Was hatte er zu Gilchrist gesagt? Berichten Sie nur, daß wir es versucht haben. Es klang wie ein Grabspruch.
Er riß sich zusammen und stellte das Glas weg. In fünf oder sechs Stunden ging die Sonne unter, dann mußte er unterwegs sein. Der Wind behinderte sie jetzt nicht mehr, sondern half; und diesmal würde das Ziel viel zu groß sein, um es zu verfehlen.
In den nächsten Tagen segelte das Geschwader nach Osten und dann nach Süden; jede Woche verlief wie die andere. Bolitho formierte seine kleine Streitmacht in breiter Front, die Lysander am nördlichen, die Immortalite am südlichen Flügel.
Der Wind wurde faul und launisch, kam aber meist von Norden, so daß Bolitho, obwohl während der Nacht die Formation aufbrach, in breiter Linie weitersegeln konnte. Probyns Nicator lief in der Mitte, als ständige Erinnerung an Gilchrists Aussage: das schwächste Glied der Kette, aber doch unter einem Mann, der unersetzlich war, weil er genügend Erfahrung besaß, um einen Zweidecker in der Schlacht zu führen. Fast drei Meilen lagen zwischen jedem Schiff; mit guten Leuten im Ausguck war zu hoffen, daß man auf so breiter Front die feindliche Flotte oder wenigstens eine streifende Patrouille sichten würde.
Bolitho hatte Inch dem Geschwader vorausgeschickt, weil die schnelle, wendige Schaluppe lange vor den schwerfälligeren Linienschiffen in Alexandria sein konnte.
Mit jedem Tag brannte die Sonne heißer, und die erste Begeisterung ging nach und nach in eine realistischere, resignierende Haltung über. Sooft es möglich war, wurde Geschützexerzieren angesetzt; nicht nur um die Leute zu beschäftigen, sondern auch, um die Neulinge in ihre Gruppen zu gewöhnen. Herrick hatte ihm berichtet, daß der Zahlmeister bereits bei den letzten Reihen der Salzfleischfässer angelangt war. Obst gab es nicht, und auch das Trinkwasser wurde knapp, vom Waschwasser gar nicht zu reden.
An Bord der Lysander tat Herrick sein Bestes, um die Männer nicht nur auf Wache zu beschäftigen, sondern sie auch etwas zu ihrer eigenen Unterhaltung beitragen zu lassen, sobald die Sonne am Ende jedes langen Tages unterging: Hornpipe,[28] Ringkämpfe, eine Doppelration Rum als Prämie für die originellste Knüpfarbeit. Sich auf diesem Gebiet immer wieder etwas Neues einfallen zu lassen, war schwieriger, als den täglichen Borddienst aus Segel-und Geschützübungen zu absolvieren.
Bolitho hoffte, daß Javal und Probyn sich ebensoviel Mühe gaben, um ihre Mannschaft in Form zu halten. Denn auch, wenn sie diesmal den Feind nicht fanden, war es noch nicht zu Ende. Dann kam der lange, ruhelose Weg zurück nach Syrakus oder nach einem anderen Punkt auf der Karte, den der Kommodore angekreuzt hatte, weil er ihn für aussichtsreich hielt.
Mehrmals hatte Javal signalisiert, daß er die Nordküste Afrikas gesichtet hätte, aber sonst schienen sie die See für sich allein zu haben.
Streit brach aus; bei einer Messerstecherei wurde einer der Kämpfer schwer verwundet, und der andere wurde ausgepeitscht, bis er bewußtlos war — eine grimmige Erinnerung an die Borddisziplin.
Dann, als Bolitho schon begann, sich wegen der Harebell ernsthaft Sorgen zu machen, sichtete der Ausguck die Schaluppe, die sich von Südosten herankämpfte. Inch brauchte einen vollen Tag, um aufzuschließen. Und als er endlich an Bord kam, wirkte die Nachricht, die er brachte, wie ein Schlag ins Gesicht.
Er war an der Halbinsel Pharos vorbei möglichst nahe an Alexandria herangesegelt. Doch wie schon vorher, war der Hafen leer bis auf das alte türkische Kriegsschiff. Ratlos hatte Inch gewendet und war zufällig auf ein kleines Genueser Handelsschiff gestoßen. Der Kapitän hatte bestätigt, was Bolitho von Anfang an vermutet hatte: Von Neapel aus war Nelson direkt nach Alexandria gesegelt; doch als er da nichts vorfand, hatte er sich mit seiner Flotte wieder nach Westen gewandt. Wie weit und in welcher Absicht, das konnte Bolitho nur vermuten; doch er vermochte sich vorzustellen, wie enttäuscht der Admiral gewesen war, als er weder in Neapel noch in Syrakus Informationen vorgefunden hatte und trotzdem seine Entscheidungen treffen mußte.
