Auch Bolitho sah jetzt seinen Neffen an. Der Augenblick war da, den er bisher aufgeschoben hatte, aber sie mußten die leichte Brise zum Auslaufen nutzen. Er merkte, daß Yovell ihn anstrahlte, und begann sich plötzlich zu fragen, ob er das Richtige tat.
Zu Keen sagte er:»Ich komme gleich an Deck, Kapitän Keen.»
Dann nahm er den versiegelten Brief zur Hand und vergewisserte sich, daß es der richtige war. Ein Griff nach seinem Hut, den Ozzard ihm hinhielt, und er schritt mit Keen zur Tür.
«Wahrscheinlich ein dummes Versehen, Sir«, meinte Keen.
Doch im Vorbeigehen drückte Bolitho seinem Neffen den Brief in die Hand.»Ich bin oben, wenn du mich brauchst«, sagte er dabei.
Verwirrt begleitete Keen seinen Vizeadmiral aus dem Schatten des Hüttendecks hinaus und an dem großen Doppelrad vorbei, wo die Rudergänger und der Steuermannsmaat gespannt darauf warteten, daß der Anker ausbrach.
Überall wimmelte es von Matrosen und Soldaten. Die Toppgasten waren längst aufgeentert und hingen wie Affen auf den oberen Rahen, um die lose aufgegeiten Segel fallen zu lassen. Alle Brassen waren bemannt, und die Decksoffiziere und Maaten beobachteten ihre Abteilungen mit Argusaugen, während das Ankerspill klickte, begleitet vom Wimmern der Fiedel. Der Admiralsflagge im Fockmast war sich auch der letzte Mann bewußt.
Allday stand neben einem der Zwölfpfünder auf dem Achterdeck, als ihm plötzlich auffiel, daß Ozzard vergessen hatte, Bolitho den alten Familiensäbel umzuschnallen. Mit einem lautlosen Fluch rannte er davon und stürzte an dem verblüfften Wachtposten vorbei in die Heckkajüte.
Doch er erstarrte, als er Pascoe mitten im Raum stehen sah, ein geöffnetes Schriftstück wie vergessen in der herabhängenden Hand.
Wie Yovell, der fast alle Briefe für den Vizeadmiral schrieb, wußte auch Allday, was in dem Schriftstück stand. Es hatte ihn tief bewegt, daß er zu den wenigen Eingeweihten gehörte.
«Alles in Ordnung, Sir?«fragte er.
Als sich der junge Leutnant ihm zuwandte, gewahrte Allday mit Schrecken, daß seine Wangen tränennaß waren.»Nicht doch, Sir! Er wollte Ihnen eine Freude machen!«»Eine Freude?«So geistesabwesend, als begreife er die Welt nicht mehr, machte Pascoe ein paar Schritte zur Wand und zurück.»Und Sie wußten davon, Allday?«»Aye, Sir. Gewissermaßen.»
Allday war in seinem Leben weit herumgekommen, und Bolitho hatte schon öfter erklärt, daß er es mit einer ordentlichen Erziehung zu sehr viel mehr gebracht hätte als bis zum Seemann. Aber er mußte gar nicht lesen können, um zu verstehen, warum Kapitän Keen über den Titel auf dem Umschlag so erstaunt gewesen war.
Der Brief war adressiert an: >Seine Hochwohlgeboren Adam Bo-litho, Flaggleutnant auf Seiner Britannischen Majestät Kriegsschiff Achates.< Mit schwimmenden Augen starrte Adam den Inhalt an, ohne weiterlesen zu können. Die schweren Wachssiegel des Anwalts, das Erbrecht auf Bolithos Besitztum in Falmouth, mehr sah er nicht.
Allday führte ihn zu der Polsterbank unter den Heckfenstern.
«Ich hole Ihnen etwas zu trinken, Sir. Und dann bringen wir ihm gemeinsam seinen alten Säbel. «Er sah Adam nicken und setzte leise hinzu:»Schließlich sind Sie jetzt ein echter Bolitho. Genau wie er.»
Wie aus einer anderen Welt klang der Ruf zu ihnen herab:»Anker ist frei, Sir!»
Das Getrappel zahlloser Füße und das rauhe Geschrei der Decksoffiziere schienen von weit her zu kommen.
Allday goß Brandy in ein Glas und brachte es dem Leutnant, den er kannte, seit er mit vierzehn Jahren als Kadett auf Bolithos alter Hyperion angemustert hatte.
«Hier bitte, Sir.»
Adam faßte sich allmählich.»Sie wollen wissen, ob ich mich freue«, sagte er leise.»Meine Empfindungen lassen sich nicht in Worte fassen. Er mußte doch nicht.»
Allday hätte gern ebenfalls einen Schluck getrunken.»Aber es war sein Wunsch. Schon lange.»
