Er reichte das Glas einem Midshipman zurück und begann, langsam auf dem Achterdeck hin und her zu wandern. Hoffentlich hatte er Kapitänleutnant Napier nicht überfordert. Immerhin schien er in seinem neuen, wenn auch befristeten Amt als Gouverneur überglücklich zu sein. Und mit seiner unter der mächtigen Festungsbatterie verankerten Vierzehn-Kanonen-Brigg und den schneidigen Infanteristen vom 60. Regiment — den Royal Americans, wie sie immer noch genannt wurden — konnte er wenigstens den Anschein von Stärke und Kampfkraft erwecken.
Bolitho sah Leutnant Hawtayne Waffen und Ausrüstung einiger Marine-Infanteristen inspizieren. Ein Glück, daß sie wieder da waren, wo sie hingehörten: an Bord der Achates. Sehr wahrscheinlich wurden sie bald erneut gebraucht.
Mit einem heimlichen Lächeln hörte er die helle Stimme des Marineleutnants schimpfen:»Reiß dich zusammen, Jones! Der Schlendrian an Land ist vorbei!«Sofort hatte Bolitho wieder das Bild des erschossenen Trommelbuben vor Augen; es würde ihn noch lange heimsuchen, das wußte er.
Da hörte er Adams leichten Schritt neben sich und sah ihn abwartend stehenbleiben.
«Und wie geht's meinem Flaggleutnant an diesem schönen Tag?«fragte er.
Adam lächelte; der Augenblick war günstig.
«Miss Robina ist ein wunderbares Mädchen, Onkel. Ich bin noch nie einer Frau wie ihr begegnet.»
Bolitho ließ ihn sein Herz ausschütten, ohne ihn auch nur einmal zu unterbrechen. So standen die Dinge also. Hätte er nicht selbst so viele Probleme gehabt, wäre ihm schon damals klargeworden, daß Adams Ausflug nach Newburyport nicht ein Abschluß, sondern ein neuer Anfang sein würde.
«Hast du ihren Vater um ihre Hand gebeten?»
Adam errötete.»Dafür war es noch viel zu früh, Onkel. Das heißt, ich habe etwas durchblicken lassen über unsere Zukunft, will sagen, über die nicht allzu ferne Zukunft…«Er ließ den Satz unvollendet und starrte ins dunkelblaue Wasser hinunter. Dann raffte er sich auf und sagte:»Ich weiß natürlich, daß sie mich nicht heiraten kann. Und ihr Onkel ist im Bilde. Er war richtig froh, daß er mich auf eines seiner Schiffe abschieben konnte.»
Bolitho sah auf. Vivid gehörte also Chase. Seltsam, daß Tyrrell das unerwähnt gelassen hatte.
«Gehen wir eine Weile auf und ab, Adam.»
Einige Minuten schritten sie schweigend nebeneinander her, während das Schiff sich unter ihnen hob und senkte.
Schließlich begann Bolitho:»Du hast eine Zukunft bei der Marine, Adam. Und zwar eine aussichtsreiche, falls ich ein Wort dabei mitzureden habe. Du kommst aus einer alten Seefahrerfamilie, aber das gilt auch für andere. Denke immer daran, daß du alles bisher Erreichte nur dir selbst zu verdanken hast. Wenn die jungen Offiziere wie du erst an die richtigen Stellen kommen, sollte die Kriegsmarine ein besseres, menschlicheres Gesicht aufweisen als zu meiner Zeit. Wir sind ein Inselvolk und werden Schiffe immer bitter nötig haben, ebenso Männer, die auf ihnen zu kämpfen verstehen.»
Adam erwiderte Bolithos Blick.»Nichts anderes wünsche ich mir, seit ich auf deiner Hyperion als Kadett angeheuert habe.»
Bolitho sah zum Batteriedeck hinunter, wo der Matrose, der ein Auge verloren hatte, von seinen Kameraden begrüßt wurde; unsicher ertastete er sich seinen Weg an einem Achtzehnpfünder vorbei. Er hatte sich immer noch nicht ganz erholt, aber die schwarze Augenklappe gab ihm etwas Verwegenes, und seine Kameraden behandelten ihn als Helden.
Auch Adam hatte ihn bemerkt, bedachtsam suchte er nach Worten.»Männer wie er da unten, Onkel, sind dir wohl ziemlich wichtig, nicht wahr? Du siehst in ihnen nicht nur unwissende Handlanger, sondern sie bedeuten dir etwas.»
Bolitho wandte sich ihm zu.»Ganz sicher tun sie das. Wir dürfen ihre Treue niemals für selbstverständlich halten, Adam. Leider gibt es viele andere, die genau das tun.»
Adam nickte.»Als ich in Vaters altem Sessel saß.»
Leise fragte Bolitho:»In Newburyport, wo er einst mit seinem Schiff Zuflucht suchte?»
