Scheinbar zusammenhanglos fragte Keen:»Und was wird aus Mr.
Tyrrell, Sir?»
Bolitho biß sich auf die Lippen. Er hatte Tyrrell gleich nach dem Festmachen auf seine Brigantine geschickt, fast ohne ein Wort mit ihm zu wechseln. Ob er sich aus Trotz oder Schuldbewußtsein stumm verhielt, ließ sich noch nicht beurteilen.
Er sagte:»Ich möchte ihn so bald wie möglich sprechen, Val. «Keens Überraschung amüsierte ihn.»Ich brauche seine Vivid, sie ist das einzige Schiff, das mir im Augenblick außer Achates zur Verfügung steht. Und da ich sie ohnehin kaufen will, kann sie auch gleich unter unserer Flagge segeln.«»Wenn Sie das für klug halten, Sir?»
«Klug? Kann ich im Augenblick noch nicht sagen. Fest steht nur, daß es mehrere Monate dauern wird, ehe mein Flaggschiff wieder voll einsatzfähig ist. Mittlerweile droht uns ein Angriff der Spanier. Niemand kann von mir erwarten, daß ich diese Insel den Franzosen übergebe, ehe ich die Dinge hier ein für allemal bereinigt habe. Wenn es in letzter Minute zu einem Konflikt um San Felipe käme, würden uns die Franzosen nur zu gern die Schuld daran geben und uns vorwerfen, wir hätten einen Zwischenfall provoziert, damit wir ihnen ihr rechtmäßiges Eigentum vorenthalten konnten.»
Aber Bolitho konnte Keen am Gesicht ablesen, daß er ihn nicht überzeugt hatte.
«Ich habe den Verdacht, Val, daß man mich hier bewußt mit einer unlösbaren Aufgabe betraut hat. Aber wenn ich schon den Sündenbock spielen muß, dann treffe ich die Entscheidungen nach eigenem Ermessen und lasse sie mir nicht von Leuten vorschreiben, die noch nie einen Schuß gehört oder einen Mann sterben gesehen haben.»
Keen nickte.»Also gut, Sir, ich stehe zu Ihnen, was auch kommt. Aber das wissen Sie bereits.»
Bolitho ließ sich auf der Heckbank nieder und zupfte an seinem klebrigen Hemd, um die schweißnasse Haut zu kühlen.
«Wenn Sie erst den Stabsrang erreicht haben, Val, werden Sie sich hoffentlich an all das erinnern. Es ist einfacher, in Gefechtslinie zu segeln und alle Kanonen auf sich gerichtet zu sehen, als sich durch den Pfuhl der Diplomatie zu wühlen. Ich werde gleich mit Jethro Tyrrell sprechen, einem Mann, der alles verloren hat, obwohl er der Flagge, die er verehrte, früher aufopfernd diente. Er war ein aufrichtiger Patriot, aber seine eigenen Landsleute haben ihn als Verräter gebrandmarkt. Er ist verbittert wie ein verstoßener Wolf. Doch ein Rest Ehrgefühl ist ihm geblieben, denn im entscheidenden Augenblick hat er uns zum Feind geführt. Aus seiner Sicht war das Wahnsinn. Denn Ehrenhaftigkeit kann ihn nicht für sein Opfer entschädigen. Er hielt es ursprünglich für klüger, uns gar nicht erst in ein Gefecht zu verwickeln, damit wir die Insel nach unserer vergeblichen Suche bei der Rückkehr bereits in spanischem Besitz vorfinden würden; dann hätte ich, so rechnete er, weiter nichts tun können als den Fehlschlag nach London zu melden.»
Keen schüttelte ungläubig den Kopf.»Und Sie wollen ihm weiterhin vertrauen?»
«Wenn ich kann.»
Bolitho blickte auf die im Hitzeglast schimmernde Reede hinaus, wo die Boote reglos über ihrem Spiegelbild lagen.
«Rivers ist ein Schurke. Er wurde reich, indem er sich beim Abschaum der Karibik anbiederte. Sklavenhändler, Glücksritter, Piraten — mit allen machte er Geschäfte. Er hat auch Besitz in Südamerika, doch um voll davon profitieren zu können, brauchte er die Machtbefugnisse eines Gouverneurs. Ich habe Beweise dafür im Fort gefunden, aber sie scheinen nur die Spitze eines Eisbergs zu sein. Ich verabscheue ihn wegen seiner Gier, doch ich brauche ihn, und sei es nur, damit er unserer Anwesenheit hier eine gewisse Glaubwürdigkeit verleiht.»
Keen schien den Hammerschlägen draußen zu lauschen. Insgeheim hatte er von Anfang an seine Bedenken gehabt, weil hier ein leichter Zweidecker mit einer Mission betraut wurde, die ein ganzes Geschwader erfordert hätte. Er verstand sein Land nicht mehr. Statt auf errungene Siege stolz zu sein, schien es sich am Boden zu winden, um alte Feinde nicht erneut gegen sich aufzubringen.
