Langsam blickte er im Kreis der Gesichter umher, und dabei wurde ihm wieder einmal klar, daß sein Offizierskorps nicht nur zahlenmäßig kleiner geworden war, sondern auch wesentliche personelle Veränderungen erlitten hatte. Quarme und Dalby waren tot; die beiden Marine-Infanteristen und der junge Seton waren in St. Clar geblieben. Und die noch Anwesenden wirkten durch die unaufhörliche dienstliche Überbeanspruchung müde und erschöpft. Fast jeder Seemann schimpfte ständig über sein schweres Los; aber diese hier hatten auch allen Grund dazu. Der junge Piper zum Beispiel war gerade sechzehn, war mit dreizehn Jahren an Bord gekommen und hatte bis zu diesem Tag kaum jemals den Fuß an Land gesetzt, allenfalls hatte er mit seiner geliebten Jolle kleine Aufträge ausgeführt. Den meisten anderen in diesem überfüllten Schiff ging es ähnlich. Das harte Leben war bei der Marine etwas ganz Selbstverständliches; und so brauchte man sich nicht zu wundern, daß die Landbewohner die Preßkommandos[11] fürchteten wie die Pest und schon beim bloßen Anblick einer Marineuniform Angst bekamen. Und doch waren diese Männer, die neben ihren Geschützen lebten, sie jeden Tag sahen, sobald sie nur erwachten, unschlagbar im Gefecht, und anscheinend war auch ihr Kampfgeist nicht zu brechen. Oft genug mußten sie hungern, wenn der Kommandant ein Geizkragen, oder wurden ausgepeitscht wie Tiere, wenn er ein Tyrann war. Doch sobald sie zum Kampf gerufen wurden, versagten sie kaum jemals. Das konnte Bolitho nie ganz verstehen. Manche sagten, sie wären aus Angst so tapfer; andere meinten, Tradition und Disziplin der Marine seien die wirklichen Gründe. Er jedoch glaubte, daß die Ursachen tiefer lagen. Ein Kriegs-
schiff war eine Lebensgemeinschaft. Vaterland und Flagge standen oft genug erst an zweiter Stelle. Die Männer in den vollgestopften Decks kämpften, um einander zu schützen, um alte Kameraden zu rächen, und sie kämpften um ihr Schiff.
Mit ruhiger Stimme begann er zu sprechen.»Ich habe Sie hergebeten, meine Herren, damit Sie die Schwierigkeiten, die auf uns zukommen, klar erkennen. Es kann Wochen dauern, bis wir zurückgerufen werden. Niemand weiß, was die Franzosen planen und auszuführen imstande sind. Aber angesichts dieser Umstände ist unser Platz die hohe See. Was der Feind auch für Siege in Europa erringt, er kann den Krieg nicht gewinnen, solange unsere Schiffe bereit sind, ihn zu bekämpfen. «Er bemerkte, daß Herrick sachlich nickte und der junge Caswell sich auf die Lippen biß.»Wir werden täglich exerzieren. Aber wir müssen noch weitergehen. Versuchen Sie zu erreichen, daß die Leute sich nicht zu viel mit sich selbst beschäftigen. Arrangieren Sie Wettkämpfe, ganz egal wie banal und unbeträchtlich; tun Sie Ihr Bestes, um ihnen Mut zu machen. Was vorher an Gutem oder Schlechtem unbemerkt geblieben ist, bricht hervor, wenn wir mit Langeweile und Einsamkeit nicht fertig werden. «Er hob sein Glas.»In diesem Sinne meine Herren, trinken wir auf unser Schiff. Gott segne es!»
Die Gläser klangen, und die Offiziere warteten darauf, daß Bo-litho weitersprach. Etwas schärfer fuhr er fort:»Da sich unsere Anzahl verringert hat, befördere ich Midshipman Gordon zum Vizeleutnant. Er wird Mr. Rooke bei der unteren Batterie assistieren.»
Er hielt inne, denn die anderen Midshipmen hieben Gordon auf die Schultern; dessen Gesicht, eine einzige Ansammlung von Sommersprossen, spaltete sich zu einem überraschten Grinsen. Bolitho warf Rooke einen schnellen Blick zu; der sagte nichts, nickte aber. Es war eine wohldurchdachte Entscheidung, denn Gordon war bei der Erstürmung des Leuchtfeuers von St. Clar anscheinend sehr gut mit Rooke ausgekommen; vermutlich weil sie beide aus alter, einflußreicher Familie stammten. Gordons Onkel war Konteradmiral, und wahrscheinlich hielt Rooke deswegen sein unangenehmes Temperament etwas im Zaum.
«Außerdem«, fuhr Bolitho fort, und das Stimmengewirr erstarb,
«meine ich, einer der Steuermannsmaaten könnte als Wachoffizier Dienst tun, bis Mr. Fowler wieder gesund ist.»
Inch sah auf.»Darf ich Bunce vorschlagen, Sir? Ein sehr verläßlicher Mann.»
