Um sich abzulenken, dachte Bolitho an Tyrrell. Er war wieder auf seine Vivid zurückgekehrt, um die Sturmschäden zu beheben und die Narben auszubessern, die der Beschuß der spanischen Drehbassen hinterlassen hatte.
Sein plötzliches Auftauchen hatte Bolitho mehr aus dem Gleichgewicht gebracht, als er sich eingestehen wollte. Seither verfolgte ihn die Erinnerung an die lange zurückliegenden, gemeinsamen Erlebnisse, an die kleine Sparrow und die schicksalhafte Rolle, die das Schiff für sie beide gespielt hatte.
Würden die alten Bilder ihn denn auf ewig verfolgen?
Erst letztes Jahr war die Fregatte Phalarope, Bolithos zweites Schiff, wie ein Gespenst aus der Vergangenheit aufgetaucht und in seinem Geschwader mitgesegelt; und nun suchte ihn die Erinnerung an die alte Sparrow heim.
War er damals wirklich glücklicher gewesen, wie ihm die Erinnerung jetzt vorgaukelte? Mit weniger Verantwortung, aber eher bereit, das Leben zu riskieren, sogar zu verlieren, nicht in dieser ständigen Sorge um seinen Ruf?
Die Trommeln an Deck verstummten, die Auspeitschung war beendet.
Er kannte Tyrrell besser als die meisten, hatte ihm beigestanden, als ihm das Bein unterm Leib weggeschossen worden war. Aber jetzt war er nur noch ein Zerrbild des Offiziers von damals. Auf den ersten Blick ein harmloser Alter, der typische kleine Handelskapitän, der überall Gerüchte über das Kommen und Gehen der großen Kriegsschiffe aufschnappte. Der Skipper eines so kleinen Frachtseglers scherte sich wenig um ihre Nationalitäten oder Flaggen, sie waren für ihn alle gleich bedrohlich. Immer auf der Suche nach erfahrenen Seeleuten, obwohl das gewaltsame Pressen nicht mehr üblich war. Aber wen kümmerte schon das Schicksal eines schanghaiten Matrosen, wenn man davon überhaupt jemals erfuhr?
Auch bei eindringlicher Befragung hatte Tyrrell auf seiner Beschreibung des mächtigen Zweideckers beharrt: ohne Flagge, ohne Namen, war er doch bekannt bei den spanischen Fregatten aus Santo Domingo, ja selbst aus dem Hunderte von Meilen südlicher gelegenen La Guaira; alle kannten und mieden ihn.
Dieses geheimnisvolle Schiff, das ohne zu zögern Keens List mit Kanonenschüssen beantwortet und die Sparrowhawk erbarmungslos abgeschlachtet hatte, mußte mit einem bestimmten Auftrag in der karibischen See und ihren Zugängen segeln; ein Auftrag, für den sein Kommandant notfalls auch das Äußerste riskierte.
Bolitho hörte Allday wieder das Oberluk öffnen und war sich bewußt, daß dieser ebenso wie Ozzard und alle anderen, die in seine Nähe kamen, wie auf Katzenpfoten um ihn herumschlichen.
Er sah seinen bulligen Bootsführer an und hob hilflos die Schultern.»Ich frage mich selbst, was mit mir los ist«, sagte er entschuldigend.
Allday nickte mit einem wissenden Lächeln.»Es ist das Warten, Sir, das macht einen fertig.»
«Kann sein.»
Wieder wandte Bolitho sich der Seekarte zu. Es war jetzt eine Woche her, seit Vivid eingelaufen und Tyrrell aus der Vergangenheit aufgetaucht war. Ohne Unterstützung durch ein zweites Schiff wagte Bolitho nicht, San Felipe sich selbst zu überlassen. Rivers' Sympathisanten, für deren Existenz es immer noch genügend Beweise gab, mochten einen Gegenangriff starten. Bolitho konnte es ihnen nicht einmal verdenken, denn wenn die Franzosen erst eintrafen, mußten sie alle ihre Häuser und Plantagen verlassen. Vielleicht hatte Keen völlig recht gehabt: wenn Rivers gehenkt wurde, war der Rebellion die Spitze genommen.
Aber Rivers besaß einflußreiche Freunde in Amerika und in London. Auch wenn er Bolithos Meinung nach nur ein Pirat wie alle anderen war, mußte doch ein ordentliches Gerichtsverfahren in London stattfinden, damit die Seelords das auch beweisen konnten.
Außerdem — wenn Tyrrell recht hatte und der unbekannte Zweidek-ker einen Überfall auf San Felipe vorbereitete, dann wäre es Torheit gewesen, den Hafen ohne Schutz zu lassen. Achates hatte selbst bewiesen, wozu ein Schiff fähig sein konnte, wenn ein hoher Einsatz winkte.
Die Tür ging auf, und Adam betrat die Kajüte.
