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Weit entfernt sieht Alik verschwommene Lichter des Mähdreschers, der Sonnenblumen ernten. Er entscheidet sich fürs Sonnenblumenfeld, weil er fürchtet, dass man ihn den Erdweg gehend merken kann. Ächzend und krächzend humpelt Alik durch das Sonnenblumenfeld gen Scheinwerfer des Mähdreschers. Dort sollten Menschen sein, dort bekommt er notwendige Hilfe.

Von diesem Gedanken unterstützt, schlägt sich Alik das Feld durch. Die Blumen sind hoch, viel höher als Alik. Ihre Stämme sind dick und unangenehm stachlig. Sie wachsen so dicht, dass es fast unmöglich ist, einen Weg zu finden. Alik bewegt sich sehr langsam. Es ist noch dunkler hier, unter den Sonnenblumen. Er weiß nicht genau, ob er noch die Richtung hält. Alik stolpert immer wieder und verflucht den unbekannten Angreifer, seine eigene Dummheit, so was wie einen Ausflug zu organisieren, die Schüler, die immer um ihn herum rollten und er keine einzige Minute alleine verbringen konnte und jetzt braucht er sie, aber alle sind weg.

Alik weiß nicht, wie lange seine Anabasis schon dauert. Er verlor die Orientierung und das Gefühl von Zeit. Plötzlich hört er den Lärm des Mähdreschers. Der kommt selber auf ihn zu! Alik ist erleichtert und versucht die Richtung des Lärms zu bestimmen. Dann kriecht er gen diese Richtung. Von Zeit zu Zeit hielt er an und rieft laut, dass er sich hier befindet und kriecht wieder weiter. Es scheint, dass Mähdrescher sich ihm nähert. Mit großen Anstrengungen richtet sich todmüde Alik hoch. Er sieht schon die Scheinwerfer. Er beginnt mit den Händen zu winken. Er versucht sogar auf einem Fuß zu springen. Der Mähdrescher kommt näher. Seine Scheinwerfer leuchten ihm in die Augen. Jetzt sieht er überhaupt nichts. Alik schreit so laut, wie er nur kann. Alles umsonst, der Mähdrescher hielt nicht an. Wie in Trance versucht Alik dem Mähdrescher zu entkommen. Er beginnt zu rennen, stolpert und fällt hinunter. Er bringt es nicht fertig, weiter zu rennen. Er ist sicher, dass der Fahrer des Mähdreschers ihn deutlich sieht. Alik dreht sich auf den Rücken. Der Lärm ist unerträglich. Er sieht eine dunkle Silhouette hinter dem Lenkrad. Der Mähdrescher ist fast über ihm… Er hört und sieht nichts mehr.

Alik ist tot, mausetot.

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Ich gehe schon wieder durch die Straßen meiner Heimatstadt. (Google habe ich schon erwähnt). Jetzt stehe ich am Kruglaja Platz. Hier befindet sich meine ehemalige Schule. Jetzt nennt man sie stolz Ökonomisches Lyzeum. Ich verstehe bis heute nicht, was mit russischem Bildungssystem passierte, als man nach der Perestroika alles zu umbenennen begann. Schulen wurden zu Lyzeen und Gymnasien, anständige Hochschulen, die man gewöhnlicherweise in Russland Institute nannte, wurden zu Akademien und Universitäten, so entstanden Universitäten für Bauwesen oder für landwirtschaftliche Maschinenbau, Akademien für Wirtschaftswissenschaft oder Eisenbahnwissenschaft, als ob man dachte, dass man mit Umbenennung auch den Inhalt der Bildung und deren Qualität ersetzen kann. Doch die Menschen, die dort arbeiteten, blieben dieselben, sie wollten keine Änderungen und lehrten dasselbe, wie früher.

Damals aber war diese Schule fast normal. Fast, weil sie zur sowjetischen Eisenbahn gehörte. Eisenbahn war in der Zeit ein Staat im Staat. Ihr gehörte außer Schulen auch Hochschulen, Technika, Kindergarten. Krankenhäuser, Stadien und andere Sportanlagen, Sportvereine, Häuser, Kurorte, Hotels, eigene Polizei und eigene Militärdivisionen. Dem Imperium haperte an nichts.

Für die Schüler gab es keine Unterschiede, doch für Lehrer war es anders. Sie durften in S-Bahnen kostenlos fahren, ICE-Fahrkarten in einer Spezialkasse für Eisenbahnangstellen kaufen und keine langen Schlangen stehen, wie alle andere Normalsterbliche das machen.

