»Wissen Sie«, sagte der Besitzer,»was ich noch sagen wollte – das Toilettewasser ist sehr gut. Sehr gut, wirklich.«
»Danke!«Kern nahm das Paket.»Ich komme dann hoffentlich bald, den Rest abzuholen.«
ER GING ZUM Hotel. In seinem Zimmer machte er das Paket auf und packte zwei Flaschen mit einigen Stücken Seife und ein paar Flakons billigen Parfüms in eine Aktentasche. Er wollte gleich versuchen, noch etwas davon zu verkaufen.
Als er auf den Korridor trat, sah er, daß jemand das Zimmer nebenan verließ. Es war ein mittelgroßes Mädchen in einem hellen Kleide, das ein paar Bücher unter dem Arm trug. Kern achtete zunächst nicht darauf. Er war damit beschäftigt, die Preise für sein Toilettewasser auszurechnen. Aber plötzlich fiel ihm ein, daß das Mädchen aus dem Zimmer gekommen war, das er nachts verwechselt hatte, und er blieb stehen. Er hatte das Gefühl, als könne es ihn auch jetzt noch erkennen.
Das Mädchen ging, ohne sich umzusehen, die Treppe hinunter. Kern wartete noch eine Weile. Dann ging er rasch den Korridor entlang hinterher. Er war plötzlich sehr neugierig geworden, zu wissen, wie sie aussah.
Er ging die Treppe hinunter und sah sich unten um; aber das Mädchen war nirgendwo zu sehen. Er ging zum Ausgang und blickte die Straße entlang. Sie lag leer im staubigen Licht. Nur ein paar Schäferhunde balgten sich auf dem Fahrdamm. – Kern ging ins Hotel zurück.»Ist nicht eben jemand fortgegangen?«fragte er den Portier, der gleichzeitig Kellner und Hausbursche war.
»Nur Sie!«Der Portier starrte ihn an. Er wartete darauf, daß Kern über seinen Witz in ein fassungsloses Gelächter ausbrechen sollte.
Kern lachte nicht.»Ein Mädchen meine ich«, sagte er.»Eine junge Dame.«
»Hier wohnen keine Damen«, erwiderte der Portier mürrisch. Er war beleidigt, weil er seinen Geist verschwendet hatte.»Nur Frauen.«
»Also ist niemand hinausgegangen?«
»Sind Sie von der Polizei, daß Sie das so genau wissen müssen?«Der Portier war jetzt offen feindlich.
Kern sah ihn erstaunt an. Er verstand nicht, was der Mann hatte. Den Witz hatte er gar nicht bemerkt. Er holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und bot sie dem Portier an.
»Danke«, erwiderte der frostig.»Ich rauche was Besseres.«
»Das glaube ich.«
Kern steckte die Zigaretten wieder ein. Er blieb noch einen Augenblick stehen und überlegte. Das Mädchen mußte noch im Hotel sein. Wahrscheinlich war sie dann in der Halle. Er ging zurück.
Die Halle war ein schmaler, langer Raum, mit einer zementierten Terrasse davor. Sie führte in einen ummauerten Garten, in dem ein paar Fliederbüsche standen.
Kern blickte durch die Glastür. Er sah das Mädchen an einem Tisch sitzen. Es hatte die Ellenbogen aufgestützt und las. Außer ihm war niemand in der Halle. Kern konnte nicht anders; er öffnete die Tür und trat ein.
Das Mädchen blickte auf, als es die Tür hörte. Kern wurde befangen.»Guten Abend«, sagte er zögernd.
Das Mädchen sah ihn an. Dann nickte es und las weiter.
Kern setzte sich in eine Ecke des Zimmers. Nach einer Weile stand er auf und holte sich ein paar Zeitungen. Er kam sich plötzlich ziemlich lächerlich vor und wäre gern schon wieder draußen gewesen. Aber es erschien ihm fast unmöglich, jetzt sofort wieder aufzustehen und hinauszugehen.
Er faltete die Zeitungen auseinander und begann zu lesen. Nach einiger Zeit sah er, wie das Mädchen nach seiner Handtasche griff und sie öffnete. Es nahm ein silbernes Zigarettenetui heraus und klappte es auf. Dann klappte es das Etui wieder zu, ohne eine Zigarette zu nehmen, und schob es zurück in die Tasche.
Kern legte die Zeitung rasch beiseite und stand auf.»Ich sehe, daß Sie Ihre Zigaretten vergessen haben«, sagte er.»Kann ich Ihnen aushelfen?«
Er zog sein Paket hervor. Er hätte viel darum gegeben, wenn er jetzt ein Etui gehabt hätte. Das Paket war zerdrückt und an den Enden eingerissen. Er hielt es dem Mädchen hin.»Ich weiß allerdings nicht, ob Sie diese Sorte mögen. Der Portier hat sie vorhin abgelehnt. Sie waren ihm zu schlecht.«
Das Mädchen blickte auf die Marke.»Ich rauche die gleichen«, sagte sie.