Seit ihrem Wiedersehen war eine Woche vergangen, und doch hatten sie nur wenige Worte gewechselt. Bolitho spürte, daß Adam etwas vor ihm verbarg. Oder vielleicht war er selbst zu beschäftigt und in Gedanken gewesen, um das Vertrauen des jungen Leutnants zurückzugewinnen?
«Signal von der Festungsbatterie, Sir«, meldete Adam.»Die Brigg Electra hält auf den Hafen zu und sollte binnen einer Stunde hier Anker werfen.»
«Danke, Adam.»
Bolitho erinnerte sich noch gut an ihren jungen Kommandanten, der ihm vom Auffinden der Sparrowhawk-Überlebenden berichtet hatte, übernommen von dem amerikanischen Handelsschiff. Napier, so hieß er. Er mußte jeden Fetzen Tuch gesetzt haben, wenn er inzwischen bis Antigua und dann westwärts nach San Felipe gesegelt war. Durfte er hoffen, daß Electra als Repräsentantin britischer Staatsgewalt im Hafen bleiben und die Aufsässigen in Schach halten würde? Sie war zwar nur eine kleine Brigg, segelte aber unter der gleichen Flagge wie Achates. Bolitho vermutete, daß vielen Inselbewohnern selbst ein länger anwesendes britisches Kriegsschiff noch lieber war als ein französisches oder spanisches, das aus dem unbewachten Zugang seinen Vorteil zog.
Er trat zu den Heckfenstern und beschattete seine Augen mit der
Hand.
«Laß dem Kommandanten der Electra signalisieren, daß er sich gleich nach dem Ankerwerfen bei mir melden soll.»
Adam lächelte zurückhaltend.»Ich habe die Festung schon ersucht, dieses Signal an Electra weiterzugeben, Onkel.»
Bolitho wandte sich um und hob die Hände.»Eines schönen Tages wirst du noch mal einen tüchtigen Kommandanten abgeben, mein Junge.»
Keen betrat die Kajüte und ließ sich auf Bolithos Wink in einen
Stuhl fallen.
«Ich frage mich, was sie uns Neues bringt, Sir.»
Dankbar nahm er ein Glas Wein entgegen und setzte es durstig an. Es war Rheinwein aus Ozzards heimlichem Vorrat in den Bilgen, den er seit England wie einen Schatz hütete.
«Mir sind alle Neuigkeiten recht. Manchmal komme ich mir hier wie ein Taubstummer vor.»
«Vielleicht rufen Ihre Lordschaften uns zurück«, überlegte Keen.
Bolitho ging nicht darauf ein.»Adam, ein Signal an Vivid«, sagte er.»Oder besser, laß dich übersetzen und sprich selbst mit Mr. Tyrrell. Ich möchte, daß er an Bord ist, wenn wir auslaufen.»
Keen wartete, bis die Tür sich hinter Adam geschlossen hatte, dann stellte er sein Glas bedächtig ab.»Gestatten Sie mir eine Bemerkung,
Sir?»
«Sie sind mit meiner geplanten Taktik nicht einverstanden, wie?»
Keen lächelte knapp.»Sie gehen damit ein sehr hohes Risiko ein. Ein doppeltes sogar, um genau zu sein. «Als Bolitho schwieg, fuhr er fort:»Dieser Tyrrell — wieviel wissen Sie denn schon von ihm?»
«Er war mein Erster Offizier. «Keen nickte nur.»Sie meinen, nach zwanzig Jahren ist das ein bißchen wenig?»
Keen hob die Schultern.»Schwer zu sagen, Sir. Er hat sich ja selbst als einen verzweifelten Mann bezeichnet, der seine Familie und seinen guten Ruf verlor, weil er lieber für den König als für Washington kämpfen wollte.»
«Und weiter?«Bolitho merkte, daß Allday den Atem anhielt.
«Angenommen, wir stoßen auf den Spanier und zwingen ihn zu einem Gefecht — wie verhalten wir uns, wenn er seine wahre Flagge zeigt? Möchten Sie der Zündfunke zu einem neuen Krieg sein?»
«Und das zweite Risiko?»
Keen äußerte seine Bedenken völlig zu recht. Trotzdem fühlte Bo-litho sich dadurch noch einsamer als zuvor.
«Zweitens steht zu befürchten, daß der Spanier — falls er sich überhaupt noch in diesen Gewässern aufhält — nur darauf wartet, daß wir den Hafen verlassen, damit er Achates' Rolle hier übernehmen kann. Dann müßten wir uns den Rückweg teuer erkämpfen, nicht gegen ein paar unerfahrene Pflanzer und die Inselmiliz, sondern gegen ein Kriegsschiff mit erfahrener Besatzung. Meiner Ansicht nach übersteigt dieses doppelte Risiko den möglichen Gewinn. «Keen senkte den Blick.»Tut mir leid, Sir, aber das mußte gesagt werden.»