«Ich glaube doch.»
Aber Bolitho mußte den Blick abwenden; Tyrrell konnte nur an eines denken: ein eigenes Schiff, seine letzte Chance.
Nun erhob sich dieser und sah sich um wie ein Tier in der Falle.»Dann mache ich mich jetzt auf den Weg«, sagte er.
«Ja. «Bolitho setzte sich an seinen Schreibtisch und begann in Papieren zu blättern.»Ich bezweifle, daß wir uns noch einmal begegnen.»
Wie ein Blinder wandte Tyrrell sich zur Tür. Aber Bolitho sprang auf, unfähig, dieses grausame Spiel bis zum Äußersten zu treiben.
«Jethro!«Mit ausgestreckter Hand kam er hinter dem Tisch hervor.»Sie haben mir doch einmal das Leben gerettet.»
Tyrrell musterte ihn forschend.»Und Sie meines, mehr als einmal.»
«Ich möchte Ihnen wenigstens Glück wünschen. Hoffentlich finden Sie, was Sie suchen — was das auch sein mag.»
Tyrrell erwiderte den Händedruck und sagte rauh:»So einen wie Sie gibt's nicht noch einmal, Dick. «Jetzt lag Bewegung in seiner Stimme.»Ich habe die alten Zeiten wieder durchlebt, als ich Ihren Neffen plötzlich vor mir sah. Schon damals schwante mir, daß ich weich werden würde, obwohl diese Insel es bei Gott nicht wert ist, daß man dafür stirbt. Aber ich kenne Sie, Dick, und Ihre Wertmaßstäbe. Sie werden sich nie ändern.»
Ein breites Grinsen ging über sein Gesicht und machte ihn für Augenblicke wieder zu dem Mann, der er einst gewesen war:
Offizier an Bord der kleinen Korvette in eben diesen Gewässern.
Dann humpelte er davon, und Bolitho hörte den Midshipman der Wache das Boot für ihn längsseits rufen.
Bolitho lehnte sich an die Bordwand und sah auf seine Hände nieder; er hatte ein Gefühl darin, als zitterten sie.
Allday trat aus der Tür zur Schlafkajüte, als hätte er die ganze Zeit dahinter gelauert, um einen Überfall auf Bolitho abzuwehren.
«Das ist mir schwergefallen, Allday. «Bolitho lauschte immer noch dem dumpfen Klopfen des Holzbeins nach.»Und ich fürchte, es wird noch schwerer für den Jungen, für Adam.»
Allday verstand kein Wort. Der Mann namens Tyrrell war ein alter Freund des Admirals, jedenfalls wurde das behauptet. Trotzdem schien er eher eine Drohung zu verkörpern, und deshalb war er heilfroh, ihn los zu sein.
Doch Bolitho sprach schon weiter.»Ich habe mich verändert, seit ich weiß, daß ich eine Tochter habe.»
Allday atmete auf; die trübe Stimmung war verflogen.
«Eins ist mal sicher, Sir: Sie bringt endlich Abwechslung in die Familie. Zwei Bolithos auf hoher See sind für uns mehr als genug, das steht fest.»
Einen Augenblick fürchtete Allday, jetzt doch zu weit gegangen zu sein, aber Bolitho antwortete mit einem Lächeln:»Also, dann brechen wir doch einer Flasche den Hals und trinken auf die Gesundheit der jungen Dame, einverstanden?»
Oben an Deck hörte Adam Alldays rauhes Lachen aus dem Skylight schallen und umfaßte die Reling in plötzlicher Erregung. Beim Blick über die allmählich dunkler werdende Reede konnte er Vivids Ankerlicht erkennen und den schwachen Schimmer einer Laterne hinter den Kajütfenstern. Bald — und viel früher, als er zu hoffen gewagt hatte — würde er also Robina wieder in die Arme schließen können. Er spürte ihre Lippen, als hätte sie ihn eben erst geküßt, und roch ihr Parfüm, als stehe sie neben ihm.
Wie froh war er, daß Bolitho sich doch noch entschlossen hatte, seinem alten Freund zu vertrauen! Es würde interessant werden, wieder seinen Geschichten aus alten Zeiten zu lauschen, sobald sie erst Segel gesetzt und San Felipe hinter sich gelassen hatten.
Der Erste Offizier ging seine Abendronde und gewahrte Adams Silhouette vor dem dämmrigen Himmel.
Da ballte Quantock die Fäuste. Es war aber auch zu unfair! Ihm hätte man die Brigg geben müssen, ganz gleich für wie kurze Zeit. Zur Hölle mit ihnen allen! Wenn Achates in ihrem jetzigen Zustand nach England zurückkehrte, wurde sie bestimmt außer Dienst gestellt wie die meisten anderen Schiffe der Flotte. Quantock wußte, daß er dann wie ein Fisch auf dem Trockenen landen würde, nur einer von den vielen überzähligen Marineoffizieren, für die nirgends ein Posten frei war.