Das Deck unter ihren Füßen krängte leicht, als das Schiff unter Mars- und Vorsegeln in der schwachen Brise Fahrt aufnahm.
Allday hob den abgewetzten alten Säbel von seinen Haken an der Wand und betrachtete ihn. Beim letzten Mal hätten sie ihn beinahe für immer verloren. Eines Tages würde er also diesem jungen Mann gehören, dem Ebenbild des anderen oben an Deck.
Leutnant Adam Bolitho wischte sich die Augen mit der Manschette trocken.»Dann wollen wir mal, Allday. «Aber ganz hatte er sich noch nicht wieder gefangen. Er ergriff den Bootsmann am Arm und murmelte:»Bin ich froh, daß Sie eben hier waren. «Grinsend folgte ihm Allday aus der Kajüte.
Der junge Spund freute sich also wirklich, dachte er. Das mochte er ihm auch geraten haben. Anderenfalls hätte er ihn trotz seines Offiziersranges übers Knie gelegt und versohlt.
Adam trat in den Sonnenschein hinaus. Er sah nicht die erstaunten Blicke, die ihm folgten, hörte auch nicht den unterdrückten Fluch eines vorbeihastenden Matrosen, der fast mit seinem Flaggleutnant zusammengestoßen wäre. Er nahm Allday den Säbel aus der Hand und schnallte das Gehenk um Bolithos Mitte.
Bolitho sah ihm dabei zu.»Danke, Adam«, sagte er mit Wärme.
Der Leutnant nickte und suchte nach Worten, aber Bolitho nahm seinen Arm und führte ihn beiseite, wandte sich mit ihm der welligen Küstenlinie zu, die querab vorbeizog und zurückblieb, während das Schiff in tieferes Wasser glitt.
«Später, Adam. Wir haben noch viel Zeit.»
Der Erste Offizier hob sein Sprachrohr und spähte durch das Gewirr der Takelage nach oben.»Los Bramsegel!»
Er warf einen Blick zu der Gruppe, die in Luv stand: der noch jugendliche Vizeadmiral mit seinem Adjutanten; er wollte wohl sehen, ob das Schiff gut genug für ihn war.
Allday war der Blick nicht entgangen. Ein Grinsen unterdrückend, dachte er: Junge, du hast noch eine Menge zu lernen. Du weißt gar nicht, wieviel.
III Das Schiff ohne Namen
Die ganze erste Woche nach ihrem Auslaufen hatte Achates mit schwachen und umspringenden Winden zu kämpfen. Kaum eine Stunde verging, ohne daß die Segel neu getrimmt werden mußten, damit sie Ruder im Schiff behielten und beim Kreuzen nicht auf den alten Kurs zurückgedrückt wurden.
Die nervtötende Eintönigkeit wirkte sich auf die Stimmung an Bord aus. Nach dem Zeitdruck und der Aufregung des Aufbruchs führte die plötzliche Untätigkeit des öfteren dazu, daß Aufsässigkeit und Streitsucht mit Auspeitschungen an der Gräting geahndet werden mußten.
Bei einem solchen Strafvollzug hatte Bolitho Keens Miene genau beobachtet. Manche Kommandanten hätten sich davon nicht weiter erschüttern lassen, schließlich gehörte auch das zur Bordroutine; aber Keen war da anders. Bezeichnenderweise kam Bolitho gar nicht auf den Gedanken, daß er Keen auch darin in langen Dienstjahren selbst geprägt hatte.»Das Schlimmste daran ist«, hatte Keen bemerkt,»daß ich die Gefühle der Delinquenten verstehen kann. Manche haben nicht ein einziges Mal den Fuß an Land gesetzt, seit sie aus Westindien zurückgekehrt sind. Und jetzt müssen sie wieder hinaus. Sie sind dankbar dafür, daß ihnen Armut und Arbeitslosigkeit erspart bleiben, aber es empört sie, daß sie nicht besser behandelt werden als Gepreßte.»
Erst zu Beginn der zweiten Woche frischte der Wind aus Nordwest auf und erwe ckte das Schiff endlich wieder zum Leben; immer höher wuchsen die beiden Gischtschwingen unter der verwitterten Galions-figur.
Die Ausguckposten in den Masttopps hatten bisher nur selten Segel an der verschleierten Kimm gesichtet, und auch diese Unbekannten waren stets schnell über Stag gegangen und verschwunden. Heimkehrende Schiffe, die seit Monaten ohne Informationen über die Vorgänge in Europa waren, gingen kein Risiko ein, wenn ihnen ein Kriegsschiff begegnete. Veilleicht war inzwischen ein neuer Krieg ausgebrochen? Immer noch mochten manche Kapitäne nicht wissen, daß längst ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet worden war.