«Kurs Nordost zu Nord liegt an, Sir.»
«Recht so.»
Wieder dachte Herrick an Farquhar. Nur zu gern hätte er ihn um Hilfe ersucht. Doch dieser mußte ihn verachten, wenn er jetzt nicht zu einer selbständigen Entscheidung kam. Schließlich war er der Flaggkapitän. Wie sauer ihm dieser Rang doch wurde!
«Wir laufen in die Bucht ein, Mr. Grubb«, sagte Herrick langsam mit einem Blick auf Fitz-Clarences gestraffte Schultern.»Sie können die Backbordbatterien ausfahren lassen!»
Die Pfeifen schrillten durch die Decks, die Backbordpforten wurden aufgezogen, Herrick vernahm gedämpftes Hurra, und mit Kreischen und Quietschen rumpelten die Kanonenrohre der Lysander ins Freie. Herrick versuchte, sich zu sammeln, und sah im Geiste Bolithos gelassenes Gesicht vor sich.
«Backbordbatterie ausgerannt, Sir«, meldete Fitz-Clarence. Es klang wenig begeistert.
«Danke. Geben Sie zu den Karronaden im Vorschiff durch: Feuer erst auf mein Kommando. Es ist immer schwierig, ein Ziel an Land zu treffen…«Er brach ab, weil der Leutnant ihn so merkwürdig anstarrte.»Wie Sie selbst noch merken werden«, schloß er.
Die Lysander holte unter dem Druck der starken Besegelung ziemlich stark über, doch Herrick wußte aus Erfahrung, daß es besser war, unter diesen Umständen so beweglich wie möglich zu bleiben. Kein Schiff konnte jemals einer gut plazierten Küstenbatterie überlegen sein: Es war, als wolle man einen Floh mit einer Feder totschlagen.
Er ging zur Luvseite hinüber, hielt sich an den Finknetzen fest und beobachtete die Brandung unterhalb einiger Felsbrocken. Querab glitt der westliche Landarm der Bucht vorbei; und als der Bugspriet der Lysander den ersten dünnen Strahl des Morgenlichts aufspießte wie eine Lanze, sah Herrick auch die Bucht und das Festland dahinter.
«Nord zu Ost, Mr. Grubb«, befahl er kurz. Er spürte Grubbs schweigenden Protest in seinem Rücken, doch er konzentrierte sich auf die Breite und Tiefe der kleinen Bucht. Vielleicht war sie leer, und sie alle hatten sich von Anfang an geirrt.
Als die Rahen herumgeholt waren und die Segel den Wind wieder hielten, schritt Herrick nach achtern zum Kompaß. Gespannt sahen ihm beide Rudergänger zu, wie er den Kurs prüfte und sich dann umwandte, um die Stellung jedes einzelnen Segels zu inspizieren.
«Nord zu Ost liegt an, Sir.«»Recht so.»
Herrick spähte zu den großen Segeln empor — sie begannen bereits zu killen. Die Rahen waren so dichtgeholt wie nur möglich. Das Schiff mußte trotz des Segeldrucks Fahrt verlieren. Aber so hatte er wenigstens ein Maximum an Zeit und Seeraum zur Verfügung.
«An Deck! Musketenfeuer Backbord voraus!«Eine Pause, dann meldete der Ausguck im Fockmast:»Schiffe vor Anker in der
Bucht! Drei Schiffe, Sir!»
Plötzlich donnerte an Land ein schweres Geschütz, und mehrere Männer schrien erschrocken auf. Mit angehaltenem Atem zählte Herrick die Sekunden, bis die Kugel vorbeijaulte und laut klatschend ziemlich weit von der jenseitigen Bordwand entfernt ins Wasser schlug.
«Einen Strich abfallen, Mr. Grubb!»
Das Rudergeschirr knarrte, die Bramsegel reagierten laut schlagend, der Bugspriet schwang langsam herum und zeigte jetzt auf die weit vorgeschobene Spitze des anderen Landarmes der Bucht.
Es krachte wieder. Herrick wunderte sich, daß er jetzt ein Stück des hellen Strandes hinter den ankernden Schiffen sehen konnte. Und ein paar rennende Gestalten, klein wie Insekten.
Es gab ein großes Geschrei, denn die Kugel schlug dicht vorm Bug ins Meer und hüllte das Vorderkastell in einen Vorhang aus Sprühwasser.»Gut gezielt«, bemerkte Plowman kühl.
«Die warten also schon auf uns«, sagte Grubb.»Sie müssen die ganze Zeit Bescheid gewußt haben.»
«Da! Das Schiff!«schrie Fitz-Clarence.»Es versucht auszulaufen!»
Deprimiert wischte sich Herrick die Stirn. Alles lief verkehrt. Nicht einmal der Überraschungsvorteil war ihm geblieben. Ihm wurde beinahe übel.
