Bolitho sah ihm zu, als er das Tablett vorsichtig abstellte. Also hatte auch der Zahlmeister seine Hoffnungen gehabt, denn andernfalls hätte er niemals eins seiner kostbaren letzten Hühner geopfert.
«Ein Glas Wein, Sir?«fragte Ozzard geduldig.
Bolitho mußte lächeln. Der schmächtige Ozzard, wie vertrauensvoll und loyal er war! Nichts schien ihm ferner zu liegen als der Gedanke, daß er noch vor dem Abend tot sein konnte.
«Ja, bitte, Ozzard«, sagte Bolitho.»Ein Glas aus deinem speziellen Kistchen.»
Als der Steward davongehuscht war, vergrub Bolitho das Gesicht in den Händen.
Der französische Admiral war also über den neuerlichen Kriegsausbruch noch nicht informiert, sonst hätte er auf jeden Fall die Formation seines Geschwaders so geändert, daß er aus drei Richtungen zugleich angreifen konnte. Achates konnte die erste Fregatte unter Feuer nehmen und wahrscheinlich zum Wrack schießen, ehe ihr Kommandant wußte, wie ihm geschah. Danach konnten sie das Linienschiff angreifen. Dann war die Übermacht immer noch groß, aber wenigstens um ein Drittel reduziert.
Bolitho rief sich seine ungläubige Wut ins Gedächtnis, als der spanische Zweidecker Achates ohne Vorwarnung angegriffen hatte. Wie hatten sie ihn für seine Feigheit und Hinterhältigkeit verflucht!
Brachte er es jetzt über sich, genauso zu handeln?
Nicht ehrenhaft. Ehrenhaft. Das Wort schien wie ein geflüsterter Zauberspruch in der Kajüte umzugehen.
Bolithos Blick fiel auf den alten Familiensäbel an der Wand, und er erinnerte sich wieder daran, wie sein Vater die Waffe ihm und nicht seinem älteren Bruder Hugh übergeben hatte. Sie hätte eigentlich Hugh gebührt, wäre da nicht sein Verrat, seine Desertion gewesen, die wie ein Schatten über der Familie hing und Bolitho sogar bis nach San Felipe gefolgt war. Das hatte dem alten Bolitho das Herz gebrochen und den Säbel in die Obhut seines zweiten Sohnes gebracht.
Laut sagte Bolitho:»Also sei's drum!«Im Grunde hatte er nie die freie Wahl gehabt, hatte sich nur etwas vorgemacht.
Als Ozzard mit einer in der Bilge gekühlten Flasche Wein zurückkam, fand er Bolitho so ruhig und äußerlich unbesorgt vor, wie er es von ihm gewohnt war.
So schlecht konnte es demnach nicht um sie bestellt sein.
XVII Mit Vorwarnung
Mit ein paar Schritten über aufgeschossene Leinen war Bolitho an der Luvreling des Achterdecks. Die französische Fregatte stand nun an Steuerbord achteraus viel dichter bei ihnen, hatte aber Segel gekürzt, als sei sich der Kommandant über den nächsten Schritt noch unschlüssig. Bolitho schätzte den Abstand auf eine halbe Meile.
Hinter sich hörte er Männer unbeholfen herumkriechen, als sei die Achates plötzlich mit Krüppeln bemannt. Aber es war unbedingt nötig, daß sie ohne das übliche Hasten und Rennen gefechtsklar machten, denn das wäre den Ausgucks der Franzosen sofort aufgefallen.
Keen sagte gerade zum Bootsmann:»Lassen Sie die Leute zum Ket-tenaufriggen erst aufentern, wenn das Gefecht beginnt.»
Big Harry Rooke brummte eine mürrische Antwort, und Keen wies ihn scharf zurecht:»Wir haben keine Wahl, Mann. Machen wir jetzt auch nur einen falschen Zug, dann fressen uns heute abend die Fische.»
Er wandte sich ab und entdeckte Bolitho.
«Mr. Quantock ist tief beschämt über seinen negativen Rekord, Sir: zwanzig Minuten, um gefechtsklar zu machen!«Dieser Versuch zu scherzen schien ihm sein seelisches Gleichgewicht zurückgegeben zu haben, denn er fuhr ruhiger fort:»Welches sind Ihre Befehle für diesen denkwürdigen Tag, Sir?»
Bolitho deutete nach Lee.»Gleich werden wir drei Strich abfallen. Ich rechne damit, daß die Fregatte dann erneut zu uns auf schließen und achteraus ihre Position einnehmen wird. Diesmal aber viel näher an Achates.»
Wenn sich sein Herzschlag doch nur beruhigen wollte! Ein falscher Ton, und die Anspannung würde sich in seiner Stimme verraten.
