Crocker, wahrscheinlich der älteste Mann an Bord, war mit seinem dünnen weißen Nackenzopf und seltsam hüpfenden Gang ein richtiges Original. Seit ihn etwa in Adams Alter ein Splitter ins linke Auge getroffen hatte, war er darauf fast blind. Doch mit dem rechten Auge sah er so scharf wie ein Falke, und wenn er einen Kanonenlauf ausrichtete und abfeuerte, traf er besser als eine ganze Crew. Er verstand sich auch aufs Kugelerhitzen, und Bolitho glaubte schon die beißenden Schwaden zu riechen, die von den hinter der Brüstung aufgestellten Essen aufstiegen.
Crocker schien überrascht, seinen Vizeadmiral auf der Bastion anzutreffen. Grüßend tippte er sich an die Stirn und drehte dann seine Mütze herum, damit er besser durch die Schießscharten spähen konnte. Jetzt sah er noch verwegener aus, und Bolitho konnte es seinen Stückführern leicht nachfühlen, daß sie ihn wie die Pest fürchteten.
«Feiner Morgen für 'ne Ballerei, Sir!»
Bolitho mußte lächeln.»Halten Sie sich bereit.»
Lemoine sah dem davonhastenden Crocker nach.»Der hat meine Männer ziemlich in Trab gehalten, Sir.»
Von der Kirche in der Stadt klang Glockengeläut herüber, dünn und melancholisch in der feuchten Morgenluft.
«Was bedeuten die Glocken, Mr. Lemoine?«Bolitho hielt sein Teleskop auf das ferne Schiff gerichtet.
Der Leutnant unterdrückte ein Gähnen. Er hatte bis nach Mitternacht mit seinem Stellvertreter Karten gespielt — und verloren.
«Hier auf der Insel leben viele Katholiken, Sir«, antwortete er.»Die Glocken rufen zur Morgenandacht. «Als Bolitho schwieg, fügte er noch erläuternd hinzu:»Heute ist ein Feiertag für sie, der Namenstag von St. Damian.»
Lemoine ging ohne Scheuklappen durch die Welt, dachte Bolitho zufrieden. Im Gegensatz zu manchen Offizieren, für die außerhalb ihres eigenen engen Befehlsbereichs nichts anderes existierte.
Wieder Kanonenfeuer. Es klang, als versuchten sie, ein Schiff am Einlaufen zu hindern. Adam fiel ihm ein. Nein, ihn betraf es bestimmt nicht. Tyrrell war ein viel zu alter Fuchs, um sich so früh fangen zu lassen.
Er schwenkte das Glas zum anderen Vorland herum, das sich eben aus dem Schatten schälte. An seinem felsigen Fuß erkannte er schon die weiße Brandung und weiter draußen die Kette größerer Felsblök-ke, die ins Meer hinausragte und den bezeichnenden Namen Cape Despair, Kap der Verzweiflung, trug.
Schritte polterten die Treppe herauf, und ein Melder erstattete Le-moine bellend Bericht. Der Leutnant wandte sich an Bolitho:»Me l-dung vom Flaggschiff, Sir: alle Boote ausgesetzt und Patrouillen alarmiert.»
Bolitho konnte sie vor sich sehen, die kleinen Truppen der Marineinfanteristen, verstärkt durch ein paar Freiwillige der Inselmiliz. Eine kleine Streitmacht, aber wenn sie geschickt eingesetzt wurde, konnte sie wenigstens verhindern, daß durch den Riffgürtel Stoßtrupps angelandet wurden. Abgesehen davon gab es nur eine Zufahrt, eine sichere, und das war der Weg, den Keen nachts gewählt hatte. Aber wenn der Feind dort einen Durchbruch versuchte, würde ihm der alte Crok-ker mit seinen glühenden Kugeln tüchtig einheizen.
Sonnenlicht floß die Hänge herunter und übergoß die Hafeneinfahrt mit Gold. Im Teleskop sah Bolitho das Wachboot dort langsam entlangrudern, befehligt von einem Midshipman, der im Heck stand und wahrscheinlich seine befristete Freiheit genoß.
Lemoine sagte:»Da ist sie, Sir!»
Das fremde Schiff rundete das Vorland, seine Segel verloren den Wind, als es wendete, füllten sich aber gleich wieder auf dem neuen Bug: ein großes, gut geführtes Fahrzeug.»Indienfahrer, Sir«, meldete sich wieder Lemoine.»Ich kenne ihn, es ist die Royal James. Vor einigen Monaten lag sie in Antigua.»
Aus den Schießscharten beugten sich neugierige Männer, andere liefen unten auf der Pier nach vorn, um den Ankömmling besser sehen zu können.
Bolitho kam zu einem Entschluß.»Ich kehre aufs Flaggschiff zurück, Mr. Lemoine. Sie werden hier ja allein fertig. «Er war schon die halbe Treppe hinabgelaufen, ehe der Leutnant antworten konnte.