Dieser Genueser hatte Inch und seinem Enterkommando erzählt, daß er von schweren französischen Kriegsschiffen gehört hatte, die vor der Küste Kretas liegen sollten. Aber das war schon viele Tage her. Trotz aller Fragen, Kartenvergleiche, sogar Drohungen war aus dem Händler nichts Genaueres herauszubekommen gewesen.
Es war schon fast dunkel, als Inch seinen Bericht schloß. Herrick und Grubb hatten seine dürftigen Angaben auf die Karte übertragen.
Bolitho wollte am Morgen die Harebell wieder losschicken, um die Flotte zu suchen. Er an Inchs Stelle wäre froh gewesen, wieder von den schwerfällig manövrierenden Zweideckern wegzukommen. Doch Inch protestierte:»Ein Tag mehr oder weniger spielt keine Rolle, Sir. Die Franzosen sind irgendwo nördlich von uns. Es wäre besser, wenn ich bei Ihnen bliebe und vielleicht etwas Definitives für Nelson erfahren könnte. Wenn ich seine Flotte finde und ihm nur Gerüchte zu bieten habe, hat das nicht viel Zweck.»
Bolitho hatte dem halbherzig zugestimmt. Bei besserem Wetter und ohne den großen Zeitverlust durch die Schlacht vor Korfu hätten sie vielleicht mehr Glück gehabt.
Als er mit Herrick über seine Sorgen sprach, hatte dieser ebenso entschieden protestiert wie Inch.
«Sie können nichts weiter tun, Sir. Sogar Vizeadmiral Nelson hat beim Sturm die Masten verloren und die Frogs aus Toulon entwischen lassen. Das ist, als suche man ein Kaninchen in einem großen Bau und hätte nur ein Frettchen. Die Chancen sind nicht sehr groß.»
Bolitho sah die beiden an und lächelte.»Wenn ich euch befehlen würde, ihr sollt die Klippen von Dover hinaufsegeln — ich glaube, ihr würdet auch das machen!»
«Nur auf schriftlichen Befehl, Sir«, grinste Inch.
Sie gingen zusammen an Deck, und während Inch auf sein Boot wartete, starrte Bolitho in den glühenden Ball der untergehenden
Sonne, deren Widerschein bereits wie buntes Fensterglas auf dem Wasser lag.»Also dann morgen.»
Er ging nach achtern, sah auf den Kompaß und nickte dann Plowman zu, der Steuermannsmaat der Wache war.»Wie ist der Wind?»
«Ziemlich stetig, Sir. «Plowman sah mit zusammengekniffenen Augen zu dem langen Wimpel hoch, der gleichmäßig vor dem Sonnenuntergang flatterte.»Morgen wird wieder so ein Tag wie heute.»
Bolitho blieb noch stehen, denn Herrick kam soeben vom Fallreep zurück.»Geben Sie Signal an alle: Nachts in engem Kontakt bleiben«. sagte Bolitho zu ihm. Ein Schauer überlief ihn, und er verschränkte die Arme vor dem Leib.
Betroffen sah Herrick ihn an.»Ist Ihnen nicht wohl, Sir? Geht es etwa wieder mit dem verdammten Fieber los?»
«Keine Angst«, lächelte Bolitho.»Es war nur so ein dummes Gefühl. «Er wandte sich zur Kampanje.»Ich habe einen Brief zu schreiben. Inch kann ihn mit seinen Depeschen überbringen.»
Später, in der großen, knarrenden Kajüte, unter dem schwankenden Schein der Tischlampe, den Kopf in die Hand gestützt, starrte Bolitho auf den Brief an seine Schwester in Falmouth nieder.
Er sah Nancy deutlich vor sich. Dunkeläugig, stets vergnügt, hatte sie ihm immer nähergestanden als Felicity, seine andere Schwester, die er seit sechs oder sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie lebte mit ihrem Mann, einem Armeeoffizier, in Indien. Nancy dagegen war als Frau des Gutsbesitzers und Ratsherrn Lewis Rox-by in Falmouth geblieben, der, wenigstens nach Bolithos Ansicht, ein aufgeblasener, langweiliger Kerl war. Einst hatten sie zusammen im Schatten der Mauern von Pendennis Castle gelebt. Mit Hugh, und dann, drei Jahre später, mit Nancys beiden Kindern Helen und James. Jetzt war Hugh tot und Felicity auf der anderen Seite der Erde, und sie hatte keine Ahnung, daß die französische Flotte über das blaue Meer nach Ägypten segelte und dann zu ihr nach Indien wollte.