»Gut. Wasche dir die Hände, dort im Hof läuft der Brunnen. Dann wollen wir essen gehen. Meine Gehilfen sind nicht da, sie arbeiten auswärts.«
Goldmund ging gehorsam, fand den Hof und den Brunnen, wusch sich die Hände und hätte viel darum gegeben, des Meisters Gedanken zu wissen. Als er zurückkam, war dieser fort, er hörte ihn im Nebenraume hantieren; als er erschien, hatte auch er sich gewaschen und trug statt der Schürze einen schönen tuchenen Rock, er sah darin stattlich und feierlich aus. Er ging voran, eine Treppe hinauf, deren Geländerpfosten aus Nußholz kleine geschnitzte Engelsköpfe trugen, durch eine Diele, die voll alter und neuer Figuren stand, und in eine schöne Stube, deren Boden, Wände und Decke aus Hartholz waren und in deren Fensterecke ein gedeckter Tisch stand. Eine Jungfer kam hereingelaufen, Goldmund kannte sie, es war das schöne Mädchen von gestern abend.
»Lisbeth«, sagte der Meister, »du mußt noch ein Gedeck bringen, ich habe einen Gast mitgebracht. Es ist – ja, nun weiß ich wirklich seinen Namen noch gar nicht.«
Goldmund sagte ihn.
»Also Goldmund. Können wir essen?«
»Im Augenblick, Vater.«
Sie holte einen Teller, lief hinaus und kam bald mit der Magd wieder, die das Essen auftrug, Schweinefleisch, Linsen und Weißbrot. Während des Essens sprach der Vater dies und jenes mit dem Mädchen, Goldmund saß schweigend, aß ein wenig und fühlte sich sehr unsicher und bedrückt. Das Mädchen gefiel ihm sehr, eine stattliche schöne Gestalt, beinahe so groß wie ihr Vater, aber sie saß züchtig und höchst unnahbar wie hinter Glas und richtete weder Wort noch Blick an den Fremden.
Als gegessen war, sagte der Meister: »Ich will noch eine halbe Stunde ruhen. Geh du in die Werkstatt oder treibe dich ein wenig draußen herum, nachher wollen wir über die Sache sprechen.«
Mit einem Gruß ging Goldmund hinaus. Eine Stunde oder länger war es her, seit der Meister seine Zeichnung gesehen hatte, und kein Wort hatte er über sie gesagt. Jetzt sollte er nochmals eine halbe Stunde warten! Nun, es war nicht zu ändern, er wartete. In die Werkstatt ging er nicht, er wollte seine Zeichnung jetzt nicht wiedersehen. Er ging in den Hof, setzte sich auf den Brunnentrog und sah dem Wasserfaden zu, der sich unaufhörlich aus der Röhre ergoß, in die tiefe Steinschale fiel, im Niederfallen winzige Wellen schlug und immerzu ein wenig Luft mit sich in die Tiefe riß, die immerzu m weißen Perlen zurück- und emporstrebte. Im dunklen Brunnenspiegel sah er sein eigenes Bild und dachte, daß dieser Goldmund, der ihn aus dem Wasser anblickte, längst nicht mehr der Goldmund des Klosters oder der Goldmund Lydias sei, und auch schon der Goldmund der Wälder war er nicht mehr. Er dachte, daß er und jeder Mensch dahinrinne und sich immerzu verwandle und endlich auflöse, während sein vom Künstler geschaffenes Bild immer unwandelbar das gleiche bleibe.
Vielleicht, dachte er, ist die Wurzel aller Kunst und vielleicht auch alles Geistes die Furcht vor dem Tode. Wir fürchten ihn, wir schauern vor der Vergänglichkeit, mit Trauer sehen wir immer wieder die Blumen welken und die Blätter fallen und spüren im eigenen Herzen die Gewißheit, daß auch wir vergänglich sind und bald verwelken. Wenn wir nun als Künstler Bilder schaffen oder als Denker Gesetze suchen und Gedanken formulieren, so tun wir es, um doch irgend etwas aus dem großen Totentanz zu retten, etwas hinzustellen, was längere Dauer hat als wir selbst. Die Frau, nach der der Meister seine schöne Madonna gebildet hat, ist vielleicht schon verwelkt oder tot, und bald wird auch er tot sein, andere wohnen in seinem Haus, andere essen an seinem Tisch – aber sein Werk bleibt stehen, in der stillen Klosterkirche schimmert es noch nach hundert Jahren und viel länger, und bleibt immer schön, und lächelt immer mit dem gleichen Munde, der ebenso blühend wie traurig ist.
