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Bolitho lächelte trübe.»Ich weiß, welche Überwindung es Sie gekostet hat. Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube nicht, daß ein Risiko jemals genau vorherberechnet werden kann. Ich will meine Leute nicht in einen sinnlosen Tod hetzen, ich will auch nicht zwischen den Zangen und Sägen auf dem Tisch eines Schiffsarztes enden. Ich besitze viel, wofür zu leben lohnt — endlich wieder. Aber…»

Grinsend nahm Keen sein nachgefülltes Weinglas von Ozzard entgegen.»Aye, Sir, das große Aber. Es ist nur ein kleines Wort, aber das stärkste Argument gegen die bessere Einsicht.»

Bolitho klopfte mit dem Messingzirkel auf die Seekarte.

«Ich bin überzeugt, dieses Schiff hält sich in der Nähe auf, genau wie Jethro Tyrrell behauptet. Es muß eine starke Besatzung haben, deshalb braucht es einen Hafen als Basis, um sich zu verstecken, während der Kommandant Auskünfte über uns einholt. Und da wir rundum von Feinden umgeben sind, dürfte er dabei keine Schwierigkeiten haben. «Keen erhob sich und trat an den Kartentisch.

«Falls Tyrrell recht hat«, sagte er,»müßte sich das für uns bei einem Krieg erschwerend auswirken. «Er fuhr mit dem Finger an der Inselkette entlang: Puerto Rico, Santo Domingo, Haiti, Kuba.»Die Spanier würden alle Zufahrtswege in die Karibik und nach Jamaika beherrschen. «Begreifend nickte er.»Und in der Durchfahrt zwischen Kuba und Haiti liegt wie eine Zugbrücke San Felipe. Kein Wunder, daß die Franzosen es unbedingt haben wollen. Sie brauchen zwar Verbündete, aber deshalb trauen sie ihnen noch lange nicht über den Weg.»

Noch immer standen beide Männer über die Seekarte gebeugt, als ein Midshipman eintrat und Electras Ankunft meldete. Keen knöpfte seinen Rock zu.

«Ich gehe Kapitänleutnant Napier begrüßen, Sir. «Und mit einem letzten Blick auf den Kartentisch:»Ganz überzeugt bin ich noch nicht,

Sir.»

Bolitho lächelte.»Sie werden mir bald recht geben.»

Er ließ sich von Ozzard in seinen Dienstrock helfen, zu Ehren des jungen Kommandanten der Electra.

Bald war er schweißgebadet und sah sehnsüchtig auf das blaue Wasser hinaus, das sich vor den Heckfenstern sanft hob und senkte; könnte er doch jetzt ein erfrischendes Bad darin nehmen! Und sofort mußte er wieder an Belinda denken. Er hatte versucht, jeden wachen Augenblick mit Arbeit auszufüllen, um sie aus seinen Gedanken zu verbannen, konnte aber nicht ganz verhindern, daß ihr Bild und das Bewußtsein der großen Entfernung, die sie trennte, ihn immer wieder übermannten.

Draußen hörte er Schritte und gedämpfte Stimmen. Er mußte sich zusammenreißen, um seinet- wie um ihretwillen.

Bald, vielleicht schon sehr bald, stand ihnen ein Gefecht bevor, diesmal nicht heraufbeschworen durch eine Zufallsbegegnung oder räuberischen Piratenübermut. Das unbekannte Schiff hatte ihnen schon gezeigt, daß es nichts nützte, im Recht zu sein. Rechtmäßigkeit allein war kein Schutz, dafür gab es schon viele tote Zeugen.

Er wandte sich der Tür zu. Wenn im Krieg erst die Kanonen sprachen, dann taten sie das völlig indifferent gegenüber Gut und Böse. Ihre Breitseiten radierten alle aus, ob sie es nun verdienten oder nicht.

Kapitänleutnant Napier trat ein, eine glänzende neue Epaulette auf der linken Schulter, und salutierte.

Bolitho nahm den schweren Briefumschlag aus seiner Hand entgegen und reichte ihn an Yovell weiter.

«Sie hatten eine schnelle Überfahrt, Kapitänleutnant Napier.»

Aber Bolitho mußte sich gedulden, bis Napier zu einem Stuhl geleitet und mit einem Glas Wein versorgt worden war.

Dann berichtete er:»In English Harbour auf Antigua liegen kaum noch Schiffe, lediglich zwei Fregatten und ein Linienschiff dritter Klasse, das aber überholt wird. Der Admiral hat das Geschwader zu den Inseln unter dem Winde verlegt, Sir. «Napier mußte unter Bo-lithos Blick schlucken.»Er läßt Ihnen durch mich seine Hochachtung übermitteln und seine besten Wünsche, Sir.»

Bolitho hörte, wie Yovell die Siegel auf dem Leinwandumschlag aufbrach, und wäre am liebsten hinübergerannt, um ihm die Depeschen aus den Händen zu reißen. Aber wenn der Admiral sich aus dem

Staub gemacht hatte, war er hilflos. Kommodore Chater war ihm nicht ganz unbekannt, er wußte genug über ihn, um keine große tapfere Geste von ihm zu erwarten, die ihm das Mißfallen seiner Vorgesetzten einbringen konnte.

