Warum versuchte er, Breen vor dem Unvermeidlichen zu bewahren? Jeder mußte das früher oder später durchmachen. Er erinnerte sich, was er seinerzeit als junger Leutnant nach einer Seeschlacht empfunden hatte. Wenn die Kanonen donnerten und der wilde Kampf tobte, blieb keine Zeit, den Toten Achtung zu erweisen oder sich um die Verwundeten zu kümmern. Die Toten, ob Freund oder Feind, gingen über Bord, und die Schreie der Verwundeten verstärkten nur den Kampfeslärm. Wenn die Kanonen dann schwiegen und die Schiffe auseinandertrieben, so zerschossen, daß keiner wußte, war er Sieger oder Besiegter, dann war die See mit treibenden Leichen bedeckt. Manchmal, wenn der Wind während des Gefechtes abflaute, als hätte er Angst vor der Wildheit des Kampfes, schwammen sie noch zwei Tage lang um das Schiff, und man mußte mit ihrem Anblick leben. An dergleichen dachte er oft und würde es nie vergessen.
«Hier — trinken Sie ein Glas Ingwerbier«, sagte er freundlich. Der arme Breen mit seinen rauh geschrubbten Händen und seinem schmuddeligen Hemd glich eher einem Schuljungen als einem Offizier des Königs. Aber wer in seinem Städtchen oder seinem Dorf hatte Malta gesehen? Hatte ein Seegefecht mitgemacht? Und wie viele hatten überhaupt eine Ahnung von der Stärke und Reichweite der Flotte, von ihrem Material und ihren Männern?
Farquhar, ein Teleskop in der Hand, stand im Türrahmen und warf einen kalten Blick auf den Jungen, der eben genüßlich einen Schluck nahm.
«Das Segel ist wieder außer Sicht, Sir.»
«Die Lysander kann es nicht gewesen sein?»
«Zu klein. «Farquhar scheuchte Breen mit einer kurzen Kopfbewegung hinaus und fuhr fort:»Eine Brigg, meint der Ausguck. Ein guter Mann. Irrt sich kaum.»
Jetzt, da der Sturm vorbei war, hatte sich Farquhar wieder besser in der Gewalt. Vielleicht spielte er das alte Wartespiel: danebenstehen und sehen, was aus Bolitho wurde.
Dieser ging ans offene Heckfenster, lehnte sich hinaus und blickte in die kleinen, blasenwerfenden Wirbel, die um das Ruder spielten. Ein schöner klarer Himmel, und die scharfe Kimm hinter dem dicken Rumpf der Nicator blieb leer. Die Brigg mußte mehr von den beiden Linienschiffen gesehen haben als diese von ihr.
«Sagen Sie den Ausgucks, sie sollen besonders gut aufpassen. Schicken Sie ihnen auch Teleskope hinauf.»
«Sie halten die Brigg für ein französisches Schiff, Sir?«fragte Farquhar neugierig.»Sie kann uns doch wenig schaden.»
Er sah Farquhar unbewegt an.»Vielleicht. Mein Schwager in Falmouth besitzt eine große Farm und viel Land. Er hat auch einen Hund. Wenn ein Wilderer oder Vagabund sich auf seinem Grund und Boden sehen läßt, spürt der Hund ihn auf. Aber er bellt nicht und beißt nicht — bis der Fremde in Schußweite einer Flinte kommt.»
Farquhar starrte auf die Karte nieder, als gäbe es da etwas Besonderes zu sehen.»Sie meinen, sie verfolgt uns, Sir?»
«Schon möglich. Die Franzosen haben hier viele Freunde. Die sind nur zu gern bereit, Nachrichten zu übermitteln, denn das könnte ihnen das Leben erleichtern, wenn die Trikolore ihren Besitz erst vergrößert hat.»
Unsicher erwiderte Farquhar:»Und selbst wenn dem so ist, Sir, können die Franzosen doch nicht wissen, wie stark wir in Wirklichkeit sind.»
«Sie sehen jedenfalls, daß wir keine Fregatte haben. Wenn ich ein französischer Admiral wäre, fände ich diese Information sehr wertvoll.»
Er ging zur Tür. Aus der Tiefe seines Hirns stieg eine Idee auf.»Rufen Sie doch mal Ihren Segelmacher, ja? Ich komme gleich nach oben.»
Auf dem Achterdeck hielten mehrere Matrosen neugierig mit der Arbeit inne und werkten dann mit vermehrtem Eifer weiter. Vielleicht dachten sie, Bolitho sei von seinem Fieber noch etwas durcheinander. Er ließ sich von der leichten Brise abkühlen und lächelte vor sich hin. Immer noch trug er sein spanisches Hemd und hatte es abgelehnt, sich von Farquhar etwas zum Anziehen zu leihen. Seine Sachen waren noch auf der Lysander. Wenn er Herrick fand, bekam er auch seine Sachen. Und Herrick würde er finden.