Die Mannschaft der Barkasse sprang auf, als Bolitho durchs Tor eilte.»Zum Schiff, Allday«, befahl er.
Er ignorierte ihre Überraschung und versuchte sich darüber klar zu werden, was ihn so beunruhigte. Wenn der Verfolger nicht noch durch einen Zufallstreffer in seinem Rigg Schaden anrichtete, sollte der Indienfahrer sicher den Hafen erreichen können. Bei diesem starken Südost mußte sich das feindliche Schiff gut von der Leeküste freihalten — oder sich dem Kugelhagel der Kanonen stellen. Und jetzt, bei vollem Tageslicht, konnte Crocker eigentlich nicht danebenschießen.
Die Riemen der Barkasse hoben und senkten sich in schnellem Gleichtakt, bis das Boot übers glatte Wasser zu fliegen schien.
Plötzlich packte Bolitho Alldays Arm.»Kursänderung! Aufs Vorland zuhalten!«Als Allday zögerte, schüttelte er ihn und rief aus:»Ich muß blind gewesen sein! Dabei hat Lemoine mich unwissentlich darauf gebracht: Heute ist St. Damianstag!»
Allday legte Ruder, so daß die Barkasse einen Bogen beschrieb, aber dennoch kam kein einziger der langen Riemen aus dem Takt.
«Aye, Sir, wenn Sie's sagen?»
Er hält mich für verrückt, dachte Bolitho und erläuterte hastig:»Aber trotz des Feiertags ist noch kein einziges Boot von der Missionsinsel gekommen!»
Immer noch starrte Allday ihn an.
Bolitho blickte sich nach dem Wachboot um, aber das stand zu nahe an Land, dicht vor der Hafeneinfahrt, und jeder Mann im Boot hatte nur Augen für die Royal James, die jetzt gleich um den Landvorsprung brausen mußte.
Bolitho hieb sich mit der Faust in die andere Handfläche. Er hätte es gleich sehen müssen!
«Ist die Mannschaft bewaffnet?«fragte er Allday.
Der nickte und kniff die Augen vor der blendenden Sonne zusammen.»Jawohl, Sir, mit Entermessern und drei Pistolen.»
Er warf Bolitho einen Seitenblick zu, gespannt, was nun bevorstand, wagte aber vor seinen Untergebenen nicht danach zu fragen.
«Dann muß das reichen. «Bolitho deutete auf einen winzigen Sandstrand.»Setz uns dort auf.»
Als die Rudergasten ihre Riemen in der Schwebe hielten und das Boot lautlos in den Schutz der hohen Steilküste glitt, wirkte die Szenerie ungemein friedlich.
«Alle von Bord!«Bolitho kletterte hinaus und spürte, wie die Strömung die Beine unter ihm wegziehen wollte, als er zum Strand watete. Entermesser und drei Pistolen — wogegen? Er befahl:»Schickt einen Mann aus, er soll die Patrouille von der Landspitze herbeiholen. Aber sich dabei nicht blicken lassen.»
Allday ließ ihn nicht aus den Augen.»Ist das ein Überfall, Sir?«fragte er nervös.
Aus dem Häufchen Waffen im Sand suchte sich Bolitho eine Pistole und ein schweres Entermesser heraus. Ausgerechnet diesmal war er unbewaffnet an Land gegangen.
«Es geht um die Mission. Irgend etwas stimmt dort nicht.»
Auch die Männer bewaffneten sich und folgten ihm gehorsam den Steilhang hinauf. Auf dem Bergrücken empfing sie starker Wind, der ihnen Sand ins Gesicht peitschte; der Bewuchs, der von weitem so einladend aussah, bestand nur aus zähem Unkraut und niedrigen Sträuchern.
Auf dem Missionsinselchen drängten sich die wenigen Gebäude dicht zusammen; der Strand war leer, alles wirkte völlig verlassen. Nicht einmal Rauch zeugte von Herdfeuer oder anderweitigem Leben.
Bolitho hörte schwache Hochrufe, halb verweht vom Wind, als riefen irgendwo spielende Kinder. Er hielt inne und warf einen Blick über die Hafeneinfahrt zur alten Festung hinüber, deren Flagge munter auswehte. Die Hochrufe kamen wahrscheinlich vom Wachboot, denn der mächtige Indienfahrer ragte plötzlich über dem Vorland auf und hielt zielstrebig auf den sicheren Hafen zu.
Er hatte ein großes Boot im Schlepp, doch an Deck zeigten sich kaum Leute; auch enterte niemand auf, um die Segel zu kürzen, sobald das Schiff den Ankerplatz erreicht hatte. In diesem Augenblick glitt das Wachboot in Sicht; der Midshipman hob schon seine Flüstertüte an die Lippen, um den Neuankömmling anzupreien.