Er knallte das Glas auf den Tisch.»Nachfüllen!»
Und eben hatte er noch den Offizieren Vorträge darüber gehalten, wie gewisse Vorkommnisse der Moral schaden konnten! War Fow-ler schon kein Mensch mehr, sondern ein Vorkommnis?
Er dachte an Pomfret und daran, was dieser ihm antat, ihm und dem ganzen Schiff.»Hol dich der Teufel! Zur Hölle mit dir, du Elender!«Seine Stimme bebte so vor Wut, daß Gimlett sich wie ein geprügelter Hund in die Ecke drückte.
Schließlich riß sich Bolitho mit einem Ruck zusammen.»Ist schon gut, Gimlett. Keine Angst. «Er hob den Becher ans Licht der Lampe und wartete, bis der Wein still und blutrot im Glas stand.»Sie habe ich nicht gemeint, Gimlett. Sie können jetzt gehen.»
Als Bolitho wieder allein war, zog er Cheneys Brief aus der Brusttasche und begann zu lesen.
XV Zuerst die Menschen!
Gewiß war Bolitho darauf vorbereitet und gewillt, die Stimmung im Schiff trotz Pomfrets Winkelzügen nicht absinken zu lassen, doch die Wirklichkeit wurde viel schlimmer, als selbst er vorausgesehen hatte. Woche um Woche fuhr die Hyperion ihre anscheinend endlose Patrouille, ein riesiges, eintöniges Rechteck auf dem offenen Meer. Nur gelegentlich unterbrach die ferne Küste Frankreichs oder der lauernde Schatten der Insel Cozar die Leere.
Zweimal begegneten sie der Schaluppe Chanticleer; sie hatte wenig zu melden, was Bolithos wachsende Nervosität hätte beschwichtigen können. Die Situation der Schaluppe war genauso scheußlich wie seine eigene, denn die unberechenbaren Wetterverhältnisse des Mittelmeeres spielten einem so kleinen Fahrzeug besonders mit. Bellamy, der Kommandant, konnte sich das Ausbleiben jeglicher Nachrichten aus Pomfrets Hauptquartier ebensowenig erklären wie Bolitho selbst. Es gab nur Gerüchte. Angeblich bombardierten die Franzosen St. Clar mit Belagerungsgeschützen; im Weichbild der Stadt würde bereits gekämpft, so daß man kaum noch ohne Gefahr auf die Straßen könne.
Aber an Bord der Hyperion waren solche Spekulationen ebenso unnütz wie fernliegend, denn in ihren menschenwimmelnden Decks bedeutete Wirklichkeit: heute — und allenfalls morgen. Bolitho wußte, daß seine Leute sich alle Mühe gaben, ihre Enttäuschung, ihren Mißmut nicht zu zeigen. Sie verhielten sich wunschgemäß, einen ganzen Monat lang gab es ständig Wettkämpfe und freundschaftliche Konkurrenzen aller Art. Verschiedene Preise wurden ausgesetzt; für die beste Spleißarbeit, das schönste Schiffsmodell, für Hornpipe- und Jigtänzer, sogar für die zahllosen kleinen Gegenstände, welche die älteren Matrosen mit großer Liebe und Sorgfalt herstellten: winzige, zierliche Schnupftabaksdosen, aus steinhart getrocknetem Salzfleisch geschnitzt und dann poliert, oder Kämme und Broschen aus Knochen und Glasstückchen.
Aber das konnte nicht von Dauer sein. Kleine Streitigkeiten wuchsen sich zu Schlägereien aus, Unzufriedenheit und Beschwerden zogen wie Giftschwaden durch das Gedränge an Bord; und einmal schlug ein wütender Matrose einen Unteroffizier ins Gesicht. Das brachte ihm selbstverständlich Prügelstrafe ein. Und diese blieb nicht die einzige.
Auch die Offiziere waren gegen die wachsende Unruhe und Unzufriedenheit nicht immun. Bei einem Kartenspiel in der Offiziersmesse hatte Rooke den Zahlmeister des Falschspiels bezichtigt. Hätte Herrick nicht mit fester Hand eingegriffen, hätte der Vorfall blutige Konsequenzen gehabt. Doch auch Herricks wachsames Auge konnte nicht alles sehen.
Der einzige Verbündete Bolithos war das Wetter. Im Verlauf der Wochen verschlechterte es sich beträchtlich, und häufig mußten die Matrosen in einer einzigen Stunde alle Segel setzen und wieder reffen; dann waren sie so müde, daß sie nicht einmal die Energie zum Essen aufbrachten. Allerdings gab es auch nichts Vernünftiges mehr zu essen. Was Bolitho in St. Clar an frischen Lebensmitteln hatte auftreiben können, war bald verbraucht, und jetzt lebte das ganze Schiff von den Grundrationen: Salzfleisch und Schiffszwieback — viel mehr gab es nicht.