Er fluchte in den dämmerigen Abend. Verdammter Frieden! Krieg brachte zwar Gefahren, zugleich aber viele Chancen auf Beförderung und Auszeichnung.
Chancen, wie sie die Bolithos dieser Welt immer hatten und haben würden. Er ließ den Blick über das leere Deck wandern. Aber die Reihe würde auch an ihn kommen.
Träge schwojte Achates in ihrer Ankertrosse und wartete wie die Verwundeten im Schiffslazarett darauf, daß die Spuren des Gefechts verheilten.
Die Messe im Zwischendeck war überfüllt. Zwischen den mächtigen Kanonen saßen die Matrosen und Soldaten im Schein der Öllampen, klönten oder widmeten sich ihrem sorgsam gehüteten Rumvorrat. Hier und da schnitzten schwielige Finger überraschend feinfühlig an einem kleinen, detailgetreuen Modell oder an einer Muschelschale herum. Ein Matrose, der schreibkundig war, hockte dicht unter einer Lampe, während daneben ein Kamerad ihm mühsam einen Brief an seine Frau in England diktierte. Im Quartier der Seesoldaten säuberte man die Waffen oder dachte an das letzte Gefecht, vielleicht auch an das bevorstehende; denn obwohl niemand davon sprach, wußten alle, daß es nicht zu vermeiden war.
Unten im Orlopdeck war die Luft zum Schneiden dick. Der Schiffsarzt James Tuson wischte sich die Hände und sah zu, wie abermals einem Schwerverwundeten die Decke übers Gesicht gezogen wurde; die Arztgehilfen hoben ihn an und trugen ihn hinaus. Besser für ihn, daß er tot war, dachte Tuson. Bei einer doppelten Beinamputation…
Er ließ den Blick durch sein kleines Lazarett schweifen, diese Stätte des Elends. Warum? fragte er sich. Wozu das alles?
Die Matrosen fochten nicht für König und Land, wie die Landratten immer so gern glaubten. Der Chirurg fuhr jetzt schon zwanzig Jahre zur See und wußte es besser. Sie kämpften für ihre Kameraden, für ihr Schiff und manchmal für ihren Anführer. Ihm fiel Bolitho ein, den er mit erschüttertem Gesicht an Deck hatte stehen sehen, als ihn die Mannschaft hochleben ließ, obwohl er sie in den Tod schickte. Ja, auch für ihn würden sie kämpfen.
Er duckte sich unter den schweren Decksbalken und wollte weitergehen, da spürte er, daß jemand sein Bein packte.
Tuson bückte sich.»Was ist denn, Cummings?»
Ein Gehilfe leuchtete ihm mit der Laterne, so daß er den Verwundeten besser sehen konnte. Ein Eisensplitter hatte ihn in die Brust getroffen — ein Wunder, daß er noch lebte.
Der Mann namens Cummings flüsterte:»Danke, daß Sie sich um mich gekümmert haben, Sir«. Dann verlor er das Bewußtsein.
Tusons Gefühle waren abgestumpft, dazu hatte er schon zu viele Männer sterben gesehen oder zu Krüppeln werden; aber die simplen Dankesworte des Matrosen durchbrachen seinen Schutzpanzer und schüttelten ihn wie Fäuste.
Bei der Arbeit am Operationstisch war er zu beschäftigt, als daß er an das Kanonenfeuer oder Kampfgetümmel oben auch nur einen Gedanken verschwenden konnte. Der Strom der Verwundeten, die ihm ins Orlopdeck gebracht wurden, schien niemals ein Ende zu haben. Kaum daß er den Blick zu den blutigen Schürzen seiner schweißgebadeten Gehilfen hob. Kein Wunder, daß man seine Zunft mit Metzgern verglich. Hier ein Bein ab, dort ein Arm, während der nackte Körper mit roher Gewalt auf dem Tisch festgehalten wurde, damit er sägen und hacken konnte, taub für das Gebrüll der Gemarterten.
Aber hinterher, in solchen Augenblicken wie jetzt, setzte auch bei ihm die Reaktion ein. Dann fühlte er sich beschämt darüber, daß er so wenig für sie tun konnte; daß sie ihm auch noch dankbar waren.
Der Arztgehilfe ließ die Laterne sinken und wartete geduldig.
Tuson setzte seinen Rundgang fort und verdrängte das verführerische Bild der Schnapsflasche aus seinen Gedanken. Wenn er dieser Versuchung erlag, war er verloren. Vor ihr hatte er sich ursprünglich auf See geflüchtet.