«Sie dürfen, Mr. Inch. Sagen Sie es ihm gleich nachher. «Inch nickte und nahm einen Zug aus seinem Glas. Er hatte sich vielleicht am meisten von allen verändert. Vom Fünften und jüngsten Offizier war er zum Vierten aufgestiegen, aber was noch wichtiger war, er hatte auch das dazugehörige Selbstvertrauen gewonnen.
Plötzlich richteten sich aller Augen auf das Skylight, denn von dort erklang ein gedämpfter Ruf:»Halt! Mensch, was machst du denn, zum Teufel?«Es folgten das Geräusch rennender Füße und dann dieselbe Stimme, jedoch laut und schallend:»Achtung — Mann über Bord!»
Die Offiziere eilten an Deck, und Gossett brüllte:» Kreuzmarssegel back! Kutter zu Wasser!»
Das Achterdeck lag ganz im Finstern, kein Stern war durch die reglosen Wolken zu sehen. Dunkle Gestalten liefen die Decksgänge entlang, und achtern hörte Bolitho, wie die Männer der Kutterbesatzung, vom Alarmruf aufgeschreckt, sich gegenseitig umrannten.»Was ist los, Gossett?«rief Bolitho,»Wie war das möglich?»
Bunce, der untersetzte Steuermannsmaat, den Inch vorhin erwähnt hatte, schob sich durch die eilenden Männer.»Hab's gesehen, Sir«, erklärte er mit dienstlichem Gruß.»Ich stand am Ruder, weil einer meiner Leute gerade die Kompaßlampen auswechselte. «Er schauerte.»Als ich hochsehe, Sir, glotzt mich plötzlich sein Gesicht an! Herrgott, war das scheußlich — ich bete zu meinem Schöpfer, daß ich so was nicht noch mal sehen muß!»
Das backgestellte Segel schlug donnernd, das Schiff rollte wie betrunken, und irgendwo jenseits der Kampanje hörte Bolitho das Platschen von Riemen im Wasser und die Befehlsrufe des Bootsmanns im Kutter.»Mr. Fowler war's, Sir«, berichtete Bunce weiter.»Er hatte sich die Verbände abgerissen, hielt einen Spiegel in der Hand und weinte wie ein kleines Kind. Die ganze Zeit starrte er dabei sein Gesicht im Spiegel an!»
«Stimmt, Sir«, kam eine Stimme aus dem Dunkel.»Es war alles zerfetzt von den Augen bis zum Kinn, und überhaupt keine Nase mehr!»
Langsam schritt Bolitho zu den Netzen. Der arme Fowler… Er war ein schmucker Leutnant gewesen, bis er, von einem Degenhieb gefällt, mit zerfetztem Gesicht neben ihm auf die Planken gesunken war.
«Ich wollt' ihn noch aufhalten, Sir«, sagte Bunce zu Herrick,»aber er war ja wie verrückt. Und beinahe nackt; ich könnt' ihn einfach nich' zu fassen kriegen. «Wieder überlief ihn ein Schauer.»Rannte los und sprang über Bord, ehe wir ihn erwischten.»
Bolitho sah das Boot auf dem ebenholzschwarzen Wasser tanzen, die Riemen zogen phosphoreszierendes Meeresleuchten nach.
«Kann nichts sehn, Sir«, schrie der Bootsmaat herauf, der aufrecht im Kutter stand.
«Rufen Sie das Boot zurück, Mr. Herrick«, befahl Bolitho knapp.»Und nehmen Sie wieder Fahrt auf!»
Er ging an den stummen Gestalten vorbei, die ihn anstarrten, und sah noch, wie Inch den Midshipman Lory tröstete, der mit Fowler eng befreundet gewesen war.»Mr. Inch«, sagte er,»Sie sind jetzt Dritter Offizier. Hoffentlich ist das für einige Zeit die letzte Beförderung aus diesen Anlässen.»
Steifbeinig ging er in seine Kajüte und starrte auf die herumstehenden Weingläser. Er versuchte, den Stöpsel aus einer Karaffe zu ziehen, aber er stak zu fest; und da er sie mit seinem verwundeten Arm nicht entkorken konnte, knallte er die Karaffe wütend auf den Tisch.»Gimlett!«brüllte er. Angstvoll stürzte der Steward in die Kajüte.»Ein Glas Wein, aber schnell!«Als er es an die Lippen setzte, zitterte seine Hand heftig, aber er konnte sie nicht beherrschen. Diesmal war es nicht das Fieber — Wut und Verzweiflung stiegen wie eine Flutwelle so hoch in ihm, daß er das leere Glas fast an die Wand geworfen hätte. Hätte er Fowler auf der brennenden Fairfax gelassen, würde er jetzt als tapferer Seemann im Gedächtnis der Besatzung fortleben und nicht als armseliger, irrer Selbstmörder. Warum hatte er so ohne Würde sterben müssen? Wie konnte es sein, daß ein Mann, den er kannte, dessen Gewohnheiten ihm so geläufig waren wie seine eigenen, in Sekunden zu einer leeren Menschenhülle geworden war?