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Die Einführung in englische Kochkultur begann mit Fish ’n’ Chips. Weil Mrs. Thetchler der Meinung war, dass auch Männer zu ordentlicher Küche gehören, mussten alle zwei Russen Kochkunst erlernen. Beide waren nicht begeistert. Erstens fanden sie, dass gebratener Meeresfisch stinkt. Zweitens versuchte Schura Mrs. Thetchler zu erklären, dass Fish ’n’ Chips keineswegs ein Nationalgericht des Vereinigten Königreiches sein könnte, weil dieses Gericht mit jüdischen Immigranten am Ende des neunzehnten Jahrhundert nach England kam. Mrs. Thetchler verstand nur wenig von seinem Gerede, aber was sie verstand, gefiel ihr nicht. Wie wagte dieser Affe von Russen, aus dem man einen Mensch erst entwickeln sollte, ihre nationalen Gefühle so zu beleidigen! Jetzt wurde ihr klar, wie streng im Umgang mit Russen sie sein musste. Von dieser Entscheidung trat sie das nächste Halbjahr keinen Schritt weg.

Mrs. Thetchler war sehr erfinderisch. Sie ließ den Russen keine Minute frei, um zu faulenzen. Hundert Pfund musste man mit Fleiß und Schweiß verdienen. Die Russen putzten, kochten, bügelten, wuschen den ganzen Tag durch und abends mussten sie mit Mrs. Thetchler zusammen TV-Shows schauen, um echte Kultur einzusaugen. Der Prozess der Kulturbeibringung ging nur schleppend fort – Russen zeigten keine Begeisterung beim Fernsehen genauso wie beim Aufessen von Fish ’n’ Chips. Mrs. Thetchler fürchtete, dass sie zu optimistisch war und dass der Frist von einem halben Jahr zu kurz würde, um aus Russen zivilisierten Menschen aufzupäppeln. So sagte sie seiner Nachbarin, Mrs. Butscher, dass sie sich in Russen enttäuscht war, sie taugten zu nichts.

Die Russen waren auch total enttäuscht. Sie konnten diese Mrs. Thetchler kaum noch länger ertragen. Die Frau war dumm, abgesehen davon, dass sie immer wieder etwas plapperte, was ein Normalsterblicher kaum verstehen könnte. Das Essen war unerträglich. Beide hassten Fish ’n’ Chips, Shepherd's pie, Bangers and mash, Arbroath smokie, Yorkshire pudding und Cornish pasty. Sie hassten sogar Ale. Ihrem Geschmack nach schmeckte es, als ob man einen Krug mit Bier vergaß und drei Tage danach das zu trinken versuchte. Außerdem stellte Lena fest, dass hundert Pfund in London überhaupt kein Geld war. Um etwas Schönes zu kaufen, brauchte man viel, viel mehr. Sie hatten jetzt keine Illusionen über Ausland, Kapitalismus und England im Besonderen. Sogar ihr Englisch konnte nicht verbessert sein, weil sie nur mit Mrs. Thetchler und Verkäufer in Läden unterhielten und sie alle Cockney sprachen. Sie konnten es kaum erwarten, nach Russland zurückzukehren. Nach ihrer Abfahrt sagte Mrs. Thetchler seiner Nachbarin, Mrs. Butscher, dass Russen undankbare Wesen sind und dass sie ihnen nie mehr hilft und dass diese Asiaten waren, sind und werden für immer und ewig Barbaren bleiben. Jeder Mensch an der Erde muss englische Cuisine mögen und Englisch fließend sprechen, sonst müssen Engländer fremde Sprachen lernen, aber dieser Gedanke wäre doch lächerlich und nicht der Rede wert.

Ehepaar Nogilevskij kam nach Rostow genauso ohne Geld nach Englischreise, wie vor Englischreise. Schura genoss warmes Klima und gespannt dachte daran, wie er zum Geld kommen könnte. Er kam zur Idee, dass man sich so nah wie möglich zur Geldquelle heranschleichen musste. Und wer sitzt dieser Quelle näher, als ein Buchhalter? Er entschied sich als Buchhalter ausbilden lassen. Diese Entscheidung war auch ein Fehlschlag. Schura war zu diesem Job total ungeeignet. Er mochte Mathe nie, machte Fehler, konnte sich nicht konzentrieren und war nach einen Monat entlassen. Das könnte zu schweren Konsequenzen führen, aber die Wirtschaftssituation sah in Russland schon anders aus.

Es begann eine der größten Betrügereien in russischer Geschichte – Privatisierung. Alle Bürger bekamen sogenannte Voucher. Und zwar umsonst. Jeder konnte mit solchem Voucher einen Anspruch auf beliebiges Staatseigentum erheben. So war die Theorie. Was einer Voucher wert war, erkannten Schura und Lena bald, wenn sie seinem Kind einen Wintermantel zu kaufen versuchten: Schuras Voucher reichte für den linken Ärmel, Lenas Voucher für den rechten Ärmel, andere Teile des Wintermantels wurde mit den Rest des Geldes von Mrs. Thetchler bezahlt. Mit den Voucherverkauf verabschiedeten Nogilevskjy Familie vom Traum „Alles gehört dem Volk – alles gehört dir“. Ihnen gehörte jetzt gesetzlich gesehen überhaupt nichts, genauso wie fast allen anderen Bürgern der Russischen Föderation.