«Eine Brigg, Sir!«brüllte der junge Saxby.»Sie hat das Ankertau gekappt!»
Herrick sah die helle Leinwand von Fock und Klüver sich entfalten, sah den Umriß sich verkürzen, als die Brigg vom Anker freikam und die offene See ansteuerte. Derselbe Wind, der die Lysan-der an die fatalen Wassersäulen der Geschoßeinschläge heranführte, brachte die Brigg in Sicherheit.
Herrick zog den Degen und schritt rasch zur Achterdecksreling. Seine Verbitterung und Sorge, seine Angst um Bolitho und das Mißtrauen in seine eigenen Fähigkeiten waren schlimmer denn je.»Mr. Veitch, Feuer frei! Stoppen Sie die Brigg!»
Der Leutnant erwachte aus seiner Erstarrung und schrie:»Geschützführer! Im Hochkommen schießen!«Er duckte sich hinter einen seiner Achtzehnpfünder und spähte durch die Stückpforte.
«Feuer!»
Die ganze Batterie spuckte in einer langen, unregelmäßigen Salve Feuer und Rauch. Als der Qualm durch die Pforten zurückrollte und die Geschützbedienungen Schwabber und Putzstangen in Aktion setzten, sah er, daß die See um die Brigg mit großen weißen Schaumkreisen gesprenkelt war.
Die Lafetten quietschten, die Achtzehnpfünder wurden das krängende Deck hinangeschoben und stießen die Rohre wieder durch die Pforten. Ein Stückführer nach dem anderen hob die Hand, und Veitch kommandierte von neuem:»Feuer!»
Wieder ein langgezogener Kanonendonner: die hellen, gelbroten Feuerzungen leckten aus dem Rumpf, die schweren Kugeln hüpften über die Wellenkämme und warfen Wasserschleier hoch. Als der Rauch sich verzogen hatte, sah Herrick, daß der Großmast der Brigg nicht mehr stand und daß sie manövrierunfähig dahintrieb, das Deck ein einziges Chaos.
«Feuer einstellen!«schrie er.»Mr. Fitz-Clarence, beide Kutter klar zum Aussetzen!«Er rieb sich die Augen, denn wieder trieb eine Wolke stechenden Pulverqualms übers Deck.»Sie übernehmen das Kommando!«Er packte den Leutnant beim Arm und zog ihn an die Netze.»Das mittlere Schiff ist ein Transporter. Hat mächtigen Tiefgang. Holen Sie's raus, bevor sie es versenken können. Wenn Sie aber auf zu starken Widerstand stoßen, ziehen Sie sich zurück; ich schieße es dann zusammen, wenn wir passieren. «Er schob ihn zur Leiter und rief:»Mr. Veitch, Segel wegnehmen! Geien Sie die Bramsegel auf!»
Grubb sah hoch: eine Kugel klatschte durch das Großmarssegel und riß ein Loch, so groß, daß ein Mann hätte durchschlüpfen können.
«Allmächtiger!«sagte er.
Herrick schritt über das Deck; sein Hirn verarbeitete die jeweils veränderte Lage: Als der Segeldruck sich verminderte und damit die Neigung des Schiffs, wurden die beiden Kutter über Bord ge-fiert. Männer sprangen hinein, Entersäbel und Musketen hoch in den Händen, andere legten die Riemen aus und stießen von der Bordwand ab.
Wieder krachte es von Land her, und eine Kugel flog jaulend durch die Luvwanten; ein Matrose kam von oben und lag keuchend in den Schutznetzen, die über Deck gespannt waren, um die Kanoniere vor fallenden Spieren und dergleichen zu schützen.
Wie schnell das Licht zunahm und es in der Bucht hell wurde! Herrick hatte den davonstrebenden Booten nachgesehen und eilte jetzt an die Heckreling. Schon konnte er die Batterie auf dem Vorland erkennen; eine fedrige Rauchwolke stand darüber. Bald mußte er halsen und in die Bucht zurück, um die Enterabteilung in ihren Booten zu decken.
Unter Marssegeln, Fock und Klüver machte die Lysander nur wenig Fahrt — ein ideales Ziel für die Küstenbatterie.»Wir müssen bald vom Land weghalten«, sagte er. Von irgendwoher ertönte ein Schrei, doch er verschloß das Gehör davor.»Wir haben getan, was wir konnten.»
Wieder hüpften zwei Kugeln über das blaue Wasser wie ein Paar springender Delphine. Eine peitschte mitten zwischen den wild pullenden Kuttern durch, die andere schmetterte dicht neben dem Vordersteven in den Rumpf der Lysander.
Herrick beobachtete die beiden Kutter. Der eine hatte bereits den schweren Transporter erreicht; der andere we chselte noch Schüsse mit einer Gruppe Matrosen auf dem feindlichen Achterdeck.