Er hörte den Meister die Treppe herabkommen und lief in die Werkstatt. Meister Niklaus ging auf und ab, blickte wiederholt auf Goldmunds Zeichnung, blieb endlich am Fenster stehen und sagte in seiner etwas zögernden und trockenen Weise: »Der Brauch bei uns ist so, daß ein Lehrling mindestens vier Jahre lernt und daß sein Vater dem Meister dafür ein Lehrgeld bezahlt.«
Da er eine Pause machte, dachte Goldmund, der Meister fürchte, von ihm kein Lehrgeld zu bekommen. Blitzschnell zog er sein Messer aus der Tasche, trennte die Naht um den verborgenen Dukaten auf und fischte ihn heraus. Erstaunt sah Niklaus ihm zu und fing an zu lachen, als Goldmund ihm das Goldstück darreichte.
»Ah, so ist es gemeint?« lachte er. »Nein, junger Mensch, dein Geldstück sollst du behalten. Höre nun zu. Ich sagte dir, wie es in unserer Zunft mit den Lehrlingen gehalten zu werden pflegt. Aber weder bin ich ein gewöhnlicher Lehrmeister, noch bist du ein gewöhnlicher Lehrling. Nämlich ein solcher pflegt seine Lehrzeit mit dreizehn, vierzehn oder höchstens fünfzehn Jahren anzutreten, und die Hälfte der Lehrzeit hindurch muß er Handlangerdienste tun und den Pudel machen. Du aber bist ja schon ein ausgewachsener Bursche und könntest dem Alter nach längst Geselle oder sogar schon Meister sein. Einen Lehrling mit einem Bart hat man in unserer Zunft noch nie gesehen. Auch sagte ich dir ja schon, daß ich in meinem Haus keinen Lehrling halten will. Du siehst auch gar nicht aus wie jemand, der sich befehlen und herumschicken läßt.«
In Goldmund war die Ungeduld aufs höchste gestiegen, jedes der bedächtigen Worte des Meisters spannte ihn auf die Folter und schien ihm abscheulich langweilig und schulmeisterlich zu sein. Heftig rief er: »Warum saget Ihr mir das alles, wenn Ihr doch gar nicht daran denket, mich in die Lehre zu nehmen?«
Der Meister fuhr unerschüttert in seiner alten Weise fort: »Ich habe über dein Anliegen eine Stunde lang nachgedacht, nun mußt du auch die Geduld haben, mich anzuhören. Ich habe deine Zeichnung gesehen. Sie hat Fehler, aber sie ist dennoch schön. Wäre sie das nicht, so hätte ich dir einen halben Gulden geschenkt und dich entlassen und vergessen. Mehr will ich über die Zeichnung nicht sagen. Ich möchte dir helfen, ein Künstler zu werden, vielleicht bist du dazu bestimmt. Aber Lehrling kannst du also nicht mehr werden. Und wer nicht Lehrling war und die Lehrzeit abgedient hat, der kann in unserer Zunft auch nicht Gesell und Meister werden. Das sei dir im voraus gesagt. Aber einen Versuch sollst du machen. Wenn es dir möglich ist, eine Zeitlang hier in der Stadt zu bleiben, so kannst du zu mir kommen und einiges lernen. Es geschieht ohne Verpflichtung und Vertrag, du kannst zu jeder Stunde wieder gehen. Du kannst bei mir ein paar Schnitzmesser zerbrechen und ein paar Holzklötze verderben, und wenn es sich zeigt, daß du kein Holzschnitzer bist, mußt du dich eben zu anderem wenden. Bist du damit zufrieden?«
Mit Beschämung und Rührung hatte Goldmund zugehört. »Ich danke Euch von Herzen«, rief er. »Ich bin heimatlos und werde mich hier in der Stadt ebenso durchzubringen wissen wie draußen in den Wäldern. Ich verstehe, daß Ihr nicht Sorge und Verantwortung für mich wie für einen Lehrbuben übernehmen wollet. Ich halte es für ein großes Glück, bei Euch lernen zu dürfen. Von Herzen danke ich Euch, daß Ihr das an mir tun wollt.«