Mit verschränkten Armen starrte Keen zum Feind hinüber. Sobald Achates wieder über Stag ging, würde der Wind sie stark nach Lee überlegen. Aber das plötzliche Manöver mußte sie auf einen Kurs quer zu dem der Fregatte bringen, praktisch vor ihrem Bug vorbei. Also jetzt oder nie — denn in ein paar Minuten wäre es zu spät, dann würden die beiden Schiffe kollidieren, wenn Achates ihre Halse fuhr.
«An die Brassen!»
Bolitho packte seinen alten Säbel und preßte ihn fest an den Oberschenkel.
«Jetzt!»
Das große Doppelrad quietschte laut, als die Rudergänger sich mit ganzem Gewicht in die Speichen warfen. Während die Rahen mit dem Wind herumzuschwingen begannen, stiegen zwei neue Flaggen zum Groß- und zum Besanmasttopp empor.
«Stückpforten auf! Schneller, dort drüben! Ausrennen!»
Bolitho konnte den Blick nicht von der turmhohen Segelpyramide der französischen Fregatte wenden, die jetzt auf Achates' Steuerbordseite zuglitt.
Er hörte ein Trompetensignal und konnte sich drüben die fieberhafte Geschäftigkeit vorstellen, als das britische Schiff, das sie gehetzt hatten, plötzlich wie ein gestellter Eber herumfuhr, alle Kanonenrohre ausgerannt; in jedem Rohr staken Doppelkugeln, hinter jeder Lafette kauerte ein Stückmeister und suchte sein Ziel.
Keen rief gellend:»Ziel auffassen!«Sein Arm hieb nach unten: «Einzelfeuer!»
Einen Augenblick fürchtete Bolitho, daß er zu lange gezögert und wertvolle Sekunden mit dem Hissen seiner Gefechtsflaggen verloren hätte. Wenn die Rollen vertauscht gewesen wären.
Aber dann dröhnte ihm der Kopf, und er hörte auf zu denken, weil die Achtzehnpfünder des oberen Batteriedecks einer nach dem anderen losbrüllten und wieder binnenbords ruckten. Mit tieferem, noch stärkerem Krachen stimmten die schweren Vierundzwanzigpfünder auf dem unteren Batteriedeck ein und ließen das Schiff vom Vorsteven bis zum Heck erbeben.
Männer taumelten würgend durch den Rauch, der viel zu langsam durch die Stückpforten und über die Seitendecks abzog, als Achates jetzt ihre Breitseite dem Südwind darbot.
Auf so kurze Distanz war die Wirkung der Salve verheerend.
Fockmast und Großmaststenge der Fregatte gaben unter dem Hagel der Doppelkugeln nach und begannen zu wanken. Spieren, Segel und laufendes Gut prasselten wie eine verheerende Lawine auf Vorschiff und Seitendecks nieder, warfen Gischt auf und rissen den Rumpf aus dem Kurs.
«Auswischen! Nachladen!»
Keens Stimme übertönte die Artilleriekommandos:»Klar zur Wende, Mr. Quantock!«Daß es schnell gehen mußte, brauchte er nicht eigens zu betonen.
Als erneut Ruder gelegt wurde und Achates' Bug durch den Wind drehte, war Bolitho erleichtert, daß sie nicht mehr Segelfläche oben hatten, sonst wäre das Schiff entmastet worden.
Wieder hoben die Steuerbord-Stückmeister einer nach dem anderen die Hand, um ihre Kanone schußbereit zu melden. Die französische Fregatte trieb unter dem Gewicht der Wrackteile hilflos nach Lee — einstweilen noch. Denn Bolitho ließ sich nicht täuschen; er wußte nur zu gut, was geschehen konnte, sobald Äxte und Messer die Trümmer drüben erst gekappt und das Schiff befreit hatten.
«Großbrambrassen — hievt, Leute, hievt! Noch mehr!»
Achates schwang immer weiter herum, bis die Fregatte plötzlich Steuerbord voraus an ihr vorbeiglitt, als mache sie so viel Fahrt und nicht der leichte Zweidecker.
Jedem unerfahrenen Auge hätte er ein chaotisches Bild geboten. Ein Bootsmann legte mit seiner Gang auf der Großrah aus, um die Kettenschlingen aufzuriggen, während das Schiff unter ihnen fast um seine Masten auf der Stelle drehte, um das Heck des Feindes zu passieren.
«Steuerbordbatterie — feuerklar!»
Keen hielt den Arm hoch erhoben und zuckte mit keiner Wimper, als in der Bordwand des Feindes hier und da eine einzelne Kanone trotzig zurückfeuerte. Aber für Gegenwehr war es zu spät. Als Achates das Steuerbord-Achterschiff des Feindes passierte, verstummten drüben auch die letzten Kanonen, denn der Schußwinkel wurde zu spitz.