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Um ganz ehrlich zu sein, existierten noch im Russland viele Fabriken, Ölfelder, Eisenbahnen, Schiffe und Raketen dazu. Jemand musste sich um das alles sorgen. Aber nicht jeder war dafür geeignet. Besonders fähig waren aber Leute, die schon Erfahrungen in diesem Gebiet hatten, nämlich ehemalige Parteifunktionäre, Komsomolfunktionäre, Staatsangestellte u.s.w. - alle, die früher höhere Positionen bekleideten. Niemand fragte sie danach, doch ihr Gewissen und Verantwortungssinn zwangen sie alles auf sich zu nehmen und diese Bürde zu tragen – alle diesen Fabriken, Ölfelder, Eisenbahnen, Schiffe und Raketen dazu. Sie taten das, unbezweifelbar, nur zu Gunsten des materiellen Wohlergehens des russischen Volkes.

Irgendwie und irgendwo rätselt man, wie wird ein Mensch aus UdSSR in einem Jahr zu Milliardär? Gab es in ehemaliger Sowjetunion so viele Finanzgenies? Man kann sich nicht vorstellen, dass das ganze Eigentum den verschiedenen Gruppierungen der Nomenklatura – so nennt man russisches bürokratisches System – gehört, aber keinem von sogenannten Milliardären, die meistens nur Strohmänner sind. Man musste gute Beziehungen haben, um zu einer Gruppierung zu gehören. Man zählt bei dieser Gruppierung nur eines – Loyalität. Totale Loyalität. Immer noch ist das keine Mafia, was auch man nolens volens glaubt. Man benutzt mal Kriminelle, um schmutzige Arbeit zu erledigen, aber das ist nicht so wichtig. Von Belang ist, dass man Puppenspieler nicht kennt und es gibt fast nie nur einer Puppenspieler, sondern immer mehrere - ein Kollektiv. Das sind keineswegs bekannte Milliardäre. Was man im Westen nicht verstehen kann, dass ein Milliardär zu sein bloß eine Arbeit ist, eine Dienststellung. Man wird zu diesem Posten ernennen und von diesem Dienst suspendiert. Ein russischer Milliardär ist nur ein Pressesprecher der Gruppierung, die hinter ihm steht. Man kann doch einen Pressesprecher leicht wechseln, oder?

Schuras Schwiegervater hatte gute Beziehungen und wurde mal eingefordert, in einer Holding seinen Platz zu nehmen. Das Hauptgebiet der Holding war Handel mit Sonnenblumenkernen und Sonnenblumenöl. Niemand wusste, dass das so profitabel würde. Um zu arbeiten, brauchte Holding Geld. Wo nimmt ein Unternehmen Geld, wenn es das braucht? Natürlich von einer Bank. Die, seinerseits, nimmt das Geld vom Staat. Der junge kapitalistische russische Staat gab Unmenge von Geld aus. Wenn man Beziehungen hatte, dann organisierte man eine Bank, bekam Geld von Staat, verteilte das und machte Pleite. Alle waren zufrieden, sogar Staat kümmerte sich nicht besonders darum. So taten aber nur wenig ambitionierte Menschen, die bloß ein paar Millionen Dollar wollten. Mit gestohlenem Geld emigrierten sie aus dem Land. Diejenigen aber, die mehr wollten, investierten in Wirtschaft. Noch gemütlicher konnte man das tun, wenn man seine eigene Bank hatte.

Der Nogilewskijs Schwiegervater organisierte solch eine Bank und brauchte einen Direktor fürs Unternehmen. Gleich erinnerte er an seinen Schwiegersohn, der ohne Arbeit in Rostow auf einen Posten spitzte und konnte seine Familie nicht ernähren. Er wurde nach Moskau umgesiedelt, bekam eine Wohnung und wurde zum Bankdirektor. Er hatte nur eine einzelne Aufgabe – notwendige Papiere zu unterschreiben. Es gab in Holding andere Menschen, die Buchhaltung führen. Schura versuchte mal Dokumente, die er unterschrieb, zu lesen, war aber vom Schwiegervater abgeraten. Der Letzte sagte, dass es keinen Sinn ergibt, weil das mit Realität nichts zu tun hatte. Schura erwiderte, dass er doch irgendwie wissen solle, was er unterschreibt, weil man ihn wohl dafür in Knast einlochen könnte. Der Schwiegervater antwortete ganz vernünftig, dass in Russland niemand eine Versicherung gegen entweder Knast oder Armut hat. XXX XXX XX XXXX XXX. Wennschon, dennschon.

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