Adam wandte den Blick ab.»Sie haben mich hingeführt, Onkel. Als sie meinen Familiennamen hörten, haben sie es gleich erraten. Er ist in Neuengland nicht gerade häufig.»
«Ich freue mich darüber. Du hast also mehr gesehen als ich.»
Bolitho hörte Keen herankommen und war fast dankbar für die Störung. Schmerzlich war nicht nur die Erinnerung an Hugh und an das, was er ihrem Vater angetan hatte, als er desertierte, um mit den amerikanischen Rebellen zu kämpfen; und es war nicht nur das Bewußtsein der Schande, die Rivers so geflissentlich erwähnt hatte. Nein, Bolitho machte sich nichts vor, er war eifersüchtig auf Adams Vater. Und gekränkt, so lächerlich ihm das auch vorkam.
Keen griff grüßend zum Hut.»Mr. Tyrrell ist beim Master im Kartenhaus, Sir. Ich denke, wir sollten uns den nächsten Kartenausschnitt vornehmen. «Er warf einen prüfenden Blick zum klaren Himmel.»Wie es aussieht, sollten wir die ganze Nacht unsere Fahrt beibehalten können. «Das verlegene Schweigen schien er nicht zu bemerken.
«Gut, ich komme gleich nach. «Bolitho nickte seinem Neffen zu.»Und du am besten auch. Es ist eine Erfahrung mehr für dich.»
Aber vor dem Kartenhaus zögerte er plötzlich.»Übernehmen Sie, Val«, sagte er abrupt.»Ich gehe in meine Kajüte. Sie können mir ja später berichten.»
Erschreckt fragte Adam:»Fühlen Sie sich nicht wohl, Sir?»
«Nur etwas müde. «Bolitho ging und war bald im Schatten unter dem Hüttendeck verschwunden.
Irgendwie fühlte er sich außerstande, ihnen allen gerade jetzt gegenüberzutreten: Knocker, dem Segelmeister, Quantock, Hauptmann Dewar von den Royal Marines und dazu ihren jeweiligen Gehilfen.
Bolitho hatte bei Napier in San Felipe einen Brief zurückgelassen und außerdem eine Abschrift davon, die mit dem nächsten Schiff nach England abgehen sollte, das den Hafen zur Verproviantierung anlief.
Daß er so völlig im dunkeln blieb über Belindas Ergehen, fraß an ihm wie ein Geschwür. Ihm war selbst nicht bewußt gewesen, wie sehr die Ungewißheit an seinen Kräften zehrte. Bis Adam ihn an Hugh erinnert hatte: >Als ich in Vaters altem Sessel saß…< Bis dahin war Hugh nur ein vager Schatten aus der Vergangenheit gewesen. Aber jetzt stand er wieder zwischen ihnen, erhob Anspruch auf seinen Platz in der Familie.
Bolitho ließ sich auf die Bank unter den Heckfenstern sinken und starrte ins weißschäumende Kielwasser draußen, das Achates hinter sich herzog.
Allday kam aus der Pantry getrottet.»Kann ich Ihnen etwas zu trinken holen, Sir?«fragte er bewußt beiläufig.
«Nein, danke. «Bolitho wandte sich um und sah ihn an.»Du bist der einzige hier, der mich wirklich kennt, weißt du das?»
«Manchmal stimmt das, Sir, manchmal nicht. Alles in allem kriege ich wohl öfter als andere den Mann zu sehen, der Sie wirklich sind,
Sir.»
Bolitho ließ sich zurücksinken und atmete tief ein.»Mein Gott, All-day, ist das eine Qual!«Aber als er aufblickte, war Allday verschwunden.
Bolitho sah achteraus einen Fisch springen. Wer wollte es Allday auch verübeln, daß er sich für seinen verzweifelten Vorgesetzten schämte?
Aber Allday hatte sich nur in seine winzige, durch Vorhänge abgeschirmte Kammer zurückgezogen, die er mit seinen beiden Freunden teilte: Jewell, dem Segelmacher, und Christy, den er schon von der alten Lysander her kannte.
Später, mit drei großen Bechern Rum im Leibe, baute er sich vor Keens Kajüte auf.
Der Steward des Kommandanten beäugte ihn mißtrauisch.»Was willst du hier, Allday?»
Er rümpfte die Nase, als Allday ihm seinen Fuselatem ins Gesicht blies.»Ich verlange den Käpt'n zu sprechen.»
Das war ganz unüblich, und außerdem fühlte Keen sich nach der Diskussion im Kartenhaus wie gerädert. Aber er kannte Allday und verdankte ihm außerdem sein Leben.»Komm herein und mach die Tür zu. «Er winkte seinen Steward hinaus.»Was ist los, Mann? Du siehst ja aus, als wolltest du dich prügeln.»