«Sir?«Der Segelmacher trat herzu und beäugte ihn ebenso neugierig wie mißtrauisch.
«Wieviel Ersatzleinwand haben wir? Ausbesserungsmaterial meine ich, keine neuen Segel.»
Nervös blickte der Mann Farquhar an, doch dieser befahl kurz:»Sag schon, Parker!»
Der Segelmacher zählte eine lange Liste von Rollen, Stücken und Abschnitten auf — erstaunlich, was der Mann alles im Kopfe hatte.
«Danke, äh, Parker. «Bolitho ging zur Steuerbordlaufbrücke und sah von dort aus zum Vorschiff.»Ich will für jede Bordwand eine lange Bahn Leinwand, die längs der Webleinen gespannt wird. Zusammengenäht aus Segeltuch oder dergleichen, irgendwelchen Stücken, die wir vielleicht für Sonnensegel oder als Windschutz aufgehoben haben. «Er sah ihm unbewegt in das verwirrte Gesicht.»Könnt ihr das hinkriegen?»
«Ja, das heißt, es ginge schon, wenn. «Hilfeflehend blickte er seinen Kommandanten an.
Der ließ ihn nicht im Stich.»Wozu das, Sir? Ich glaube, wenn der Mann wüßte, was Sie vorhaben, und, nebenbei bemerkt, ich auch, dann würde es die Sache sehr erleichtern.»
Bolitho lächelte sie beide an.»Wenn wir Vorschiff und Achterschiff auf diese Weise verbinden und dann die Leinwand in der Farbe des Schiffsrumpfes bemalen, mit schwarzen Quadraten in regelmäßigen Abständen — «, er lehnte sich über die Reling und deutete auf die Stückpforten der Achtzehnpfünder — ,»dann könnte die Osiris als Dreidecker durchgehen, nicht wahr?»
Erstaunt schüttelte Farquhar den Kopf.»Verdammt, Sir, das mag klappen. Aus einiger Entfernung würden wir wie ein Erster-Klasse-Schiff aussehen, ganz bestimmt! Dann werden die Frogs sich die Köpfe darüber zerbrechen, wie viele Schiffe wir eigentlich hier haben.»
Bolitho nickte.»Unter Land segelnd, hätten wir vielleicht eine Chance. Aber auf eine Schlacht im offenen Gewässer können wir uns nicht einlassen, ehe wir nicht genau über die Stärke des Feindes Bescheid wissen. Ich möchte bezweifeln, daß die Franzosen viele Linienschiffe hier haben. Brueys wird sie sich aufheben, um seine Transporter zu schützen. Aber wissen muß ich es.»
«An Deck! Segel an Backbord achteraus!»
«Da ist unser Irrlicht wieder«, sagte Bolitho.»Sowie es Abend wird, fangen wir mit der Verkleidung an. In der Nacht können wir über Stag gehen und unserem wißbegierigen Freund vielleicht entwischen.»
Wieder kam ein Ruf, und sie sahen hoch.»Segel in Lee voraus!»
«Kriegen wir noch mehr Gesellschaft?«Bolitho stieß den Segelmacher in die Rippen.»Fangen Sie mit Ihren Maaten an, Parker! Ihr seid vielleicht die ersten in der Marinegeschichte, die ein Kriegsschiff aus Leinwandstreifen bauen!»
Pascoe enterte eilig zu dem Ausguck auf, der die letzte Meldung gemacht hatte. Das große Teleskop, das an einer Schnur über seiner Schulter hing, behinderte ihn etwas, doch er kletterte die Wanten hoch wie eine Katze.
Sekunden später rief er hinunter:»Es ist die Buzzard, Sir!»
«Wird auch Zeit«, murmelte Farquhar.
«Signal an die Buzzard«, sagte Bolitho. »Die Spitze des Geschwaders übernehmen!»
«Es wird noch ein Weilchen dauern, bis sie auf Signaldistanz ist, Sir. Sie muß sich Zoll für Zoll gegen den Wind herankämpfen«, wandte Farquhar ein.
«Sie kann das Signal noch nicht sehen, Captain. Aber die Brigg kann das. Dann weiß der Kommandant, daß noch mindestens ein anderes Schiff in der Nähe ist. Daran hat er was zu kauen.»
Bolitho legte die Hände auf dem Rücken zusammen. Der Bootsmann und einige Matrosen rührten bereits Farbe an; andere zerrten die Leinwand auf das Oberdeck.
Langsam ging Bolitho in Luv auf und ab und beschwor im Geiste die Marssegel der Buzzard, sie möchten schneller über die Kimm steigen. Drei Schiffe statt zwei. Er dankte Gott, daß Javal sich solche Mühe gegeben hatte, ihn zu finden. Schwach mochten sie ja sein, aber blind waren sie jetzt nicht mehr.