In der elften Woche, als die Hyperion die südliche Strecke ihrer Patrouille absegelte, flaute die scharfe Brise ab, die sie tagelang begleitet hatte. Der Wind krimpte ein paar Strich, und dieser Wechsel brachte Regen.
Bolitho stand in Luv auf dem Achterdeck und sah den Regen wie einen eisernen Vorhang auf das Schiff zukommen. Er trug weder Rock noch Hut und ließ sich richtig durchweichen. Im Vergleich zu dem fauligen Trinkwasser schmeckte der Regen wie Wein; und als er mit zusammengekniffenen Augen in den Wind spähte, sah er mehrere der auf dem Oberdeck arbeitenden Matrosen gleich ihm in diesem Himmelsguß stehen, als wollten sie ihre Wut und Niedergeschlagenheit abwaschen lassen.
Tomlin, der Bootsmann, ließ im Vorschiff eiligst Segeltucheimer aufstellen; und Crane, der Küfer, trieb seine Maaten an, die leeren Fässer fertigzumachen, damit sie gefüllt werden konnten, ehe der Regen aufhörte. Und jetzt kann ich nicht einmal mehr sagen, daß ich den Hafen anlaufen muß, um Trinkwasser aufzunehmen, dachte Bolitho mißmutig. So schnell kann aus einem Freund ein Feind werden!
Herrick kam übers Deck. Sein triefendes Haar klebte auf der Stirn.»Wenn es jetzt aufklart, müssen wir Cozar Backbord voraus in Sicht bekommen, Sir. «Er verzog das Gesicht.»Ich sage ascheinend immer wieder dasselbe.»
Da hatte er recht. Wenn sie die Insel sichteten, bedeutete das nur, daß sie eine Seitenlänge ihres Patrouillenreviers absolviert hatten. Die Hyperion fuhr eine Wende und begab sich zum soundsovielten Male auf den langen und langweiligen Törn in Richtung Festland.
Bolitho lehnte sich über die Reling und achtete nicht darauf, daß Regen und Sprühwasser ihm Rücken und Hosenbeine durchnäßten. Kein Wunder, daß die Hyperion so langsam war, bei dem jahrealten Bewuchs an ihrem Unterwasserschiff! Jede Strähne Seegras, jeder Streifen Tang bedeutete eine Meile Ozean unter ihrem geteerten Kiel, jede Muschelkolonie hundert Drehungen des Ruderrades. Bolitho schmeckte Salz zwischen den Zähnen und sah beim Aufblicken, daß der Regen abgezogen war und nur noch im Osten die knüppeligen Wellen aufrauhte.
«An Deck!«Die Stimme des Ausgucks im Masttopp übertönte den Wind.»Segel Backbord voraus!»
Bolitho blickte Herrick an. Sie hatten beide gedacht, der Mann würde Cozar in Sicht melden. Ein Schiff — das war etwas Ungewöhnliches, ein Ereignis.»Lassen Sie das zweite Reff herausnehmen, Mr. Herrick«, sagte Bolitho.»Wir sehen uns das mal näher an.»
Aber das wäre gar nicht nötig gewesen; denn sobald die Brams egel des fremden Schiffes in einem breiten Streifen Sonnenlicht über der Kimm standen, halste es und nahm Kurs direkt auf die Hyperion.
Piper war bereits mit seinem Teleskop in den Besanwanten, als sich die ersten Flaggen an der Rah des Fremden entfalteten.
«Es ist die Harvester, Sir!«Er spuckte aus, denn ein plötzlicher Schwall Spritzwasser war in Luv übergekommen und hätte ihn beinahe von seinem unsicheren Platz gefegt. »Harvester an Hyperion«, keuchte er.»>Habe Depeschen für Sie<.»
Bolitho überlief es; er hätte kaum auf dergleichen zu hoffen gewagt.»Klar zum Beidrehen, Mr. Herrick!»
Kaum hatte die Hyperion mit ihren klatschnassen, laut schlagenden Segeln das Manöver beendet, da war die schnelle Fregatte schon so nahe, daß man die breiten Salzstreifen an ihrem Rumpf erkennen konnte und das nackte Holz, wo die ruhelose See die Farbe wie mit Messern weggekratzt hatte.
Unruhig bebten die Rahen der Fregatte, und das schmale Deck neigte sich, denn Leach drehte in den Wind, bis sein Schiff stampfend in Lee der Hyperion lag.
«Das ist seltsam, Sir«, sagte Herrick.»Er hätte die Depeschen doch an der Leine herüberdriften lassen können. Bei diesem Wind hat ein Boot mächtig zu pullen, bis es hier ist.»
Aber die Harvester ließ bereits ein Boot zu Wasser, und als es endlich von der Bordwand klargekommen war, sah Bolitho, daß nicht etwa ein Midshipman im Boot saß, sondern Captain Leach persönlich.