Aber aus dem Besan und vom Hüttendeck wurde mit Musketen geschossen — spärliches Einzelfeuer, das Dewars Scharfschützen energisch erwiderten.
Bolithos Magen verkrampfte sich, als er sah, wie Achates' Klüverbaum am Heck der Fregatte mit seinen schimmernden Fenstern und dem in Goldbuchstaben geschnitzten Namen La Capricieuse vorbeiglitt.
Denn nun spuckte Achates' Steuerbordkarronade auf dem Vorschiff Feuer und Rauch, und das Heck des Franzosen schien aufzuplatzen wie eine obszöne Eiterbeule. Aber damit nicht genug: Wenn die großkalibrige Kugel in dem mit Menschen vollgepackten Rumpf barst, mußte ihre Ladung aus Nägeln und scharfen Eisenstücken das Batteriedeck in ein blutiges Schlachthaus verwandeln.
Menschen, Waffen und das Ruderrad, alles würde weggefegt werden und das Schiff für lange Zeit bewegungsunfähig bleiben.
Keen formte mit den Händen einen Schalltrichter.»Lassen Sie die Royals setzen. Mr. Quantock!»
Ihm blieb keine Zeit, über die Bluternte der Karronade nachzudenken, für ihn zählte nur, daß die Fregatte außer Gefecht gesetzt war.
Wieder einmal kämpfte sich Achates in eine Position, in der sie den Wind von schräg achtern harte. An Bord schien sich nichts verändert zu haben: keinem Mann war ein Haar gekrümmt, kein Segel war durchlöchert, keine Planke zerfetzt worden.
Bolitho stieg aufs Hüttendeck und richtete sein Fernrohr auf das französische Linienschiff. Selbst auf diese Distanz machte das Schiff einen wütenden, kämpferischen Eindruck, als es mehr Segel setzte und Signalflaggen hißte, um die zweite, noch unbeschädigte Fregatte zu verständigen.
Knocker rief:»Neuer Kurs Ostnordost, Sir!»
Der französische 74er steuerte Nordost und damit wieder konvergierenden Kurs zu ihnen. Aber er hielt immer noch die Luvposition und würde wahrscheinlich versuchen, seinen Gegner mit einer hoch gezielten Breitseite zu entmasten oder ihn mit Kettenkugeln wenigstens stark zu beschädigen, während er selbst für den Briten außer Schußweite blieb.
Keen trat heran und salutierte.»Alle Kanonen geladen und feuerklar, Sir«, meldete er und warf einen Blick nach oben in die Takelage.»Mr. Rooke hat es sogar geschafft, in der Zwischenzeit alle Netze und Kettenschlingen auszubringen.»
Bolitho mußte lächeln.»Ich weiß, daß wir viel riskiert haben, Val.»
Keen wandte den Blick ab.»Jedenfalls waren Sie fair und haben sie vorher gewarnt. Diesmal brauchen Sie das nicht mehr zu tun.»
Auch er starrte gespannt zu dem französischen Linienschiff hinüber, das noch eine Seemeile entfernt war; die kleine Fregatte hielt sich gut frei von ihm und kreuzte vor dem Wind, um sich jederzeit aufAchates stürzen und das Feuer aus einem anderen Winkel eröffnen zu können.
Bolitho wußte, daß Achates sich nun bald mit dem moderneren, größeren und besser bewaffneten Gegner messen mußte, und spürte die Spannung wie eine geballte Faust in seinen Eingeweiden; immerhin war sein Schiff beweglicher und hatte sich schon Hunderte von Malen im Gefecht bewährt.
Keen überlegte laut:»Wenn er in Luv bleibt, kommen wir nicht an ihn heran, Sir. Während er jederzeit zu uns aufschließen oder sein Glück mit Einzelfeuer auf weite Distanz versuchen kann. Auch dabei sind verheerende Treffer möglich.»
«Richtig. «Bolitho stieg in die Wanten und spähte achteraus.»Die andere Fregatte, die Diane, hat noch Westkurs, wird aber bald halsen und hinter uns herkommen. «Er lächelte Keen grimmig an.»Um uns in die Hacken zu beißen.»
Keen nickte.»Und wenn wir dann bereits im Gefecht mit Argonaute sind, kann sie entscheidenden Schaden anrichten, Sir.»
Bolitho sprang wieder an Deck.»Was halten Sie davon, Val, wenn wir die Diane als Köder benutzen?»
Keens Augen leuchteten auf.»Indem wir zuerst sie angreifen, Sir?»