Diese Schule war noch vor Zweitem Weltkrieg gebaut, so die Zimmerdecken waren sechs Meter hoch und sie besaß stolz die Treppen aus Marmor. Die Schule hatte ihr eigenes Stadion. Um Stadion herum schaffte man einen schönen Drahtzaun. Leider war es die meisten Schüler viel bequemer durch den Drahtzaun quer das Stadion in die Schule zu laufen, so machten die immer großen Löcher im Zaun und das brachte den Direktor in Wahnsinn. Außer Stadion hatte die Schule noch einen Schießstand. Dort konnte man mit Kleinkalibergewehr trainieren zu schießen. Ein Schuss kostete drei Kopeken und natürlich spendierten alle Schüler männlichen Geschlechts all ihr Geld dem Schießstand, zur großen Enttäuschung der Schulkantinenleitung.

Neben der Schule stand eine Fabrik, die Schmelzkäse herstellte. Die Mannigfaltigkeit der Käsesorten war in der Sowjetunion etwas begrenzt. Eigentlich existierten damals die ganzen drei Arten des Käses: Sowetskij, Rossijskij und Schwejzarskij (Interessant aber war – in welcher Beziehung stand Schweiz zu russischem Käse). Das waren ausgezeichnete Käse. Die sowjetische Bevölkerung fand, dass alle Käse dem Geschmack nach an Plastilin erinnerten. Es gab keinen einzelnen Käsetester in ganzem Land, der diese Käse an Geschmack unterscheiden konnte. Doch sogar diese Käse waren schwer in Laden zu kaufen, aber am Lager hatte sowjetischer Handel genug von dieser Ware. Käse wurde dort so lange gelagert, bis der sich zu verderben begann. Danach verfrachtete man ihn zu Schmelzkäsefabriken, wo man diesen Käse ganz offen am Hof stapelte. Der Geruch, der man in Umgebung spürte, war unbeschreiblich. Diesen Geruch konnte man in der Schule oft riechen. Also trug die frische Luft eine pikante Note.

Apropos, es gab in Rostow genug Unternehmen, die besondere Gerüche verbreitete. Außer der oben genannten Schmelzkäsefabrik existierten noch Lederbearbeitungsbetriebe und Schlachthof. Der letzte roch ausgezeichnet schön, so schön, dass obdachlose Straßenköter, die in der Stadt im Überfluss herum liefen, fielen todsicher zum Boden, wenn sie den Geruch nur einmal inhalierten.

Nicht weit vom Schlachthof platzierte irgendeiner Witzbold von Beamten die Rostower Rennbahn. Es ist immer schwer genug, auf das richtige Pferd zu wetten, doch in Rostow war das besonders schwierig, weil, wenn der Wind den Geruch vom Schlachthof brachte, rannten Pferde, als ob versuchten sie ihr Schicksal zu entgehen.

Aber das war nicht der Geruch, der die Rostower Bewohner beschäftigte. Was sie beschäftigte, war das Endprodukt. Dieses Produkt der anderen stinkenden Unternehmen konnte man sehen und sogar essen, wie Ledertaschen oder Schmelzkäse. Dieser Käse war enorm populär bei Alkoholiker, man kaufte immer paarweise: „Solnzedar“ und Schmelzkäse, Portwein „777“ und Schmelzkäse, „Plodovo-jagodnoe“und Schmelzkäse (die richtige Proportion war: eine Flasche Wein zu einem Käschen). Das waren „Zwillinge-Brüder“ (die Allusion an damals überall hängende Spruchbänder „Lenin und Partei – Zwillinge-Brüder“). Was aber das Endprodukt des Schlachthofs betraf, so gab es ein Geheimnis. Es sollte etwas existieren, was so gewaltig stank, aber niemand sah dieses Etwas (man munkelte flüsternd, dass das Fleisch sein soll, doch niemand war dieser Sache sicher in Abwesenheit des Fleisches).

Die Schule war gut. Lehrer versuchten ihr Bestes, um Schülern das notwendige Wissen in Köpfe einzuprägen. Damals waren sowjetische Lehrer für Ergebnisse der Schüler verantwortlich. Die ganzen zehn Jahre machten sie das. Man glaubt in Deutschland treuherzig (besonders Beamten), dass man in der Schule elf – dreizehn Jahren sitzen soll, um Abitur zu machen, als ob man nur Arschstunden zählt, doch kein Wissen. Noch in sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelten sowjetische Psychologen die Methoden, die den Schülern das ganze Schulprogramm in fünf Jahren schaffen zu ermöglichten, aber keinen brauchte so was. Die Dauer der Schulzeiten ist nur ein Mittel zu Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in jedem Land. Mir war schon zehn Jahre zu lang, es war langweilig in der Schule.

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