Keen hätte Rivers gehenkt — und mit ihm alle, die für den Tod seiner Matrosen und Soldaten verantwortlich waren. Und zur Hölle mit den Konsequenzen!
Bolitho hatte sich erhoben und spähte jetzt, mit der Hand die blendende Sonne abschirmend, zum fernen Fort hinüber. Als er wieder sprach, klangen seine Worte unbewegt, aber sie fielen schwer in die
Stille.
«Wissen Sie, Val, den Vereinigten Staaten ist es meiner Ansicht nach wichtiger, ihre Beziehungen zu Südamerika, Spanien und Portugal zu verbessern. Rivers' Ersuchen um amerikanischen Schutz vor einer Rückgabe an Frankreich stieß deshalb auf offene Ohren. Weiterhin glaube ich, daß Samuel Fane — und erst recht Jonathan Chase — sich keinerlei Illusionen über die Franzosen machen, sollte es wieder zum Krieg kommen in Europa.»
Keen starrte seinen Vorgesetzten an, alle Müdigkeit war vergessen.
«Sie wollen damit sagen, daß die Regierung der Vereinigten Staaten sich mit den Spaniern gegen uns verschworen hat?«»Nicht direkt. Aber wer die Hand in einen Fuchsbau steckt, muß damit rechnen, daß er gebissen wird. Die spanische Regierung wollte sich mit einer offenen Intervention nicht kompromittieren, deshalb bediente sie sich eines starken Freibeuters. Nachdem Sparowhawk vernichtet und die Küstenschiffahrt bis zur Lähmung eingeschüchtert war, stand nur noch Achates zwischen ihr und der Übernahme von San Felipe. Chase muß von der alten Beziehung zwischen Tyrrell und mir gewußt haben; genauso klar war ihm, daß Tyrrell ein Schiff verzweifelt nötig hatte. Den Rest können wir uns denken. Aber sie haben nicht mit Tyrrells alter Loyalität mir gegenüber gerechnet.»
Keen wirkte perplex.»Ganz wie Sie meinen, Sir. Trotzdem steht das als Beweis bei einer künftigen Untersuchung auf ganz schwachen Beinen. Zu schwach, um Ihren guten Ruf davon abhängig zu machen.»
«Da stimme ich Ihnen zu. Deshalb müssen wir noch ein paar Beweise fabrizieren. «Seelenruhig sah Bolitho ihn an.»Und jetzt möchte ich Tyrrell sprechen. Sagen Sie meinem Flaggleutnant, daß ich ihn brauche.»
Als Tyrrell später in die Kajüte humpelte, wurden schon die Lampen angezündet. Bolitho wandte sich seinem ehemaligen Offizier mit einer Mischung aus Trauer und Entschlossenheit zu.
Tyrrell setzte sich auf den angebotenen Stuhl und verschränkte seine kräftigen Finger.
«Na denn, Jethro.»
Tyrrell lächelte.»Na denn, Dick.»
Bolitho saß auf der Tischkante und musterte ihn ernst. Dann sagte er:»Da wir uns in Gewässern befinden, die zur Zeit noch britischer Oberhoheit unterstehen, mache ich Gebrauch von meinem Recht, Ihr Schiff zu beschlagnahmen und es in den Dienst meiner Regierung zu stellen.»
Tyrrell zuckte kurz zusammen, sagte aber nichts. Er war viel zu ausgekocht, um sich durch einen Schock aus der Reserve locken zu lassen.
«Außerdem unterstelle ich Vivid vorerst dem Befehl meines Neffen, der als mein Adjutant eine Depesche von mir nach Boston bringen wird.»
Jetzt rührte sich Tyrrell und verriet zum erstenmal Anzeichen einer gewissen Unruhe.
«Und ich?«stieß er heiser hervor.»Mich wollen Sie wohl von der Großrah baumeln lassen, wie?»
Bolitho schob ein Dokument über den Tisch.»Hier ist der Kaufvertrag für Vivid, der bei Ihrer Rückkehr nach San Felipe in Kraft tritt. Sie sehen, ich halte mein Wort. Die Brigg wird Ihnen gehören.»
Obwohl es ihm schwerfiel, Tyrrells Nöte mitanzusehen, fuhr er fort:»Ich habe mit Sir Humphrey Rivers gesprochen. Um sich Schande zu ersparen und vielleicht sogar sein Leben zu retten, wird er mir alle Auskünfte über den Spanier geben, die ich benötige. Wenn er es sich anders überlegt, hat er die Wahl zwischen zwei Anklagen: wegen Hochverrats oder wegen Mordes. Aber für beide würde er hängen.»
Tyrrell starrte Bolitho an, dann rieb er sich das Kinn.»Chase wird sich niemals von der Vivid trennen.»