Литмир - Электронная Библиотека

Bolitho selbst kam sich in diesen endlosen Tagen vor, als ginge die Osiris ihn im Grunde gar nichts an. Die Gesichter, die er an Deck sah, waren ihm fremd; die Gesprächsfetzen, die sein Ohr erreichten, bedeuteten ihm nichts. Auch Farquhar kam ihm ganz anders vor. Mehrfach hatte der Kommandant Ausbrüche von Jähzorn gehabt, die selbst den toleranten Outhwaite erschreckten; einmal hatte er einen Bootsmannsmaaten angeschnauzt, weil dieser nicht hart genug zugeschlagen hatte, als ein Mann in einer Sturmbö nicht aufentern wollte. Der Bootsmannsmaat hatte erklären wollen, daß der Betreffende kein richtiger Seemann sei, sondern ein Küfersmaat. Denn bei dem Sturm hatten so viele Matrosen Verletzungen erlitten, daß der Bootsmannsmaat, genau wie die Offiziere, die Leute hernehmen mußten, wo er sie kriegen konnte.

«Keine Widerrede!«hatte Farquhar gebrüllt.»Sie haben ja schon selbst Leute gepeitscht! Wenn Sie mir noch einmal wiedersprechen, dann werden Sie selbst spüren, wie das tut!»

Und der Mann wurde mit Schlägen hinaufgetrieben, rutschte vom Fußpferd ab und fiel über Bord, ohne daß man auch nur einen Schrei hörte.

Wie mochte wohl Herrick diesen Sturm abwettern, und wo mochte er in diesen schrecklichen Tagen sein? fragte sich Bolitho immer wieder.

Farquhar jedoch meinte:»Wenn dieses Mistwetter nicht wäre, hätte ich die Lysander schon längst eingeholt!»

Bolitho hielt das für leeres Gerede.»Glaube ich kaum«, hatte er erwidert.»Die Lysander ist das schnellere Schiff. Und sie wird gut geführt.»

Das mochte Farquhar gegenüber unfair sein; doch dem war Herricks Schicksal anscheinend so gleichgültig, daß Bolitho sich alle

Mühe geben mußte, um nicht noch öfter solche bissigen Bemerkungen zu machen. Wie die vorwurfsvolle Stimme des Gewissens vernahm er in seinem Innern immer wieder die Worte: Es war deine Entscheidung. Du hast Herrick zu hart angefaßt. Du warst zu ungeduldig. Es ist deine Schuld.

Und dann, eine Woche nach Syrakus, flaute der Sturm ab und drehte auf Nordwest; doch als der Himmel wieder klar und die See tiefblau war, wußte Bolitho, daß es tagelanges mühsames Kreuzen kosten würde, die Distanz wieder aufzuholen, die sie während des Sturmes eingebüßt hatten.

Jedesmal, wenn er an Deck war, fiel ihm auf, daß die Offiziere der Wache ihm auswichen und sorgfältig vermieden, ihm bei seinen einsamen Gängen auf der Kampanje näher zu kommen. Seine selbstgewählte Einsamkeit gab ihm Zeit zum Nachdenken; aber ohne neue Informationen war das, als pflüge man altes Land um, weil man nichts zu säen hatte.

Am Vormittag des neunten Tages studierte er in seiner Kajüte die Karte und trank einen Krug Ingwerbier dazu — Farquhar hatte sich davon einen guten Vorrat zum eigenen Verbrauch mitgenommen.

Farquhar würde sich ins Fäustchen lachen, wenn in Korfu schließlich doch nichts zu Tage kam, was Bolithos Theorien bestätigte! Natürlich würde er sich nichts anmerken lassen, aber innerlich würde er lachen. Denn dann hatte er nicht nur korrekt gehandelt, sondern auch bewiesen, daß er einen weit besseren Kommodore abgeben würde als Bolitho.

Sir Charles Farquhar. Komisch, daß ihn der neue Titel dieses Mannes so irritierte. Er wurde vielleicht schon so wie Herrick. Nein, es saß tiefer. Es war, weil Farquhar sich den Titel nicht verdient hatte; jetzt, da er ihn besaß, konnte ihm nichts mehr entgehen. Man brauchte nur in die Rangliste der Marine zu schauen, dann wußte man, wo die Beförde rungen hinfielen. Bolitho dachte an Pascoes Worte und mußte lächeln. Die >Nelsons< dieser Welt holten sich ihren Titel auf dem Schlachtfeld oder angesichts einer feindlichen Breitseite. Die mehr Glück hatten und an Land saßen, bewunderten zwar ihren gefahrvollen Aufstieg, hätten sich aber kaum ernstlich an ihre Stelle gewünscht.