Kern lachte.»Es sind die billigsten, die es gibt. Das ist schon fast dasselbe, als hätte man sich seine Lebensgeschichte erzählt.«
Das Mädchen sah ihn an.»Ich glaube, das Hotel erzählt sie ohnehin.«
»Das ist wahr.«
Kern zündete ein Streichholz an und gab dem Mädchen Feuer. Das schwache, rötliche Licht beleuchtete ein schmales, bräunliches Gesicht mit starken, dunklen Augenbrauen. Die Augen waren groß und klar und der Mund voll und weich. Kern hätte nicht sagen können, ob das Mädchen schön war und ob sie ihm gefiel; er hatte nur das sonderbare Gefühl einer leisen und fernen Verbundenheit mit ihr – seine Hand hatte auf ihrer Brust gelegen, bevor er sie kannte. Er sah sie atmen; und plötzlich, obschon er wußte, daß es töricht war, steckte er seine Hand in die Tasche.
»Sind Sie schon lange draußen?«fragte er.
»Zwei Monate.«
»Das ist nicht lange.«
»Es ist endlos.«
Kern blickte überrascht auf.»Sie haben recht«, sagte er dann.»Zwei Jahre sind nicht lange. Aber zwei Monate sind endlos. Doch das hat immerhin einen Vorteil: sie werden kürzer, je länger es dauert.«
»Glauben Sie, daß es lange dauert?«fragte das Mädchen.
»Ich weiß es nicht. Darüber denke ich nicht mehr nach.«
»Ich immer.«
»Das tat ich auch, als ich zwei Monate draußen war.«
Das Mädchen schwieg. Es hielt den Kopf nachdenklich gesenkt und rauchte langsam, in tiefen Zügen. Kern betrachtete das starke, etwas gewellte schwarze Haar, von dem das Gesicht umrahmt war. Er hätte gern etwas Besonderes, Geistvolles gesagt, aber ihm fiel nichts ein. Er versuchte sich zu erinnern, wie die weltmännischen Helden mancher Bücher, die er gelesen hatte, in einer ähnlichen Situation gehandelt hätten – doch sein Gedächtnis war wie ausgetrocknet, und die Helden waren auch wohl nie in einem Emigrantenhotel in Prag gewesen.
»Ist es nicht zu dunkel zum Lesen?«fragte er schließlich.
Das Mädchen fuhr zusammen, als wären seine Gedanken woanders gewesen. Dann klappte es das Buch, das vor ihm lag, zu.»Nein. Ich will auch nicht mehr lesen. Es ist zwecklos.«
»Es lenkt einen manchmal ab«, sagte Kern.»Wenn ich irgendwo einen Kriminalroman finde, lese ich ihn in einem Zuge durch.«
Das Mädchen lächelte müde.»Dies ist kein Kriminalroman. Es ist ein Lehrbuch der anorganischen Chemie.«
»Ach so! Sie waren an der Universität?«
»Ja. In Würzburg.«
»Ich war in Leipzig. Ich hatte anfangs auch meine Lehrbücher bei mir. Ich wollte nichts vergessen. Später habe ich sie dann verkauft. Sie waren zu schwer zum Tragen, und ich habe mir Toilettewasser und Seife dafür gekauft, um damit zu handeln. Davon lebe ich jetzt.«
Das Mädchen sah ihn an.»Sie machen mir nicht gerade sehr viel Mut.«
»Ich wollte Sie nicht mutlos machen«, sagte Kern rasch.»Bei mir war das etwas ganz anderes. Ich hatte überhaupt keine Papiere. Sie haben doch wahrscheinlich einen Paß.«
Das Mädchen nickte.»Einen Paß habe ich. Aber er läuft in sechs Wochen ab.«
»Das macht nichts. Dann können Sie ihn sicher verlängern lassen.«
»Ich glaube nicht.«
Das Mädchen stand auf.
»Wollen Sie nicht noch eine Zigarette rauchen?«fragte Kern.
»Nein, danke. Ich rauche viel zuviel.«
»Jemand hat mir einmal gesagt, eine Zigarette im richtigen Augenblick wäre besser als alle Ideale der Welt.«
»Das stimmt.«Das Mädchen lächelte, und auf einmal erschien sie Kern sehr schön. Er hätte viel darum gegeben, weiter mit ihr zu sprechen, aber er wußte nicht, was er tun sollte, damit sie noch bliebe.
»Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann«, sagte er schnell,»ich würde es gern tun. Ich kenne das hier in Prag. Ich war schon zweimal hier. Ich heiße Ludwig Kern und wohne in dem Zimmer rechts neben Ihnen.«