Heiser fügte Napier hinzu:»Ich wurde angewiesen, Electra zu Ihrer Verfügung zu stellen. Als Chater vom Verlust der Sparrowhawk hörte, wollte er Ihnen einige Marinesoldaten schicken, um Ihre Mannschaft zu verstärken.»

Bolitho nickte.»Aber auch die Marinesoldaten waren mit dem Geschwader ausgelaufen, habe ich recht?»

«Aye, Sir«, antwortete Napier betreten. Aber dann hellte sich sein Gesicht auf.»Statt ihrer bringe ich Ihnen einen Zug Infanteristen,

Sir.»

«Immerhin etwas«, murmelte Keen, der mit Napier eingetreten war.

Bolitho wandte sich den Fenstern zu, um diese Bruchstücke gedanklich zu verarbeiten.

Unbefangen sprach Napier weiter.»Aber die Soldaten haben Sie sicherlich schon erwartet, Sir. Der Kommodore ließ es Ihnen ja durch die Kurierbrigg mitteilen, die zwei Tage vor mir auslief.»

Bolitho fuhr herum.»Was sagen Sie da?»

Napier wurde blaß.»Ein Kurier, Sir. Mit Depeschen für den Admi-ral auf Antigua und für Sie, Sir. «Hilfesuchend sah er zu Keen hinüber.»Depeschen aus England, Sir.»

Keen konnte sich nicht mehr beherrschen.»Sie hatten also doch recht, Sir!«rief er aus.»Die müssen auch die Kurierbrigg abgefangen und versenkt haben.»

Bolitho verschränkte die Hände auf dem Rücken und grub sich die Fingernägel ins Fleisch, bis der Schmerz ihm half, seine Enttäuschung zu zügeln.

Depeschen aus England, eine Nachricht von Belinda. Aber jetzt.

Er fixierte Keen.»Sind Sie endlich überzeugt?»

Ohne die Antwort abzuwarten, fragte er Napier:»Haben Sie einen tüchtigen Ersten Offizier?»

Das alles ging über Napiers Horizont. Stundenlang hatte er auswendig gelernt, was er Bolitho sagen wollte, hatte sich in seine beste Uniform geworfen. Und jetzt war alles anders gekommen, alles umsonst gewesen. Er kam sich vor wie jemand, der einem Freund die Tür öffnen wollte und einem Irren gegenüberstand.

Immerhin brachte er ein Nicken zustande.»Aye, Sir. Er ist verläßlich.»

«Um so besser. «Bolitho wandte sich wieder an Keen.»Bei erster Gelegenheit lichten wir morgen früh Anker und laufen aus. In der Zwischenzeit werde ich sehen, welchen Honig ich aus den Depeschen saugen kann, die der tapfere Kommodore mir schickt. Aber ehe ich damit beginne«, er schritt zum Tisch hinüber und goß für Napier ein neues Glas Rheinwein ein,»trinken wir alle einen Toast. Auch du, Allday.»

Allday ließ sich von Ozzard ein Glas reichen, fasziniert von dem plötzlichen Stimmungsumschwung im Raum. Bolitho merkte, daß er grinste.

«Einen Toast«, er hob sein Glas,»auf Mr. Napier, den neuen Gouverneur von San Felipe!»

«Südwest zu Süd, Sir!«»Recht so.»

Nur mit halbem Ohr hörte Bolitho Meldung und Bestätigung, er konzentrierte sich ganz auf den violetten, weit ausladenden Schatten am Backbordhorizont. Es war Nachmittag, und die Sonne brannte immer noch erbarmungslos aufs Deck des nur wenig Fahrt machenden Schiffes. Aber nach der bedrückenden Feindseligkeit auf San Felipe fühlten sich alle hier draußen wie neu belebt. Die Stimmung war gut; selbst Mountsteven, der Offizier der Wache, befleißigte sich eines normalen Tonfalls, während er das Trimmen der Breitfock überwachte.

Bolitho richtete sein Teleskop auf das ferne Land: Haiti, das etwa fünfzehn Seemeilen querab liegen mußte. Trotz dieser Entfernung ging eine Drohung von ihm aus. Wenn irgend möglich, mieden die Seeleute seine Küsten mit ihrem Hexenzauber und ihren schauerlichen Riten.

Flaute hatte Achates noch einen Tag länger in San Felipe festgehalten, aber jetzt füllte ein stetiger Nordost ihre Segel, und sie strebte auf die Windward Passage zu, als beseele sie ein eigener Wille. Diese Durchfahrt zwischen Kuba und Haiti war an ihrer engsten Stelle kaum siebzig Meilen breit. Wenn San Felipe in Feindbesitz war, konnte ein Konvoi sich nur unter hohen Verlusten hier ein Durchkommen erzwingen. Je länger er darüber nachdachte, desto unbegreiflicher schienen Bolitho die Befehle, die er in London erhalten hatte.

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