Ruhelos wanderte Bolitho in der Kajüte umher. Über sich hörte er die Matrosen an und über Deck arbeiten. Spleißen, nähen, kalfatern — nach einem Sturm war das doppelt so wichtig wie sonst. Er mußte wieder lächeln. Die mehr Glück hatten und an Land saßen. Im tiefsten Herzen wußte er: mit allen Mitteln hätte er sich gegen einen Posten in der Admiralität oder in einem Marinehafen gesträubt.

Er trat zur Karte und studierte sie aufs neue: Korfu. Eine lange, spindelförmige Insel, die aussah, als wolle sie sich in die Buchten und Vorsprünge der griechischen Küste fügen. Eine enge Zufahrt von Süden, etwa zehn Meilen breit — knapper Seeraum für ein Vollschiff. Im Norden waren es noch weniger. Hatten die Franzosen tatsächlich Artillerie auf der Steilküste plaziert, so war ein Passieren der reine Selbstmord. Zwischen der Insel und dem Festland lag zwar eine Art Binnensee — zehn Meilen breit, zwanzig Meilen lang — , aber das wirkliche Risiko waren die beiden engen Durchfahrten im Norden und im Süden. Außerdem lag der einzige gute Ankerplatz an der Ostküste; also war keine wie immer geartete Überraschungsaktion möglich. Das mußte Herrick ebenfalls wissen. Er war dickköpfig und zu allem entschlossen, aber kein Dummkopf und war auch nie einer gewesen.

Bolitho mußte plötzlich an die junge Witwe denken, Mrs. Bos-well. Seltsam — nie hatte er sich Herrick als Ehemann vorstellen können. Aber sie war genau die Richtige für ihn. Sie würde bestimmt nicht tatenlos dabeistehen, wenn andere seine Gutmütigkeit ausnutzten. Sie hätte es nie geduldet, daß er vor den Aufgaben eines Flaggkapitäns kapitulierte.

Er richtete sich auf und wunderte sich, daß er jetzt an solche Dinge denken konnte. Er verfügte nur über zwei Schiffe, und vielleicht fand er die Lysander überhaupt nicht. Aber was auch geschehen mochte — er war im Begriff, in die Verteidigung des Feindes einzudringen, und das in einem Seegebiet, das ihm fast unbekannt war, abgesehen von dem, was er aus Seekarten und Navigationshandbüchern entnehmen konnte.

Es klopfte, und der Posten meldete:»Midshipman der Wache, Sir!«Der rothaarige Breen trat ein.

«Nun, Mr. Breen?«fragte Bolitho freundlich. Seit der Rettung durch die Harebell hatte er noch nicht wieder mit ihm gesprochen.

«Kommandant läßt mit allem Respekt melden, Sir, daß der Ausguck ein Segel in Nordwest gesichtet hat. Ist aber noch nicht zu identifizieren.»

«Aha.»

Bolitho blickte auf die Karte. Selbst unter Berücksichtigung der Abdrift durch den Sturm konnte ihre Position nicht allzusehr von der Berechnung abweichen. Der Bug der Osiris zeigte ungefähr nach Nordost, und bei etwas Glück würden sie die höchste Bergkette an der Südspitze von Korfu noch vor Einbruch der Dunkelheit in Sicht bekommen. Die Buzzard war vor dem Sturm davongesegelt. Javal würde sich also beeilen, wieder zum Geschwader zu stoßen, und konnte sogar schon an diesem Tag auftauchen; er mußte jedoch von Süden kommen, nicht von Nordwesten wie dieses unbekannte

Schiff.

«Wie gefällt es Ihnen im Midshipmanslogis der Osiris?«fragte Bolitho.

Der Junge sah an ihm vorbei auf den hohen Umriß der Nicator, die achtern etwa drei Kabellängen entfernt segelte.»N… nicht besonders, Sir. Man behandelt mich ja soweit ganz anständig, aber.»

Bolitho nickte nachdenklich. Ebenso wie die Leutnants kamen auch die meisten Midshipmen der Osiris aus guten Familien. Es war deutlich zu merken, daß sich Farquhar Offiziere wie Kadetten sehr sorgfältig ausgesucht hatte. Daß ein Kommandant den Sohn eines alten Freundes als Midshipman einstellte oder jemandem aus anderen Gründen einen Gefallen tun wollte, war durchaus üblich. Farquhar hatte anscheinend für sein Schiff von diesem Gewohnheitsrecht ausgiebig Gebrauch gemacht.

Breen schien sich verpflichtet zu fühlen, noch etwas zu sagen.»Ich denke dauernd an diesen Matrosen, Larssen. Aber ich bin schon wieder in Ordnung, Sir. Tut. tut mir leid, daß ich mich damals so angestellt habe.»

«Das braucht Ihnen nicht leid zu tun. Ein Degen muß sich biegen können. Wenn er zu starr ist, bricht er gerade dann, wenn man ihn am nötigsten braucht.»

64
{"b":"113288","o":1}