Keen spähte über seine Schulter nach der Segelpyramide des Franzosen.»Sie ist genauso neu wie der 74er. Wahrscheinlich sollte das die Amerikaner beeindrucken. «Die Verbitterung war ihm deutlich anzumerken.»Wogegen unsere Regierung es für angebracht hielt, den ältesten noch segelnden 64er nach Amerika zu schicken!»
Bolitho ging zur Querreling und musterte das Batteriedeck mit seinen schwarzen Achtzehnpfündern. Die Stückmannschaften, die sich für den Kampf schon ihrer Hemden entledigt hatten, duckten sich unter die Seitendecks oder preßten sich mit ihrem Handwerkszeug in den Schatten der Kanonen.
«Es muß sehr schnell gehen, Val«, sagte Bolitho.»Der französische 74er ist jetzt direkt achteraus, und wir dürfen keine Minute vergeuden. Sobald wir unsere Absichten zu erkennen geben, werden sie blitzschnell dagegen gewappnet sein.»
Keen nickte, in Gedanken schon beim nächsten und übernächsten Manöver.»Das dritte Schiff ist kleiner. Mr. Mountsteven meint, es handelt sich um eine Fregatte mit 26 Kanonen. Wenn ich mich recht erinnere, ist es die Diane, im Vergleich zu den beiden anderen ein Veteran.»
Knocker drehte das Halbstundenglas neben der Kompaßsäule um und meldete:»Alles klar, Sir.«»Sagt das ins untere Batteriedeck weiter.»
Keen sah sich um, weil Allday mit Bolithos Säbel an Deck erschien, das Gesicht so starr, als schmerze ihn seine Wunde.
Bolitho hob leicht die Arme an, damit Allday ihn mit der Waffe gürten konnte. Sein Bootsführer murmelte:»Sie sollten heute die Epaulet-ten ablegen, Sir. «Aber dann zuckte er grinsend die Schultern.»Ich weiß ja, ich predige tauben Ohren.»
Bolitho sah drüben auf dem Franzosen Sonnenlicht von einem Teleskop im Fockmasttopp reflektieren. Jede Sekunde jetzt mochten sie Verdacht schöpfen und klar zum Gefecht machen.
Aber er sagte nur:»Gib acht auf dich, Allday. Daß du mir heute nichts riskierst!»
Er legte ihm die Hand auf den Arm, und zwei Pulverjungen auf dem Achterdeck stießen sich mit den Ellbogen an, über dem Kiebitzen ins Privatleben ihres Admirals den Feind momentan vergessend.
Alldays Blick war trotzig.»Beleidigen Sie mich nicht, Sir. Wenn die Kerls sich mit uns anlegen wollen, kriegen sie von mir Saures, verlassen Sie sich drauf!»
Bolitho lächelte.»Ich weiß ja genausogut, daß ich tauben Ohren predige, alter Freund.»
Er fuhr herum, weil Keen meldete:»Sie signalisieren der Argo-naute, Sir!»
Midshipman Ferrier ließ enttäuscht sein großes Signalteleskop sinken.»Verschlüsselt, Sir.»
Bolitho befahl:»Kurs ändern!»
Darauf hatten die Rudergänger schon lange gewartet. Sie ließen das große Rad wirbeln, und während andere an die Brassen eilten, um die Rahen neu zu trimmen, meldete Knocker:»Drei Strich abgefallen, Sir. Neuer Kurs Nordost zu Nord!»
Bolitho spürte selbst die Veränderung in dem viel heftigeren Zupak-ken des Windes oben in den Segeln.
Keen erinnerte sich an den Ausguck.»Rufen Sie Mr. Mountsteven wieder herunter«, befahl er.
«Der Franzose ändert Kurs, Sir.»
Bolitho hielt den Atem an, als die mächtige Fregatte um etwa einen Strich auf Achates zudrehte und gleichzeitig Großsegel und Treiber setzte.
Keen hieb mit der Faust auf die Reling.»Sie überholt uns, Sir«, rief er.
Ein Seesoldat ließ etwas Metallisches an Deck poltern, worauf Sergeant Saxton ihn anzischte:»Wenn du dich noch einmal rührst, zieh' ich dir bei lebendigem Leibe die Haut ab!»
Gischt sprühte über Galion und Bugspriet der Fregatte. Wenn sie Kurs und Geschwindigkeit beibehielt, mußte sie Achates mit einer halben Kabellänge Distanz an Steuerbord überholen.
Als Bolitho wieder sein Fernglas hob, sah er gespannte Gesichter übers bewegte Wasser zu ihnen herüberspähen; sie kamen ihm seltsam fremdartig vor, da er seit Wochen nur die vertrauten Gesichter seiner eigenen Besatzung gesehen hatte.
«Batteriedecks — feuerklar!»