, das einen Mann vorstellte, dem Blitze aus den Augen schossen.»Alvaro, das Wunder der Telepathie – das bin ich, Baby. Und du wirst mein Assistent werden.«
SIE GINGEN IN die Bude hinein, die halbdunkel war und muffig roch. Einige Reihen leerer Stühle standen wie Gespenster unordentlich umher. Steiner stieg auf die Bühne.»Also paß auf! Irgend jemand im Zuschauerraum versteckt etwas bei einem andern; meistens sind es Zigarettenschachteln, Zündhölzer, Puderdosen oder sonderbarerweise Stecknadeln. Weiß der Himmel, wo die Leute immer die Stecknadeln herkriegen! Ich habe das zu finden. Ein interessierter Zuschauer wird heraufgebeten, ich fasse ihn bei der Hand und rase los. Entweder bist du das, dann führst du mich einfach hin, und je fester du meine Hand drückst, desto dichter bin ich bei dem versteckten Gegenstand. Leichtes Klopfen mit dem Mittelfinger bedeutet, daß es der richtige ist. Das ist einfach. Ich suche so lange, bis du klopfst. Höher oder tiefer zeigst du mir durch Auf- und Abbewegen der Hand.«
Direktor Potzloch erschien mit Getöse im Eingang.»Lernt er’s?«
»Wir wollen gerade probieren«, erwiderte Steiner.»Setzen Sie sich mal hin, Direktor, und verstecken Sie was an sich. Haben Sie eine Stecknadel bei sich?«
»Natürlich!«Potzloch griff nach seinem Rockaufschlag.
»Natürlich hat er eine Stecknadel!«Steiner drehte sich um.»Verstecken Sie sie. Und dann komm, Kern, und führe mich.«
Leopold Potzloch nahm die Nadel mit einem listigen Blick und klemmte sie zwischen seine Schuhsohle.»Los, Kern!«sagte er dann.
Kern ging zur Bühne und nahm Steiners Hand. Er führte ihn zu Potzloch, und Steiner begann zu suchen.
»Ich bin kitzlig, Steiner«, prustete Potzloch und kreischte auf.
Nach einigen Minuten fand Steiner die Nadel. Sie wiederholten das Experiment noch ein paarmal. Kern lernte die Zeichen, und die Zeit, bis Steiner Potzlochs Zündholzschachtel fand, wurde immer kürzer.
»Ganz gut«, sagte Potzloch.»Übt das heute nachmittag weiter. Aber nun die Hauptsache: wenn S’ als Zuschauer auftreten, müssen S’ zögern, verstehen S’? Das Publikum darf keine Lunte riechen. Deshalb müssen S’ zögern! Machen Sie’s einmal, Steiner, ich werd’s ihm zeigen!«
Er setzte sich auf einen Stuhl neben Kern.
Steiner ging zum Podium.»Und nun bitte ich«, donnerte er mit Ausruferstimme in die leere Bude,»einen der geehrten Herrschaften, sich hierher auf die Bühne zu begeben! Nur durch einen Griff an die Hand, ohne ein Wort, wird die Gedankenübertragung erfolgen und der versteckte Gegenstand gefunden werden!«
Direktor Potzloch beugte sich vor, als wollte er aufstehen und etwas sagen. Dann begann er zu zögern. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, rückte an seinem Kneifer und blickte sich verschämt um. Dann lächelte er entschuldigend, erhob sich halb, kicherte, setzte sich schnell wieder zurück, gab sich schließlich einen Ruck und schritt ernst, verlegen, neugierig und zaudernd zugleich auf den vor Lachen tobenden Steiner zu.